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# taz.de -- Russischer Sender in Lettland: Sie machen es niemandem recht
> Der unabhängige Sender Doschd zog nach Kriegsbeginn nach Riga. Nun
> verliert er die Lizenz – angeblich nahm er Russen zu sehr in Schutz.
Bild: Der Chefredakteur entschuldigte sich für die Äußerung des Moderators �…
MOSKAU taz | Es war am Ende einer Live-Sendung, es war ein Satz, der über
den Sender ging, der Verständnis für die Lage russischer
Zwangsmobilisierter ausdrückte, und der diesem Sender nun den Garaus macht.
Die lettischen Behörden entziehen dem unabhängigen russischen
[1][TV-Online-Kanal Doschd] (Regen) die Sendelizenz.
Ab 8. Dezember dürfen die Journalist*innen ihre Beiträge nicht mehr
über Kabel verbreiten. Damit verliert Doschd nicht nur an Reputation,
sondern auch Werbeeinnahmen. Zudem prüft Lettland die Blockierung des
Kanals bei YouTube.
[2][Doschd gefährde] die Sicherheit Lettlands, sagte Ivars Abolins, der
Vorsitzende des lettischen Nationalen Rates für elektronische Massenmedien,
und fügte hinzu, der Doschd-Leitung sei die Schwere ihrer Verstöße nicht
bewusst. Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks riet den
Journalist*innen, doch nach Russland zurückzukehren.
Das sind harsche Aussagen, die die Tragik des liberalen russischen
Journalismus aufzeigen; die zeigen, [3][unter welchem Druck] die
Medienmacher*innen stehen, die Empathie für ihr Land und dessen
Menschen empfinden und gleichzeitig so viel Ekel. Die einer
Schwarz-Weiß-Sicht differenziert zu begegnen versuchen und sich doch nicht
gegen die Radikalität wenden können, die der Krieg und seine Folgen mit
sich bringen.
## Frecher Sender in Pink
Doch zunächst einmal dazu, was zu dem Wirbel um den kleinen, frechen Sender
in Pink (und seit Kurzem in Regenbogenfarben) geführt hat, der nach dem
russischen Einfall in die Ukraine den Sendebetrieb in Moskau einstellen
musste und seit dem Sommer aus Riga sendet. Hierher waren die meisten
Doschd-Journalist*innen aus Georgien, Deutschland, der Türkei und all den
Ländern gekommen, in die sie im März gegangen waren, weil sie nur aus dem
Exil heraus die Möglichkeit gewahrt sahen, ihre Arbeit weiterzuführen.
Die lettische Regierung hieß sie willkommen, sah in ihnen eine wunderbare
Möglichkeit, der russischen Gesellschaft Informationen ohne Propaganda
zukommen zu lassen. Die Vorsicht und die Geringschätzung allem Russischen
gegenüber, die viele Lett*innen aufgrund der leidvollen Erfahrung ihres
Landes mit der sowjetischen Okkupation verspüren, übergingen die
Doschd-Macher*innen offenbar leichtfertig.
Trotz aller Schwierigkeiten, die eine Berichterstattung über ein Land mit
sich bringt, ohne sich selbst in diesem Land zu befinden, konterkarierte
der Sender staatliche russische Propaganda.
Die Journalist*innen führen Interviews mit ukrainischen Expert*innen,
aber auch mit russischen, sie berichten über mutmaßliche russische
Kriegsverbrechen und weisen auf das Chaos bei der russischen Armee hin. Und
dann sagt der Moderator Alexej Korosteljow, seit 2014 bei dem Sender, mit
Blick auf die russischen Soldat*innen diesen Satz: „Wir hoffen, dass
auch wir den vielen Militärangehörigen helfen konnten, zum Beispiel mit
Ausrüstung und elementarem Komfort an der Front.“
Es sind Worte, denen selbst beim Sender Entsetzen folgte. Der Chefredakteur
Tichon Dsjadko entschuldigte sich öffentlich für den „Fehler, der in Zeiten
eines Krieges unverzeihlich ist“. Nie habe Doschd russischen Soldaten
geholfen. Der Sender entließ Korosteljow, aus Protest gegen diese
Entscheidung waren ihm noch drei weitere Mitarbeiter*innen gefolgt.
