# taz.de -- Überwachung bei der Fußball-EM: Polizeispiele ohne Grenzen | |
> Grenzkontrollen, zweifelhafte Polizei-KIs und Live-Tracking: Bei der EM | |
> in Deutschland wurden vermeintliche Überwachungsfantasien zur Realität. | |
Bild: Mannschaftsfoto der Polizeikräfte im Berliner Olympiastadion vor dem EM-… | |
Erinnert sich noch jemand an die Männer-EM 2024? Dieses Turnier, das ein | |
Narkotikum gegen gesellschaftliche Spaltung, Kriege und Krisen sein sollte | |
und am Ende halt ein paar Wochen Fußball war? Auffällig ist, wie die EM mit | |
Abpfiff aus der Öffentlichkeit verschwand. [1][Während zum Sommermärchen | |
noch Jahre später Elogen verfasst wurden], hat sich Deutschland still von | |
dieser Euro abgewandt. | |
Wie beschämt davon, dass der versprochene gesellschaftliche Zaubertrank am | |
Ende nur ein Schluck Bier war. Ein öffentliches Aufarbeiten des Geschehenen | |
blieb aus. Dabei hat diese EM durchaus etwas im Land verändert. Zum | |
Beispiel dies: Polizei und Uefa haben massiv in Grundrechte und | |
Privatsphäre eingegriffen. Und teils wirken diese Maßnahmen weiter. | |
[2][Am 14. Juni 2024 beginnt die Heim-EM.] Ab dem 7. Juni führt die | |
Bundespolizei „vorübergehend Grenzkontrollen“ an allen Landesgrenzen, auch | |
im Westen und Norden, ein. Der Staat rüstet auf wie nie für ein deutsches | |
Turnier. Laut Innenministerium ist es der größte Einsatz in der Geschichte | |
der Bundespolizei, 22.000 Kräfte jeden Tag für die EM. Ob das | |
verhältnismäßig oder effektiv sei, fragt niemand. Die Angst, besonders vor | |
Terroranschlägen ist riesig. Grundrechtsverstöße der Uefa wie Demoverbote | |
am Stadion gehen fast ohne Widerstände durch. | |
Auf taz-Anfrage erklärt die Bundespolizei, dass durch ihre Einsätze | |
Mehrkosten von rund 43 Millionen Euro entstanden seien. Zum Vergleich: Für | |
eine Saison der ersten und zweiten Männer-Bundesliga rechnen die letzten | |
vorliegenden Kalkulationen mit rund 100 Millionen Euro Polizeikosten. Das | |
wäre ein Monat zum Preis von fast einem halben Jahr. Und natürlich geht es | |
inmitten der aufgeheizten Migrationsdebatte um mehr als Fußball. | |
## Null-Effekt der ausgeweiteten Grenzkontrollen | |
[3][Der Nutzen einzelner Überwachungsmaßnahmen] lässt sich, wenn es | |
überwiegend ruhig blieb, schwer bewerten. Denn stets können Bundesregierung | |
und Polizei argumentieren: Ohne jede einzelne Maßnahme wäre etwas passiert. | |
Innenministerin Nancy Faeser ließ sich zitieren: „Unsere starken | |
Sicherheitsmaßnahmen haben in allen Bereichen gewirkt.“ | |
Doch Kontrollen lassen sich durchaus quantifizieren. Eine Kleine Anfrage | |
der Linken ergab, dass bei den 1,6 Millionen Personengrenzkontrollen | |
während der EM 78 „Gewalttäter Sport“ gefunden wurden. Diese überschauba… | |
Gruppe wurde meist im Flugverkehr und an den Grenzen zu Österreich und | |
Tschechien aufgegriffen, dort also, wo es sowieso schon Kontrollen gab. An | |
allen anderen Grenzen fand die Polizei zwischen null und drei Menschen – | |
ein sprichwörtlicher Null-Effekt. | |
Schon während des Turniers wird der Erfolg der Maßnahme vor allem an | |
Zurückweisungen von illegalisierten Migrant:innen bemessen. Die | |
Unionsparteichefs Friedrich Merz und Markus Söder schreiben direkt nach der | |
EM einen Gastbeitrag in der Bild-Zeitung: „Die Grenzkontrollen müssen | |
bleiben!“ [4][Auch die FDP will eine Verlängerung,] die AfD jubelt. Und | |
nach dem Messerattentat von Sohlingen geschieht genau das: die | |
