# taz.de -- Degrowth Gegenargument: Umbauen statt schrumpfen | |
> Klimaschutz ist ohne Wachstum nicht möglich: Eine Auseinandersetzung mit | |
> den Degrowth-Thesen aus Ulrike Herrmanns aktuellem Buch. | |
Bild: Beim Kriegswirtschaftsmodell werden bestimmte Güter rationiert – wie e… | |
Die taz-Wirtschaftsjournalistin [1][Ulrike Herrmann] hat mit ihrem neuen | |
Bestseller eine wichtige strategische Debatte angestoßen. Doch kann man bei | |
der Analyse, wie Deutschland so schnell wie möglich klimaneutral werden | |
kann, auch zu völlig anderen Ergebnissen gelangen. | |
Herrmann hält es für entscheidend, das Wachstum zu stoppen. Sie will das | |
Bruttoinlandsprodukt drastisch reduzieren: Wenn die Menschen nur noch halb | |
so viel arbeiteten, fehle ihnen das Geld, um neues Wachstum anzuschieben. | |
Daher sei es konsequent, dass die Degrowth-Bewegung die kommerzielle | |
Lohnarbeit halbieren will. Herrmann argumentiert weiter, dass die | |
erneuerbaren Energien und die Rohstoffe nicht reichen und dass „grünes | |
Wachstum“ nicht funktionieren kann, da der Rebound-Effekt dazu führt, dass | |
alle Einsparungen an Energie und Emissionen durch das Wachstum wieder | |
aufgefressen werden. Da aber der Kapitalismus auf Wachstum angewiesen ist, | |
fürchtet die Autorin, dass Degrowth zu einer Weltwirtschaftskrise führt. | |
Deshalb schlägt sie als Weg aus dem Kapitalismus das Modell der | |
Kriegswirtschaft in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg vor. | |
Dieser Vorschlag findet erstaunlich viel Zustimmung. Aber erstens wird das, | |
was Herrmann vorschlägt, nicht ausreichen, um die Klimaerwärmung zu | |
stoppen. Und zweitens kann diese Strategie ökonomisch nicht funktionieren. | |
Drittens aber kann das Beispiel Großbritannien trotzdem sehr hilfreich | |
sein. | |
Zum Ersten: Die Treibhausgas-Emissionen zu halbieren ist viel zu wenig. | |
Nach unseren Rechnungen sollte Deutschland bis 2030 sie um 80 Prozent | |
reduzieren und spätestens 2038 klimaneutral sein. Um das zu erreichen, | |
sollte schon 2035 die Energie zu 100 Prozent erneuerbar erzeugt werden. Das | |
ist möglich. Anders als Ulrike Herrmann behauptet, sind alle damit | |
verbundenen Probleme seit Jahren in umfangreichen Studien analysiert und | |
gelöst worden – von der Stromerzeugung, dem Leitungsbau, dem Import grüner | |
Rohstoffe bis hin zu den Speichern für Strom und Wasserstoff, um auch im | |
Fall einer längeren kalten Dunkelflaute die Stromversorgung zu sichern. | |
Weiter sollten bis 2040 mindestens 80 Prozent der Häuser wärmetechnisch | |
saniert oder sogar zu Nullemissionshäusern gemacht werden. Auch die | |
Rohstofffragen sind ausführlich untersucht worden. Im „Handbuch | |
Klimaschutz“ kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Importe von Roh- und | |
Brennstoffen um rund 80 Prozent bis 2040 zurückgehen können. Entscheidend | |
dafür ist der konsequente Übergang zur Recyclingwirtschaft. Weiter rechnen | |
wir mit einer Verdreifachung des Bahnverkehrs, des öffentlichen Nahverkehrs | |
sowie des Fahrradverkehrs. | |
Zum Zweiten: Degrowth kann auch ökonomisch nicht funktionieren. Da heute | |
nur noch 20 Prozent der Beschäftigten in der Produktion tätig sind, würde | |
die Zahl der Arbeitsplätze selbst dann nicht wesentlich zurückgehen, wenn | |
die Produktion von Waren und zugleich die Zahl der Geschäfte halbiert | |
würden. Mehr als die Hälfte der Menschen arbeitet bereits in den Bereichen | |
Gesundheit, Bildung, Pflege, Kinderbetreuung und anderen Dienstleistungen. | |
Dort werden in den kommenden Jahren noch viele neue Arbeitsplätze benötigt. | |
Auch beim [2][Umbau zu einer klimagerechten Gesellschaft] werden Millionen | |
neuer Arbeitsplätze entstehen: Die Sanierung der Häuser, der Ausbau der | |
erneuerbaren Energien, der Umbau der Städte, der Ausbau von Bahnen und | |
Stadtbahnen, die Umstellung auf ökologische Landwirtschaft, Renaturierung | |
von Wäldern und Mooren – das alles erfordert viel Arbeit und Arbeitskräfte. | |
Ökonomisch bedeutet das: Auch wenn wir die Emissionen von Klimagasen auf | |
fast null reduzieren, den Rohstoffbedarf um 80 Prozent senken und den | |
Energieverbrauch halbieren, wird das Bruttoinlandsprodukt wachsen – wie es | |
auch heute schon wächst, wenn wir Naturschutzgebiete ausweisen oder neue | |
Krankenpfleger*innen einstellen – also scheinbar „unproduktive“ | |
Bereiche ausweiten. | |