In Lettland, der Ukraine und auch bei manchen russischen Oppositionellen im
Exil sorgen Korosteljows Worte für einen Sturm der Entrüstung. Doschd
unterstütze die russische Aggression, schreiben aufgebrachte
Nutzer*innen sozialer Netzwerke. Die Journalist*innen tarnten sich
lediglich als liberal und unabhängig, seien aber im Dienste des Kremls
unterwegs und im Grunde ihres Herzens Imperialist*innen, wie ohnehin
alle Russ*innen.
Die emotional vorgetragenen Vorwürfe übergehen in ihrem Kern die Arbeit der
Doschd-Journalist*innen, die seit dem Maidan in Kyjiw klar und deutlich
Position für die Ukraine beziehen und dafür mehrfach von russischen
Behörden attackiert worden sind – bis hin zur Einstellung ihres Programms
in Russland im März dieses Jahres.
## Sender machte stets das, was andere mieden
Seit ihrer Gründung 2010 wollten die Doschd-Macher*innen nie das sein, was
offizielle Stellen von ihnen verlangten. Der Sender machte stets das, was
andere russische Sender mieden: Die Journalist*innen begleiteten
Straßenproteste direkt aus der Menge der Demontrant*innen, sie verbrachten
Stunden im Gericht, wenn der Staat wieder einmal ein politisches Urteil
fällen ließ, sie prangern bis heute offen das System Putin an.
Dutzende von ihnen hat der russische Staat als „ausländische Agenten“
gebrandmarkt, für die sogenannte Diskreditierung der russischen Armee
drohen den Journalist*innen in ihrem Heimatland jahrelange Haftstrafen.
Mit Schwierigkeiten können die „Regentropfen“, wie sie sich zuweilen selbst
nennen, umgehen. 2014 hatten alle russischen Kabelanbieter den Sender nach
einem Skandal wegen einer Umfrage zur Befreiung von Leningrad aus ihrem
Programm genommen. Der Vermieter kündigte die Räume im Zentrum Moskaus,
Doschd zog kurzentschlossen in die Wohnung der Sendergründerin Natalja
Sindejewa und bestritt das Programm aus deren Küche und Bad.
Sie verloren Zuschauer*innen und Geld, den Mut aber verloren sie nie.
Auch nicht, als sie vor neun Monaten ihre neuen Räumlichkeiten in einer
alten Kristallfabrik räumen mussten und von einem Tag auf den anderen
Russland verließen. Die wichtigsten Moderator*innen sendeten in
Streams aus ihrem Übergangszuhause außerhalb Russlands.
Die Zuschauer*innen dankten es ihnen und sind nun bestürzt über die
Entscheidung der lettischen Behörden. „Es lebe Doschd, uns dürstet es nach
ungefärbten Informationen“, schreiben sie in den sozialen Netzwerken.
Kolleg*innen – viele von ihnen sind ebenfalls im Exil – loben Doschd für
seine Professionalität. Russlands Propagandist*innen indes höhnen und
fordern die „Verräter“ auf, nach Russland zurückzukehren und Reue zu
zeigen.
Der Kremlsprecher Dmitri Peskow kommentierte die Entscheidung der
Lett*innen als Beispiel, das den „Trugschluss“ demonstriere, woanders sei
„mehr Freiheit als zu Hause“. Ob die Doschd-Journalist*innen ihre
Aufenthaltsbewilligungen für Lettland behalten dürfen, steht noch aus. Sie
bezeichnen den Entzug der Lizenz als „absurd“ und senden über YouTube
weiter. Vorerst.
6 Dec 2022
## LINKS
[1] /Unabhaengige-Medien-in-Russland-gesperrt/!5838944
[2] /Stimmungsbild-aus-Moskau/!5837544
[3] /Russischer-Internetsender-in-der-Kritik/!5049671
## AUTOREN
Inna Hartwich
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