| # taz.de -- Die Grünen im Osten: Weniger inhaltliche Enge | |
| > Was die Grünen aus den Wahlen im Osten lernen sollten: Klimaschutz ist | |
| > wichtig, aber sie dürfen die sozialen Themen nicht vergessen. | |
| Bild: Lehren aus dem Osten: Ein Windpark macht noch keinen Wahlsieg | |
| Die erfolgsverwöhnten Grünen machen gerade eine ganz neue Erfahrung: | |
| nämlich die, einmal nicht als strahlende Sieger vom Platz zu gehen. Nach | |
| den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen steht eine Frage im Raum, | |
| die für die Machtverhältnisse in der Republik wesentlich ist. Ist der | |
| Höhenflug der Grünen beendet? Sind sie abgestürzt, irgendwo zwischen | |
| Neuruppin, Görlitz und Jena? Auf den ersten Blick sieht es so aus. Die | |
| Grünen sind in allen drei Ländern deutlich hinter ihren Erwartungen | |
| zurückgeblieben, auch wenn die Parteivorsitzenden Robert Habeck und | |
| Annalena Baerbock dies wortgewandt schönreden. Führende Kraft der linken | |
| Mitte? Von wegen. | |
| In Ostdeutschland sind sie die Kleinpartei in der Nische, die sie immer | |
| waren. In Brandenburg träumten sie kurz davon, die Ministerpräsidentin zu | |
| stellen – und landeten bei knapp 11 Prozent. In Sachsen und Thüringen | |
| verfehlten sie ihr Ziel, zweistellig in den Landtag einzuziehen. In Erfurt | |
| hangelten sie sich gerade so über die 5-Prozent-Hürde. Die neuen | |
| Regierungsbeteiligungen, in die sie sich retten, verdecken nicht, dass der | |
| Osten die Grünen abrupt auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hat. | |
| Sie konsolidierten sich auf akzeptablem Niveau, kämpfen aber weiter mit | |
| strukturellen Problemen, die nicht neu, aber gravierend sind. Ihr Revier | |
| sind die Großstädte, oder, im Falle des Berliner Speckgürtels, die ins | |
| Umland fließende Metropole. Hegemoniefähig sind sie in den | |
| Innenstadtbezirken von Potsdam, Dresden oder Leipzig. Da, wo Paare zwei | |
| Jobs haben, im Altbau wohnen und die Kids mit dem Lastenfahrrad zur Kita | |
| bringen. Wo also ein grüner Lebensstil ein Distinktionsmerkmal ist. Im | |
| Erzgebirge oder im Kyffhäuserkreis aber sind die Grünen den Leuten ähnlich | |
| fremd wie die Tierschutzpartei. | |
| Was heißt das nun? Sicher ist: Diese Wahlen [1][taugen nicht für | |
| zugespitzte Thesen.] Aus ihnen ein Ende des Höhenflugs im Bund abzuleiten, | |
| wäre eine Überinterpretation. Alle drei Ostländer haben zusammen nicht mal | |
| halb so viele Einwohner wie Nordrhein-Westfalen. Und die Grünen waren immer | |
| eine in Westdeutschland verwurzelte Partei. Eineinhalb Jahre Habeck und | |
| Baerbock machen aus einer grünen Diaspora nicht Baden-Württemberg. | |
| ## Erfolg kann flüchtig sein | |
| Aber ein paar Schlüsse sollten die Grünen trotzdem aus den mäßigen | |
| Ergebnissen ziehen. Einer lautet: Sie dürfen nicht alle Projektionen, die | |
| von WählerInnen und Medien auf sie gerichtet werden, für bare Münze nehmen. | |
| Erfolg kann flüchtig sein. Und Politik bleibt ein Spiel, dessen Variablen | |
| sich ständig ändern. Ein zweiter Schluss: Die Grünen sind nicht die | |
| Einzigen, die von einer starken AfD profitieren. Die Ökopartei sonnte sich | |
| zu lange in der Gewissheit, der natürliche Gegenpart zu den | |
| Rechtspopulisten zu sein. Habeck verweist gern auf eine neue Werteachse im | |