Auch wenn Ulrike Herrmann hier irrt, so ist trotzdem gerade der dritte Teil | |
ihres Buchs inspirierend, in dem sie vorschlägt, die [3][Kriegswirtschaft] | |
in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg als Blaupause für die Klimapolitik | |
zu nehmen. Zur Steuerung dieser Politik wurde damals das | |
Bruttoinlandsprodukt (BIP) erfunden. Da Arbeitskräfte knapp waren, wurde | |
das „Manpower Budget“ zum zentralen Steuerungsinstrument. Auch der Konsum | |
wurde strikt geregelt: Milch und Eier nur für Kinder, Schwangere und | |
stillende Mütter; Fleisch, Käse, Fett, Zucker, Tee und Seife wurden pro | |
Kopf rationiert. Erstaunlicherweise war das System sehr beliebt, weil alle | |
das Gleiche bekamen und die Unterschicht besser versorgt war als in | |
Friedenszeiten. | |
Nun werden wir hoffentlich nicht so viel rationieren müssen. Trotzdem lässt | |
sich daraus einiges für heute lernen: Um den gewaltigen Umbau zu schaffen, | |
braucht es staatliche Planung und klare gesetzliche Regelungen. Ob dazu | |
erst der Kapitalismus zu Ende gehen muss, wird sich zeigen. Auf jeden Fall | |
aber wird Klimapolitik nur gelingen, wenn die Menschen fühlen, dass es | |
gerecht zugeht. Und das wird auch die Gesellschaft grundlegend verändern. | |
Wenn aber heute die Notmaßnahmen für die Transformation immer noch nicht | |
energisch genug in Angriff genommen werden, dann liegt das nicht daran, | |
dass es nicht machbar ist. Es liegt an mangelnder Entschlossenheit großer | |
Teile der Politik. Offensichtlich ist für viele die Not von Klimakrise und | |
Artensterben noch nicht so akut, dass es Mehrheiten im Parlament gibt, die | |
bereit sind, Notstandsmaßnahmen zu ergreifen. Weniger, weil der | |
Kapitalismus noch nicht abgeschafft ist. Sondern weil die Mehrheit im | |
Bundestag noch immer glaubt, freie Fahrt auf Autobahnen und billige Flüge | |
seien wichtiger als das Klima. | |
20 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Oeko-Energie-zu-teuer/!5912869 | |
[2] /Forscherin-ueber-Transformation/!5904272 | |
[3] /Energiewende-und-Klimarettung/!5890174 | |
## AUTOREN | |
Karl-Martin Hentschel | |
## TAGS | |
Postwachstum | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Grüner Kapitalismus | |
Erneuerbare Energien | |
Erderwärmung | |
Zukunft | |
Schwer mehrfach normal | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Erderwärmung | |
Grünes Wachstum | |
Klimakonferenz in Dubai | |
Transformation | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wachstum und Klimakrise: Kreislaufwirtschaft im Wald | |
Eine die Umwelt verschonende Technik gibt es nicht. Einzig die Fotosynthese | |
der Pflanzen schafft ein komplexes Ökosystem ohne jede Zerstörung. | |
Wachstumskritisches Denken: Degrowth für Dummies | |
Die Degrowth-Bewegung befasst sich damit, wie eine Welt ohne globales | |
Wirtschaftswachstum aussehen kann. Wir erklären nochmal ganz von Anfang an. | |
Das Wirtschaftswachstum und ich: Konsum ist keine Lösung | |
Wohlstand geht nur durch Wirtschaftswachstum: Das ist eine | |
Milchmännchenrechnung, mit der ich mich gar nicht wohl fühle. Wir sollten | |
das System ändern. | |
Koalitionsstreit über Energiepolitik: Klimapolitisch handlungsunfähig | |
Mit der Blockade-Partei FDP kann man nicht mehr rational argumentieren. Sie | |
spielt Fachpolitik zu einem Kulturkampf hoch. | |
Natürliche Wasserstoff-Vorkommen: Schlummernder Energieträger | |
Grüner Wasserstoff ist ein wichtiger Bestandteil der Energiewende. Ein | |
Zufallsfund in Mali zeigt, dass er nicht aufwändig produziert werden muss | |
Erderwärmung und Wachstum: Beim Konsum ansetzen | |
Grünes Wachstum bleibt eine Illusion – zumindest solange die dafür | |
notwendige Technologie fehlt. Trotzdem ist Handeln auch jetzt schon | |
möglich. | |
Öko-Energie zu teuer: Grünes Schrumpfen ist angesagt | |
Eine neue Studie weist nach, dass „grünes Wachstum“ eine Illusion ist. Denn | |
Öko-Energie, die unsere Technik antreibt, hat schlicht zu hohe Kosten. | |
COP27: Kapitalismus muss die Welt retten | |
Mit seinem endlosen Hunger nach mehr Wachstum und mehr Ausbeutung hat der | |
Kapitalismus die Klimakatastrophe verschuldet. Jetzt ist Zahltag. | |
Alternative Wirtschaftswissenschaft: Postwachstum bleibt auf der Agenda | |
Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung bearbeitet Fragen, die | |
dem Mainstream egal sind. Bei der Energie hat sich das geändert. |