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# taz.de -- Stimmungsbild aus Moskau: Die russische Parallelwelt
> Viele Menschen auf Moskauer Straßen wundern sich: „Krieg? Welcher Krieg
> denn?“ Putins Indoktrination wirkt, nur wenige scheinen entsetzt.
Bild: Proteste gegen den Überfall auf die Ukraine in Moskau am 24.02.2022
Moskau taz | In Moskau nimmt das Leben seinen morgendlichen Gang. Mütter
bringen ihre Kinder weg, in den Straßen staut sich der Verkehr, junge
Skater drehen ihre Runden auf dem Platz der Manege, vor ihnen der Kreml.
Weiter weg stehen Frauen in roten Jacken und werben für eine
Stadtrundfahrt. Sowjetische Schnulzen beschallen die Eislauffläche am Roten
Platz.
Maxim Popow, ein schlaksiger 19-Jähriger, zieht an seiner Zigarette. „Was
in der Ukraine passiert, war zu erwarten“, sagt er. „Wenn unsere Regierung
sagt, dass etwas nicht passieren wird, passiert genau das ein paar Tage
später. War schon immer so.“ Der Krieg? – „Keine Überraschung. Weit weg.
Ein Schritt, der nötig ist.“ Popow erklärt auch, warum er das so sieht.
Selenskis Staat tendiere zum Terrorismus gegen die russischsprachige
Bevölkerung in der Ukraine. „Die diplomatischen Kanäle sind ausgeschöpft,
und wir müssen schließlich unser Land unterstützen.“
Es sind Sätze, wie sie auch Russlands Präsident Wladimir Putin bei seinen
Auftritten immer wieder sagt. Mit zusammengekniffenen Lippen, überzeugt von
seinem Tun. Die Ukraine sei gar kein Staat, hatte er an diesem Montag in
seiner Rede nicht zum ersten Mal gesagt. „Irgendwie bewundere ich Putin
auch für seine Ehrlichkeit“, sagt Popow. Nur: „Leiden müssen Menschen, die
nichts damit zu tun haben. Menschen, die weit weg sind, in Sibirien oder im
Fernen Osten.“ Die Ukraine erwähnt er, obwohl selbst aus Sibirien, mit
keinem Wort.
Das russische Staatsfernsehen liefert Bilder von zerstörten Häusern und
fliehenden Menschen. Wann und wo sie aufgenommen wurden, bleibt unklar. Im
Kanal Rossija-24 nennt es ein Mitglied des russischen Föderationsrats eine
„gerechtfertigte Operation“. Russland werde die Ukraine „in Ruhe
entnazifizieren“. Auch Putin hatte die Invasion – die er freilich nicht als
solche bezeichnet – mit der „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der
Ukraine begründet. In den Wortgebrauch der Russ*innen sind diese Begriffe
bereits eingegangen.
## „Die Amerikaner sind an allem schuld“
„Beängstigend, was da passiert. Es sieht so aus, als führe die Ukraine
Krieg“, sagt Olga Putschkowa am Grab des unbekannten Soldaten im
Alexandergarten. „Wir werden alle leiden. Auch unsere Kleine.“ Sie hebt
ihre Tochter aus dem Kinderwagen. „Und warum? Weil Selenski die Ukrainer
gegeneinander aufhetzt.“
Informationen bezieht sie aus dem Internet. „Wer gut und wer böse ist,
verstehe ich längst nicht mehr“, sagt die 42-Jährige. „Aber ich“, mischt
sich ihre Freundin Olga Silantjewa ins Gespräch. „Amerika ist an allem
schuld. Sie wollen uns kaputtmachen. Die Ukraine, ach, die hat doch eh
nichts zu sagen. Wir müssen die Amerikaner aus Kiew vertreiben.“
Beim Spaziergang durchs Zentrum entsteht der Eindruck, das Leben in Moskau
spiele sich in einer Parallelwelt ab. „Krieg? Welcher Krieg denn?“, fragt
ein Wachmann und schaut weiter einen Film auf seinem Handy. Es ist, als
müssten sich die Menschen schützen vor den Nachrichten rund um sie herum,
indem sie alles leugnen. „Gott hat Russland mit allem ausgestattet, was wir
brauchen“, sagt ein Abgeordneter im Staatsfernsehen.
## Es gibt Empörung und Entsetzen
Der Chefredakteur des unabhängigen Online-TV-Senders Doschd kann dagegen in
seiner Livesendung kaum die Tränen verbergen. „Wir müssen weiter warnen, es
ist die einzig vernünftige Position heute“, schreibt er später auf
Telegram. Ein Moskauer Unternehmer sagt: „Entschuldige uns, Westen! Wir
sind so dumm.“ Eine Feministin schreibt wütend: „Wie soll ich meinem
fünfjährigen Sohn erklären, dass unser geliebtes, schönes Land seinen
Nachbarn überfällt?“ Die russische Schauspielerin Lia Achedschakowa spricht
verzweifelt bei Doschd von einem „Meer an Lügen und schmutzigen Tricks“ des
Kremls und ruft die Kulturschaffenden des Landes zum Widerstand auf.
„Wir Russen verstehen nicht, was Putin will. Er drangsaliert uns. Nun will
er offenbar auch andere knechten“, sagt Marat Chamassow am Roten Platz. Vom
Angriff Moskaus auf die Ukraine hat er noch nichts gehört. „Ich schaue
keine Nachrichten, grundsätzlich nicht.“ Der 39-Jährige will mit seiner
Frau Sina Moskau anschauen. Aus Tatarstan sind sie angereist – ein
Abschied. Bald soll es für die sechsköpfige Familie nach Polen gehen. „Weg
aus diesem Land, das wir längst nicht mehr verstehen.“
25 Feb 2022
## AUTOREN
Inna Hartwich
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