| Parteienspektrum: nicht mehr verstaubtes links gegen rechts, sondern | |
| liberal versus illiberal. | |
| Ganz falsch ist das nicht, das Wachstum der Rechten bedingt auch das | |
| Wachstum der Grünen. Inhaltlich stehen sich beide Parteien wie Pole | |
| gegenüber. Die einen sind stolz auf ihre Weltoffenheit, ihre humane | |
| Flüchtlingspolitik und proeuropäische Haltung, die anderen setzen auf einen | |
| völkischen Nationalismus. | |
| Aber die Wahlen in Ostdeutschland haben dieses Narrativ widerlegt, oder ihm | |
| zumindest eine neue Ebene hinzugefügt. Der demokratische Antipode zur AfD | |
| hieß in Brandenburg Dietmar Woidke, in Sachsen Michael Kretschmer und in | |
| Thüringen [2][Bodo Ramelow]. Wer ein Zeichen gegen die AfD setzen wollte, | |
| wählte taktisch, nicht gesinnungsethisch – nämlich den starken | |
| Ministerpräsidenten. Die WählerInnen entscheiden also nach jeweiliger | |
| Realität und nicht nach Parteiprogramm, wem sie den Kampf gegen rechts am | |
| ehesten zutrauen. | |
| Was passiert, wenn man sich seiner zu sicher ist, ließ sich in Thüringen | |
| beobachten. Dort warben die Grünen vor allem mit Klimaschutz und dem | |
| Versprechen einer starken Demokratie. Ihr Pech: Der starke Demokrat im Land | |
| war Ramelow, der beliebte Regierungschef der Linkspartei. Bei einem Thema | |
| drückte er die Grünen an die Wand, das andere interessierte schlicht zu | |
| wenig Leute. | |
| ## Klimaschutz allein reicht nicht, um zu gewinnen | |
| Hier kommt die dritte Erkenntnis ins Spiel. Klimaschutz allein reicht | |
| nicht, um zu gewinnen. Wer auf dem Dorf in Sachsen lebt und morgens zur | |
| Arbeit nach Bautzen oder Görlitz muss, für den ist der Diesel-Pkw kein | |
| Relikt der Vergangenheit, nicht mal ein persönlicher Freiheitsgewinn, | |
| sondern schlicht eine existenzsichernde Notwendigkeit. | |
| Desinteresse an Klimaschutz muss das nicht unbedingt bedeuten, aber eben | |
| andere, nachvollziehbare Prioritäten. Eigentlich ist den Grünen die Gefahr, | |
| die von einer inhaltlichen Verengung ausgeht, sehr bewusst. Sie haben | |
| ausgeklügelte Konzepte für den [3][Strukturwandel in der Lausitz], für | |
| Mobilität in der Provinz oder für eine neue Grundsicherung. Doch sie haben | |
| diese Kompetenz im Osten nicht entschieden genug kommuniziert. Ihre | |
| Wettbewerber haben das erkannt – und befeuern das falsche Klischee, das | |
| Klimaschutz automatisch zulasten armer Menschen gehe. | |
| In Sachsen und Brandenburg war den BürgerInnen laut Infratest Dimap das | |
| Thema soziale Sicherheit am wichtigsten. In Thüringen trauten nur 3 Prozent | |
| den Grünen die besten Lösungen bei Schule und Bildung zu, ähnlich sah es | |
| bei Infrastruktur aus. Einzige Ausnahme war der Klimaschutz mit 31 Prozent. | |
| Die Grünen wurden also als Ein-Themen-Partei wahrgenommen. | |
| Die Wahlen im Osten waren deshalb ein Warnsignal. Eine Erinnerung daran, | |
| dass es neben der Ökologie eine entschiedene Politik für mehr soziale | |
| Gerechtigkeit braucht. Die Grünen, die aus durchaus nachvollziehbaren | |
| Gründen dazu neigen, den Klimaschutz zu priorisieren, dürfen das nie | |
| vergessen. | |
| 8 Nov 2019 | |
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| Ulrich Schulte | |
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