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# taz.de -- Datei „Gewalttäter Sport“: Drei Tags? Also öffentliche Gefahr!
> Das Bundesverfassungsgericht hat Teile des BKA-Gesetzes kassiert.
> Besonders krass angewendet wurde es gegen Fußballanhänger.
Bild: Überwachungsobjekt Fußballfan: Anhänger des SV Werder Bremen
Es waren drei Tags, mit einem Filzstift an eine Raststätte geschmiert, die
die Göttinger Polizei im Januar 2010 dazu veranlassten, mehrere Busse der
Bremer Ultraszene zu kontrollieren. Die Fans waren auf dem Weg zum Spiel
bei Eintracht Frankfurt. Die Polizei ermittelte wegen Sachbeschädigung. Der
Verdacht fiel irgendwann auf Robert F. Der [1][Werder-Ultra], der nicht
möchte, dass sein Name in der Öffentlichkeit genannt wird, erinnert sich im
Gespräch mit der taz: „Die Personalien aller Businsassen wurde aufgenommen
und dadurch ist dieser Eintrag entstanden.“ Denn weil F. schon seit 2007
als Ultra im Fokus der örtlichen Polizei steht und dann Tatverdächtiger für
die Schmierereien wird, wurden seine Personalien in die [2][Datei
„Gewalttäter Sport“] aufgenommen – mit dem Vermerk „Tatverdacht zur
Sachbeschädigung/Graffiti in Göttingen im Rahmen der Busanreise zum Spiel
Eintracht Frankfurt gegen SV Werder Bremen“.
Mit ungeahnten Folgen einige Monate später. F. erinnert sich an die Fahrt
zum Champions-League-Spiel von [3][Werder] nach Enschede: Die Busse der
Bremer Ultras seien an der Grenze kontrolliert worden. Alle Businsassen,
die einen aktuellen Eintrag in der Datei haben, wurden gesondert
kontrolliert. „Wir sind dann irgendwo an der Grenze in ein Polizeirevier
gebracht worden, da haben die uns irgendwelche Zettel in die Hand gedrückt
und haben uns gesagt, dass wir gehen können.“ Was auf dem Zettel stand?
„Eine ‚Gefährdung für das Königreich Niederlande‘ stand da drin“, er…
sich F. „Ich habe mir dann gesagt, das ist doch krank.“
Wegen drei Tags durfte er die Grenze nicht passieren. Verurteilt wurde F.
für die Sachbeschädigung auf der Raststätte nie. Er klagt nun beim
Verwaltungsgericht Köln gegen die Ausreiseuntersagung und bekommt recht.
Schon damals habe der Richter bei der Verhandlung die Polizei gefragt,
woher die ganzen Daten kommen. Für die Polizei ist die Datei „Gewalttäter
Sport“ seit Jahrzehnten ein wichtiges Arbeitsinstrument. Auf der Homepage
der [4][Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze] (ZIS) heißt es: „Diese
Datei versetzt die Polizei bundesweit in die Lage, zielgerichtet
polizeiliche Maßnahmen zu treffen und dabei zwischen Störern und
Nichtstörern zu unterscheiden.“ Das geschieht auch dadurch, dass die Datei
in das polizeiliche Informationssystem Inpol einfließt, dem vom
Bundeskriminalamt (BKA) betriebenen elektronischen Datenverbund zwischen
Bund und Ländern.
## Gang nach Karlsruhe
F.s Beispiel zeigt, warum diese Praxis bei Fußballfans seit Jahrzehnten
[5][verrufen] ist. Aus diesem Grund reicht er mit Grün-Weiße-Hilfe, einem
Rechtshilfeverein für Werderfans, und der Gesellschaft für Freiheitsrechte
als einer von mehreren Personen Klage gegen das BKA-Gesetz ein. Auf
Grundlage dieses Gesetzes sind seine Daten in der Datei [6][„Gewalttäter
Sport“] gespeichert und weiterverarbeitet worden. Nun hat das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe [7][Teile des Gesetzes für
verfassungswidrig] erklärt. Einzelne Befugnisse zur Datenerhebung und
-speicherung müssen bis Juli 2025 geändert werden.
