| # taz.de -- Debatte um das Wahlalter 16: „Wir müssen die Jungen beteiligen“ | |
| > Die Politologin Sabine Achour fordert, dass 16-Jährige auch bei | |
| > Bundestagswahlen wählen dürfen. Damit würde auch die politische Bildung | |
| > glaubhafter. | |
| Bild: Werbung der EU zur Europawahl 2024 in einem Bahnhof in Berlin | |
| taz: Frau Achour, bei der Europawahl dürfen in Deutschland erstmals auch | |
| 1,4 Millionen 16- und 17-Jährige teilnehmen. Es ist damit das erste Mal, | |
| [1][dass Minderjährige bei einer bundesweiten Wahl mitmachen] dürfen. Was | |
| halten Sie davon? | |
| Sabine Achour: Ich finde Jugendbeteiligung auf allen Ebenen wichtig. | |
| Deshalb ist es ganz wunderbar, dass junge Menschen jetzt am Sonntag bei | |
| einer so großen Wahl wählen dürfen. Ich würde es auch richtig finden, wenn | |
| 16-Jährige bei einer Bundestagswahl mitmachen könnten. Das würde | |
| Institutionen und Parteipolitiker:innen in die Pflicht nehmen, sich | |
| viel stärker auch auf Kinder und Jugendlichen als Zielgruppe zu | |
| konzentrieren. | |
| Die Vorbehalte gegen das Wahlalter 16 sind groß. Ein beliebtes Argument | |
| ist, dass Jugendliche noch nicht reif genug seien für eine abgewogene | |
| politische Entscheidung. | |
| Die Grenzziehung beim Alter ist aus meiner Sicht komplett willkürlich. Ich | |
| würde sogar fast sagen: Sie ist fahrlässig. Wir wissen aus der Forschung, | |
| dass die politische Sozialisation bis 18 weit vonstatten gegangen ist. Und | |
| wir wissen, dass diese Gruppe ihre Informationen auch viel auf TikTok und | |
| anderen Kanälen rezipiert und dort politisiert wird. Das bedeutet, dass wir | |
| als Gesellschaft diese Zielgruppe auch entsprechend früh ansprechen müssen. | |
| Sonst besteht die Gefahr, dass wir Jugendliche in dieser zentralen | |
| Sozialisationsphase an zweifelhafte Politikangebote verlieren. | |
| Lehrerverbandschef Stefan Düll hat diese Woche in Frage gestellt, ob sich | |
| [2][Jugendliche überhaupt groß für Politik interessierten]. Wie nehmen Sie | |
| das wahr? | |
| Wenn wir Dülls Äußerungen ernst nehmen, müssten wir uns doch fragen: Was | |
| machen wir eigentlich mit den ganzen Erwachsenen, die sich auch nicht für | |
| Politik interessieren? Die gibt es schließlich auch bei jeder Wahl. | |
| Wissenschaftlich lässt es sich nicht halten, Jugendlichen pauschal die | |
| Urteilsfähigkeit abzusprechen. Im Gegenteil sehe ich hier eine große | |
| Chance. Wenn man Jugendliche mit 16 wählen lässt, zeigt man ihnen doch, | |
| dass man sie bei der Mitgestaltung von Politik ernst nimmt. | |
| Das ist meiner Meinung nach auch der eigentliche Effekt jetzt bei der | |
| Europawahl. Der Einfluss auf das Wahlergebnis ist ja gering, weil die | |
| Jugendlichen nur einen sehr kleinen Anteil der Wähler:innen insgesamt | |
| ausmachen. Umso wichtiger, auch demographisch, dass sie beteiligt werden | |
| und nicht nur „die Alten“ über die Zukunft entscheiden. Was die Beteiligung | |
| aber bei Jugendlichen auslöst, sollten wir nicht unterschätzen. | |
| Nicht alle scheinen sich über die Beteiligung zu freuen. Laut einer Studie | |
| der Bertelsmann-Stiftung wollen [3][nur 57 Prozent der 16-25-Jährigen in | |
| Deutschland] am Sonntag ihre Stimme abgeben. Wie erklären Sie sich das? | |
| Hier spiegelt sich eine zunehmend geringere Wahlbeteiligung wider, wie wir | |
| sie in der gesamten Gesellschaft sehen. Und da finde ich ehrlich gesagt | |
| eher erschreckend, dass von den Älteren vergleichbar wenige wählen gehen | |
| wollen. Sie sollten ein besseres Vorbild sein. Zugleich können wir aus | |
| diesen Zahlen auch einen Auftrag ablesen können. Nämlich zu überlegen, | |
| warum Wählen so unattraktiv ist für Jugendliche. Politiker:innen oder | |
| Lehrer:innen können dabei in ihrer Ansprache viel überzeugender sein, | |
| wenn sie mit Jugendlichen über eine reale Wahl kommunizieren. Würde das | |
| Wahlalter bei allen Wahlen bei 16 liegen, kann ich mir vorstellen, dass | |
| auch die Wahlbeteiligung steigt. Aktuell muss der | |
| „Wahlrechtsflickenteppich“ in Deutschland auf Jugendliche willkürlich | |
| wirken. | |
| Machen Schulen eigentlich genug, um junge Menschen für Politik zu | |