Bundesregierung verstetigt die Kontrollen. Die EM hat Grenzen verschoben. | |
Sie hat eine weitere Aufweichung von EU-Recht vorstellbar gemacht – und | |
damit machbar. | |
„Wir Fans wurden als Spielball benutzt, um die Migrationsdebatte zu | |
befrieden“, kritisiert Oliver Wiebe heute. „Die EM wurde politisch | |
instrumentalisiert.“ Wiebe engagiert sich im Dachverband der Fanhilfen, | |
einer Rechtshilfe von Fans für Fans. Er hält die umfassenden | |
EM-Grenzkontrollen für einen politischen Probelauf. „Oft werden auf dem | |
Rücken der Fußballfans Maßnahmen für die Polizei eingeführt, die dann aber | |
eben nicht nur beim Fußball angewendet werden.“ | |
## Polizei-KI am Parlament vorbei | |
Neue Befugnisse, neues Material, neue IT-Strukturen, als Beispiel nennt er | |
Stuttgart. „Die Polizei Stuttgart hat ohne Beschluss eines Parlamentes eine | |
eigene Polizei-KI für die EM entwickelt.“ Dabei ging es um eine Software | |
zur Simulation von Personenströmen, die mit Überwachungsbildern von Drohnen | |
und Kameras arbeitet, künftig wohl auch mit anonymisierten Handydaten. | |
Solche Software kann beim Crowd-Management helfen, birgt aber auch extremes | |
Missbrauchspotenzial. Die KI soll, wenn sie sich bewährt, zum Standard für | |
Großveranstaltungen werden. | |
Warum wurde über all das so wenig gesprochen? Wiebe räumt ein, dass die | |
Kritik an den EM-Maßnahmen „viel zu gering“ gewesen sei. Viele aktive Fans | |
interessierten sich nicht fürs Nationalteam. Angesichts des autoritären | |
Rucks sei es zudem immer schwerer für Fans, Stimmen in den Parlamenten zu | |
finden. | |
André Hahn schildert Ähnliches. Der sportpolitische Sprecher der Linken im | |
Bundestag beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Sport und Sicherheit. | |
„Ich habe hier im Parlament erlebt, wie es überall hieß: Es darf auf gar | |
keinen Fall irgendetwas passieren. Es gab ganz wenige, die sich kritisch zu | |
den Sicherheitsmaßnahmen geäußert haben, und die wurden dann noch als | |
Miesmacher hingestellt. Da war kein Raum für kritische Stimmen.“ Hahn | |
möchte nicht so weit gehen zu sagen, dass die Grenzkontrollen ein Testlauf | |
waren. „Aber ich könnte mir vorstellen, dass man im Nachhinein bei der | |
Auswertung gesehen hat: Vielleicht könnte das auch perspektivisch ein | |
probates Mittel sein.“ | |
Die taz hat der Bundespolizei einen ausführlichen Fragebogen zum Nutzen der | |
EM-Grenzkontrollen und zur Bewertung der Sicherheitsmaßnahmen gestellt. Die | |
Polizei antwortet, es finde „derzeit eine umfangreiche Nachbereitung der | |
Einsatzkonzepte“ statt. Ergebnisse gebe es wohl bis Jahresende. Da es | |
maßgeblich um einsatztaktische Maßnahmen gehe, deren Inhalte „als | |
Verschlusssache eingestuft sind“, werde sie aber dazu keine öffentlichen | |
Angaben machen. „Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass sich der | |
Einsatz der Bundespolizei sowohl aus polizeilicher als auch | |
sicherheitspolitischer Sicht bewährt hat und insbesondere die grenz- und | |
bahnpolizeilichen Gefahrenfilter zur positiven Bilanz der Uefa Euro 2024 | |
beigetragen haben.“ Wieder keine öffentliche Aufarbeitung also. | |
## Vergünstigungen und Tracking | |
Dabei bleiben viele Fragen offen. Das betrifft nicht nur zweifelhafte KIs | |
und die derzeit teils verfassungswidrige Datei Gewalttäter Sport, in der | |
knapp 700 ausländische Fans zur EM landeten, sondern auch Live-Tracking. | |
