# taz.de -- Comics über das Berlin der 30er Jahre: Mythischer Moloch | |
> Spanische und amerikanische Comic-Künstler zeichnen Hommagen an „Babylon“ | |
> Berlin. Bolschewisten und Frauenliebe sind darin inklusive. | |
Bild: Razziaszene aus einem Comic von Jason Lutes | |
Das Berlin der ausklingenden Weimarer Republik, vor allem in seiner | |
„babylonischen“ Ausprägung, ist mehr denn je en vogue. Nicht nur in der | |
vielgerühmten TV-Serie und der Romanvorlage von Volker Kutscher wird die | |
Stadt zur heimlichen Hauptdarstellerin. Schon in den 1990er Jahren hatte | |
das gerade wiedervereinigte Berlin plötzlich an Attraktivität gewonnen – | |
der Blick auf die Geschichte der Stadt wirkte auch inspirierend für viele | |
Comic-Künstler. Vor allem die „goldenen“ zwanziger Jahre und deren dunkle | |
Kehrseite boten sich an, um in gezeichneten Bildern wiederauferstehen zu | |
können. | |
Zwei spanische Comicautoren veröffentlichten 1992 „Berlin 1931“. Auf | |
deutsch 2001 erschienen, war es die erste Publikation des Avant-Verlags, | |
die jetzt neu aufgelegt wird. | |
Der Band – geschrieben von Felipe H. Cava, gezeichnet von Raúl (Raúl | |
Fernández Calleja) – enthält drei Comicgeschichten, die in Berlin spielen. | |
Während die zwei sehr kurzen Geschichten eher wie stilistische | |
Fingerübungen des sehr experimentierfreudigen Zeichners wirken, ist die | |
zentrale lange Geschichte „Reise nach Swinemünde“ die ambitionierteste. | |
## Der Bolschewist im Untergrund | |
Erzählt wird die Geschichte des „bolschewistischen“ Engländers Hewitt, der | |
im Berlin des Jahres 1931 polizeilich gesucht und angeschossen wird. Er | |
taucht bei einer kommunistischen Untergrundgruppe unter. Martha, | |
Drehbuchautorin, bringt ihn nach Swinemünde, um sich auszukurieren. Dort | |
verlieben sich die beiden, doch der Engländer treibt ein falsches Spiel. | |
Die Geschichte enthält wenig Berlin-Spezifisches, ist vielmehr eine | |
Fantasie zweier spanischer Künstler, die in sehr künstlichen, gespreizten | |
Dialogen von einer Zeit raunen, die schon unrettbar verseucht ist von der | |
drohenden faschistischen Gefahr. SA-Männer treten am Rande auf, und | |
korrupte Polizisten. | |
Mehr als Cavas Plot und Dialoge faszinieren die avantgardistisch | |
gestalteten Bilder von „Berlin 1931“. Der 1960 geborene Comiczeichner Raúl, | |
der auch für Zeitungen als Illustrator arbeitet, nimmt keine Rücksicht auf | |
gängige Comic-Konventionen, wechselt vom Gegenständlichen ins völlig | |
Abstrakte, spielt in malerischer Weise hie und da auf kunstgeschichtliche | |
Strömungen des 20. Jahrhunderts an, vor allem auf George Grosz, so wie auch | |
die „Berlin Alexanderplatz“-Serie Rainer Werner Fassbinders aus den 1980ern | |
anregend gewirkt haben muss. | |
## Katastrophe in rauschhaften Farben | |
Die Kaschemmen des nächtlichen Berlins werden prall dargestellt, während | |
die diffus ausgeleuchteten Straßenszenen nur entfernt an das damalige | |
Berlin erinnern. „Berlin 1931“ ist der in rauschhafte Farben getauchte | |
Traum von vor der Katastrophe. | |
Für den 1967 geborenen amerikanischen Comic-Zeichner Jason Lutes stellt | |
seine Berlin-Trilogie sein Opus Magnum dar. Er begann 1994 mit dem Zeichnen | |
an dem ersten Band „Berlin – Steinerne Stadt“, dessen Handlung 1928 | |
einsetzte. Der gerade erschienene dritte Band schließt die Geschichte ab | |
und endet mit der Machtergreifung Hitlers 1933. | |
Akribisch hat der Zeichner Bild- und Quellenmaterial zur Stadt und zu den | |