| interessieren? Herr Düll vom Lehrerverband findet ja und nimmt die Familien | |
| in die Pflicht. | |
| Auch das halte ich für eine fragwürdige Sichtweise. Wir wissen, dass es | |
| einen sozialen Gap in den kulturellen Ressourcen der Elternhäuser gibt. Um | |
| Kinder zu erreichen, die nicht aus sozial privilegierten Elternhäusern | |
| kommen, bleibt oft nur die Schule. Deshalb sehe ich die Schulen auch in der | |
| Pflicht, noch mehr auf die Interessen junger Menschen einzugehen. | |
| Viele Bundesländer haben [4][in den vergangenen Jahren die politische | |
| Bildung gestärkt]. Woran hakt es dann? | |
| Das stimmt. Viele Landesregierungen haben die politische Bildung gestärkt, | |
| dennoch ist sie oft ein Einstundenfach, vorher gab es gar keine politische | |
| Bildung oder erst in Klasse 9 oder 10. Andere Bundesländer haben auch | |
| andere Prioritäten gesetzt und stattdessen eine [5][affirmative ökonomische | |
| Bildung gestärkt]. Auch in Berlin wird erst seit einigen Jahren wieder | |
| politische Bildung als eigenständiges Fach in der Sekundarstufe 1 | |
| unterrichtet. Die Folge aber ist, dass vielen Lehrkräften oft die Erfahrung | |
| und Expertise hier fehlt und selbst Fortbildungen in Berlin eingefordert | |
| haben. Oft wird Politik mit Geschichte und Geographie als Integrationsfach | |
| unterrichtet und damit in Teilen fachfremd. Das hat oft Auswirkungen auf | |
| die Qualität. | |
| Zugleich gibt es auch tollen Politikunterricht oder hervorragende Angebote | |
| für Demokratiebildung. Aber der Unterricht insgesamt und oft auch vor einer | |
| Wahl besteht zu oft vor allem aus Institutionenkunde. Ein guter Unterricht | |
| muss aber nah dran sein an den aktuellen politischen Debatten. Das | |
| funktioniert nicht, wenn man Unterricht mit einem Schulbuch macht, das zehn | |
| Jahre alt ist. | |
| Wie wenig politische Bildung verfängt, zeigt die aktuelle U-18-Wahl. | |
| Bundesweit [6][haben fast 14 Prozent der Schüler:innen für die AfD] | |
| gestimmt, in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sogar fast jede:r | |
| Zweite. | |
| Jugendliche spiegeln oft ungefilterter gesellschaftliche Entwicklungen | |
| wider. Aber spannend wird, wie die Jugendlichen am Sonntag tatsächlich | |
| wählen. Einige wollen damit provozieren, Unmut äußern, Aufmerksamkeit | |
| generieren. Daher ist es auch relevant, wie die Schulen mit diesen | |
| Ergebnissen umgehen. Ob sie das vor und nach der Europawahl | |
| problematisieren oder nicht. Aber wenn sich dieser Trend bestätigt, dass | |
| viele junge Menschen AfD wählen, spricht das nur nochmal mehr dafür, uns | |
| mehr dieser Wähler:innengruppe zuzuwenden. | |
| Wären Kandidaten-Speeddatings mit Politiker:innen ein geeignetes | |
| Format? Und wenn ja: Sollte auch die AfD eingeladen werden? | |
| Das Format ist sehr geeignet, weil es für Jugendliche Wertschätzung | |
| ausdrückt, dass sich Politiker:innen Zeit für sie nehmen. | |
| AfD-Politiker:innen würde ich nicht einladen. Schulen haben eine | |
| Fürsorgepflicht. Stellen Sie sich vor, Schüler:innen begegnen | |
| Politiker*innen, die [7][genau diese Jugendlichen 'remigrieren’ möchten], | |
| und das in einer 1-zu-1-Situation. Schulen müssen Schüler*innen vor | |
| Menschenfeindlichkeit schützen. | |
| Entsprechende Inhalte der AfD, der Verdachtsfall der Partei beim | |
| Bundesverfassungsgericht oder die jüngsten Vorwürfe gegen deren | |
| EU-Spitzenkandidaten gehören aber definitiv in den Unterricht und würden | |
| möglicherweise einen Beitrag leisten, dass Jugendliche auch nicht bei | |
| simulierten Wahlen ihr Kreuz bei der AfD machen. | |
| 9 Jun 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Europawahlen-ab-16/!6012068 | |
| [2] /Waehlen-mit-16/!6011937 | |
| [3] https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/juni/… | |
| [4] /Schulfach-Politische-Bildung/!5706687 | |
| [5] /Neues-Schulfach-in-NRW/!5748693 | |
| [6] https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&a… | |
| [7] /Rechtsextremes-Geheimtreffen/!5984115 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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