Bijan Moini von der Gesellschaft für Freiheitsrechte hat F. als Anwalt
vertreten und freut sich über das Urteil, auch wenn das Gericht nicht mit
allen Punkten der Klage übereinstimmte. In wichtigen Punkten haben sie
jedoch gewonnen, erklärt Moini der taz und meint damit vor allem die
Einschränkungen, die das BVerfG für die Speicherung der Daten von
Beschuldigten, also Personen, die einer Straftat nur verdächtigt waren,
aber nicht ihretwegen verurteilt wurden, formuliert hat. Zukünftig müssen
Polizeien diesen Einträgen sogenannte Negativprognosen hinzufügen. „Das
heißt, die Polizei muss begründen und auch dokumentieren, warum die Person
in Zukunft gefährlich ist, obwohl sie wegen keiner Straftat verurteilt
wurde und warum die Speicherung der Daten gerade dazu beiträgt, die von ihr
angeblich ausgehende Gefahr zu reduzieren“, so Moini.
Außerdem müsse es ein Löschkonzept geben. Der Gesetzgeber muss regeln, wie
lange und unter welchen Voraussetzungen die Daten gespeichert bleiben
dürfen. Insgesamt würden Fanrechte damit „deutlich gestärkt“, sagt Moini.
Für Wilko Zicht, dem Vorstand der [8][Grün-Weißen Hilfe], ist das
Karlsruher Urteil ein „wichtiger Teilsieg“, weil erstmals
verfassungsrechtliche Grenzen für die Speicherung in bundesweiten
Polizeidateien gesetzt wurden. Zicht fügt hinzu, dass in den Verbunddateien
beim BKA nicht nur Tausende Fußballfans, sondern mehrere Millionen Menschen
gespeichert seien und die Polizei nun vor dem Hintergrund des neuen Urteils
eigentlich alle Einträge noch einmal prüfen und wohl viele davon löschen
müsste. Schon allein aus Ressourcengründen werde sie dies aber nicht tun,
ist er sicher.
Für ihn ist jetzt ein guter Zeitpunkt für alle potenziell Betroffenen, eine
Datenauskunft beim BKA und der örtlichen Polizei zu beantragen: „So
erfahren Menschen, was genau die Polizei genau über sie gespeichert hat.“
Wer damit nicht einverstanden sei, könne von den Datenschutzbeauftragten
Hilfe beim Löschen erhalten. Fußballfans sollten sich an die Fanhilfe ihres
jeweiligen Vereins wenden, ergänzt er. „Die Chancen auf Löschung sind durch
das Urteil jedenfalls gestiegen.“
Ganz zufrieden ist der Fanhilfe-Vorstand jedoch nicht. Seiner Auffassung
nach habe das Gericht mehrere Fragen offengelassen. „Das betrifft die
Regelungen zur Nutzung der gespeicherten Daten durch das BKA und die
Landespolizeien, die Löschung nach Freispruch und Verfahrenseinstellung,
die fehlende Benachrichtigungspflicht der Betroffenen sowie die Speicherung
von Daten, ohne dass überhaupt der Verdacht einer Straftat bestand“,
erklärt er. Für den Fall, dass der Gesetzgeber im Rahmen der erforderlichen
Neuregelung nicht auch diese Regelungen verfassungsgemäß korrigiere,
kündigt er an, „dass Fußballfans mit unserer Unterstützung erneut
Verfassungsbeschwerde erheben werden“.
Werder-Ultra F. verspürt nach dem Karlsruher Urteil unterdessen erst einmal
Genugtuung: „Es ist immer wichtig, dass die Behörden wissen, dass sie nicht
alles machen können, weil ihnen keiner auf die Finger guckt.“
4 Oct 2024
## LINKS
[1] /Man-sollte-den-Werder-Ultras-danken/!5409322
[2] /Datensammeln-ueber-Fussballfans/!5792359
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[8] /Empoerung-ueber-Polizeieinsatz-gegen-Fans/!5620654
## AUTOREN
Edgar Lopez
## TAGS
Verfassungsgericht
Fußballfans
Werder Bremen
GNS
Schwerpunkt Fußball-EM 2024
BKA
Fans
Polizei Bremen
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