historischen Hintergründen studiert, um seine nun rund 600 Seiten lange, | |
ganz in schwarzweißer Tusche gezeichnete Graphic Novel so authentisch wie | |
möglich zu gestalten. Er verzichtet auf die Entwicklung eines geradlinigen | |
Plots, verfolgt vielmehr in parallelen Charakterstudien die Entwicklung | |
einer Reihe von Personen vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen | |
Entwicklung und konkreter Ereignisse. | |
## Die Flamme der alten Liebe | |
Im Mittelpunkt stehen Kurt Severing, ein Weltbühne-Journalist mittleren | |
Alters, und die junge, aus Köln angereiste Kunststudentin Marthe Müller. In | |
Band 1 lernen sie sich zufällig im Zug nach Berlin kennen. Ihre | |
Freundschaft entwickelt sich zur Liebesbeziehung, bis sie in Band 2, der | |
unter anderem die Weltwirtschaftskrise zum Hintergrund hat, endet, da | |
Marthe sich in eine Frau verliebt – in Anna, die sich wie ein Mann kleidet. | |
Im dritten Band, „Flirrende Stadt“, ist Severing dem Alkohol verfallen, die | |
alte Liebe zwischen ihm und Marthe flammt wieder auf. | |
Wiederkehrende historische Figuren wie Severings Chef Carl von Ossietzky | |
sowie der Dichter Joachim Ringelnatz gehören zum Ensemble. Hitlers und | |
Goebbels Aufstieg wird am Rande ebenfalls verfolgt. Durch die parallele | |
Erzählweise in verschiedenen Milieus wird ein vielschichtiges Porträt der | |
Gesellschaft gezeichnet. Deutlich wird eine resignative Grundstimmung der | |
zentralen Figuren, die entweder in offene Brutalität umschlägt oder sich | |
einfach in die allgemeine Untergangsstimmung einfügt. | |
Auf den Straßen geraten täglich Kommunisten mit Nationalsozialisten | |
aneinander. Durch Familien geht ein ideologischer Riss, der nicht zu kitten | |
ist. Die junge Kommunistin Rachel, deren Restfamilie aus Nazis besteht, | |
lebt in der Obhut einer bürgerlichen jüdischen Familie. Diese ist zunehmend | |
Hass ausgesetzt und sieht keine andere Lösung mehr, als das Land zu | |
verlassen. | |
## Hautvolee und Armut | |
Jason Lutes gelingt eine komplexe Verflechtung von Schicksalen, die | |
zusammen ein authentisches Bild Berlins kurz vor Hitlers Machtübernahme | |
ergeben. Gelungen ist vor allem der Kontrast vom ausschweifenden Nachtleben | |
der Hautevolee mit den durch viele Details sehr realistisch geschilderten | |
ärmlichen Lebensverhältnissen der unteren Schichten. | |
Etwas naiv wirkt – angesichts der ansonsten gründlichen Recherche –, wenn | |
im dritten Teil Adolf Hitler auf Joseph Goebbels trifft und diesen (seit | |
Jahren zur NSDAP und zum Umkreis Hitlers zählend und seit 1926 Gauleiter | |
für Berlin) darauf anspricht, ob er dem Sozialismus abgeschworen habe. Das | |
ist Anfang der 1930er Jahre mehr als abwegig. | |
Zeichnerisch hat Lutes den zunächst etwas hölzernen Stil, mit dem er | |
Charaktere zeichnete, weitgehend abgelegt. Oft entstehen poetische | |
Sequenzen, in denen er ganz auf Worte verzichtet, wenn sich Figuren auf den | |
Straßen voneinander verabschieden und alleine Berlin durchstreifen, oder | |
wenn ein Einblick auf das Leben in den Hinterhöfen gegeben wird. Hier | |
entsteht für den Leser wirklich eine Vorstellung vom alten Berlin. Jason | |
Lutes zeichnet ein vielstimmiges Panorama einer bleiernen Zeit, und einer | |
pluralistischen Gesellschaft, die blind auf ihren Untergang zusteuert. | |
24 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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