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# taz.de -- Debatte Deutsche Sicht auf Israel: Willkommen im Floskelland
> Wie wird die Einwanderung das deutsche Denken und Sprechen über Israel
> verändern? Denn niemand wird sich in unsere Floskeln integrieren.
Bild: Neue Räume des öffentlichen Denkens und Sprechens über Israel müssen …
Wenn in der deutschen Öffentlichkeit, sei es in den Medien oder der
Politik, über Israel gesprochen wird, mangelt es oft an Qualität. Die
Qualität eines Diskurses entsteht durch Kenntnisse und genaue Beobachtung,
aber auch durch Kontroverse und Vielstimmigkeit. Wenn es um Israel geht,
gibt anderes den Ton vor: die Floskel.
Das fällt gerade heute auf, weil zwei Ereignisse genaues Nachdenken
verlangen: erstens der gescheiterte Widerstand von Israels Regierung gegen
die Nuklearvereinbarung mit Iran, zweitens die Ankunft einer großen Zahl
Geflüchteter aus Syrien, wo Israelfeindschaft zum guten Ton gehört. Gibt es
da einen Zusammenhang? Wir werden sehen.
„Es ist 1938, und Iran ist Deutschland.“ Iran, so Benjamin Netanjahu,
bereite „einen weiteren Holocaust“ vor. Das waren Worte, die nicht mehr
steigerbar sind. In Deutschland sind sie ohne viel Echo verhallt; auch der
Zentralrat der Juden äußerte lediglich „Skepsis“ gegenüber dem Abkommen.
Der Grund für die Zurückhaltung liegt auf der Hand: Die Wiener Vereinbarung
war von Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit ausgehandelt worden. Das
fehlende Echo ist dennoch eine Nachricht: Die israelische Rechte beschwor
die Schoah, und Deutschland hörte weg. Es kommt also anscheinend darauf an,
wer was wann warum sagt – auch bei diesem sensibelsten aller Themen.
## Neue Diskurssuche
In den USA tobte über Monate eine Meinungsschlacht um den Iran-Deal. Deren
Verlierer sind die konservativen, mit Israels Likud eng liierten
Organisationen, voran das einst mächtige American Israel Public Affairs
Committee. Dessen massive Antikampagne konnte sich, zur Verwunderung der
Initiatoren, nicht auf eine Mehrheit der US-Juden stützen, provozierte
vielmehr einen bisher beispiellosen innerjüdischen Streit. Nur ein Detail:
340 Rabbiner wandten sich in einem offenen Brief an den Kongress, um
Unterstützung für das Abkommen zu bekunden.
Jüdische US-Stimmen sprechen nun von einem Epochenwechsel. Das Jewish
Journal sieht „eine wachsende Kluft zwischen amerikanisch-jüdischen und
israelisch-jüdischen Ansichten“. Jonathan Chait, Autor beim New York
Magazine, resümiert: „Es gibt keine Israel-Lobby mehr.“ Die US-Juden seien
heute nach politischen Lagern geteilt; die Mehrheit stünde bei den
Demokraten. Das Scheitern der Anti-Deal-Kampagne führt Chait noch auf einen
zweiten Grund zurück: Die außenpolitische Debatte in Israel habe sich in
den letzten 15 Jahren stetig nach rechts bewegt. Das Establishment der
US-Juden, diesen Drift mitvollziehend, stehe deshalb heute rechts von der
jüdischen Mehrheit in Amerika.
Naomi Dann, eine Sprecherin des Jewish Voice for Peace, glaubt sogar, es
könne nun darüber diskutiert werden, ob der jüdische Charakter des Staates
Israel unantastbare Priorität habe vor der Forderung nach Gleichheit seiner
Bürger.
Ist es naiv, wenn ich mir in Deutschland, dem Land der Schoah, eine
ähnliche Pluralität und Lebendigkeit der Debatte wünsche? Anders gefragt:
Wenn es in den USA, Israels wichtigstem Verbündeten, selbst unter Juden
eine wachsende Distanzierung gegenüber israelischem Regierungshandeln gibt,
ist es dann nicht auch an der Zeit, in Deutschland einen neuen Diskurs zu
versuchen?
## Juden als Figuren in einer Vitrine
Gewiss: Die hiesigen jüdischen Gemeinden leben in einem historisch zu
belasteten Land, um sich eine Meinungspluralität wie in den USA leisten zu
können und zu wollen. Und das offizielle Deutschland sieht seine Juden
ohnehin am liebsten als Figuren in einer Vitrine. Doch es gibt Anfänge von
Neuem: wenn zum Beispiel in Neukölln lebende Juden der Charakterisierung
des Migrantenstadtteils als No-go-Area widersprechen – und damit der Sicht
des Antisemitismusbeauftragten der Jüdischen Gemeinde Berlins. Und es leben
heute in Berlin junge Israelis, die Israels Siedlungspolitik, seine
Kriegsführung, seinen Umgang mit Asylbewerbern so scharf verurteilen, dass
manche Deutsche erstarren.
Neue Räume des öffentlichen Denkens und Sprechens über Israel müssen in
Deutschland von Juden und Nichtjuden gemeinsam geschaffen werden. Das ist
bereits jetzt überfällig – und erst recht nötig als Antwort auf die
jüngsten Befürchtungen: dass sich mit den Syrern mehr Israel- und
Judenfeindlichkeit in Deutschland einquartiere. Die Ankömmlinge müssten, so
Zentralvorsitzender Josef Schuster, an die „Werte“ herangeführt werden,
„die in Deutschland Bestand haben“. Bei allem Respekt: Ich fürchte, das
wird so nicht gehen. Nicht so statisch.
Auch für ein Einwanderungsland Deutschland muss gelten: Lehren aus der
Schoah zu ziehen gehört zum deutschen Selbstverständnis. Aber welche Lehren
das sind und wie sie gelebt werden, darüber muss sich ein neuer Konsens
entwickeln.
## Kein eingewanderter Hass
Wenn Kinder von Migranten an einer Exkursion nach Auschwitz teilnehmen,
haben sie dabei andere Gefühle als Jugendliche, deren Vorfahren
möglicherweise in den Judenmord involviert waren. Das ist keine neue
Erkenntnis, und es gibt schon seit Längerem Projekte und Studien, wie
Lehrer mit dem Fehlen von Empathie umgehen können. Und der Mangel an
Empathie ist nicht allein ein Problem bei Migranten.
Die meisten antisemitischen Straftaten werden von (rechten) Deutschen
begangen; das ist kein eingewanderter Hass. Antizionismus kann, aber muss
nicht gleich Judenhass sein. Im Iran müssen Synagogen nicht beschützt
werden, anders als in Deutschland. Es stimmt aber auch dies: Viele Araber
können sich einen Juden nur in einer israelischen Uniform vorstellen.
Wie also wird ein Einwanderungsland Deutschland künftig über Israel
sprechen? Gegenüber einem syrischen Palästinenser lässt sich schwerlich das
Existenzrecht Israels verteidigen, ohne über die Rechtmäßigkeit von dessen
Grenzen zu reden. Wo wir uns in Floskeln flüchten, sind wir nicht
glaubwürdig. Niemand wird sich in unsere Floskeln integrieren.
Wer sich heute jenen entgegenstellt, die Brandsätze auf
Flüchtlingsunterkünfte werfen, setzt Lehren aus der Schoah in die Tat um.
Das ist keine Antwort auf alles. Aber um andere zu überzeugen, ist es ein
guter Ausgangspunkt.
25 Oct 2015
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
Israel
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Einwanderung
Antizionismus
Floskeln
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Essen
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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