Der BR berichtete zur EM, dass die Uefa in ihrer verpflichtenden Ticket-App | |
Bewegungen von Fans ohne deren Wissen tracke und, so war impliziert, diese | |
Heatmaps mit der Landespolizei teilte. Gefilmt wurde im Lagezentrum | |
München. | |
Kurz war die Aufregung groß. Wie diese taz-Recherche ergab, war der | |
BR-Bericht allerdings an einer zentralen Stelle falsch. Das Tracking fand | |
nicht in der verpflichtenden Ticket-App statt, sondern in der freiwilligen | |
EM 2024-App, wie Fans und Uefa bestätigen. Die Uefa schickt der taz einen | |
Screenshot, der belegen soll, dass Fans dort ihre Standortdaten informiert | |
und freiwillig teilen konnten. Da die App nicht mehr im App-Store verfügbar | |
ist, lässt sich das nicht verifizieren. | |
Trotz der fehlerhaften Recherche gibt auch dieser Eingriff Anlass zur | |
Sorge. „Eine kostenlose Fahrt am Spieltag im regionalen ÖPNV-Verbund ging | |
nur mit der App“, sagt Simon Bender von der Fanhilfe Mönchengladbach. Wer | |
Vergünstigungen wollte, brauchte die App also trotzdem. Und: „Uns wurde von | |
Fans gespiegelt, dass ihnen das Live-Tracking nicht bewusst war.“ Womöglich | |
sahen allerdings Fans beim Uefa-Hinweis nicht genau hin. Ob diese Daten | |
irgendwo gespeichert sind und wer darauf Zugriff hatte, ist unklar. | |
## „Selten die volle Wahrheit“ | |
Niemand will beteiligt gewesen sein: Die Bundesregierung verweist die | |
Verantwortung an die Uefa, die Bundespolizei sagt der taz, sie habe vom | |
Live-Tracking „keine Kenntnis“ gehabt. Linken-Politiker André Hahn | |
kommentiert: „Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Und die | |
Bundesregierung hat offen gelassen, ob die Landespolizeien das genutzt | |
haben. Die Frage hätte man ja über eine kurze Nachfrage bei den Ländern | |
beantworten können. Nach meiner Erfahrung als Abgeordneter: Wir haben | |
selten die volle Wahrheit gesagt bekommen.“ | |
Die Uefa antwortet der taz, sie habe die Daten „nur für Crowd-Management“ | |
genutzt. „Alle Standortdaten auf der Heatmap waren voll anonymisiert. […] | |
Zu keinem Zeitpunkt wurden persönliche Daten mit der Polizei geteilt.“ Auch | |
seien keine persönlichen Daten gespeichert worden. Das Bayerische | |
Innenministerium schreibt: „Diese Daten hatten für die Bayerische Polizei | |
keinerlei Relevanz und wurden zu keinem Zeitpunkt des Einsatzes erhoben, | |
genutzt oder anderweitig verarbeitet.“ Das lässt den Schluss zu, dass die | |
Landespolizei Kenntnis hatte. Das suggeriert auch eine Uefa-Antwort: „Die | |
Behörden der Austragungsstädte konnten nur die Heatmaps auf den | |
Bildschirmen und den Dashboards in den Kommandozentralen des | |
Veranstaltungsortes sehen.“ Und wozu sehen, was man nicht nutzt? | |
Mancher fürchtet, dass auch dies Türen öffnet. „Früher oder später kommt | |
ein App-Zwang auch in den nationalen Ligen“, glaubt Bender. „Von dort ist | |
es dann zu Heatmaps und Tracking nur ein kleiner Sprung.“ Bei der EM wird | |
Zukunft gemacht. Schlecht für eine Gesellschaft, deren Mehrheit glaubt, sie | |
selbst habe nichts zu fürchten. | |
15 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Rassismus-und-die-EM-2024/!6014076 | |
[2] /Deutschland-gegen-Schottland/!6017314 | |
[3] /Debatte-um-Gewalt-im-Fussball/!6043009 | |
[4] https://blogs.taz.de/society/fdp-migration-grenzkontrollen-stimmenfang-libe… | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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