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# taz.de -- Choreografin Stuart über Stuart: „Der Körper ist kein Klavier“
> In Venedig erhält die Choreografin Meg Stuart am Freitag einen Goldenen
> Löwen für ihr Lebenswerk. Anlass für ein Gespräch über Transformation.
Bild: Meg Stuart tanzt inmitten von Besuchern, New York 2013
Von ihrem Kollegen Adam Linder wurde Meg Stuart einmal Erfinderin des
psychosomatischen Tanzes genannt. Sie ist für ihre hochenergetischen Stücke
bekannt, in denen die Performer*innen verschiedene Bewusstseinszustände
verkörpern. Ihre oftmals brutale Sehnsucht nach Präsenz trifft auf sehr
unterschiedliche Innenarchitekturen zwischen Bühne, Installation und
Ambiente.
2000 bis 2004 war Meg Stuart unter Christoph Marthaler am Schauspielhaus
Zürich unter Vertrag, 2005 bis 2010 unter Frank Castorf an der Berliner
Volksbühne. Im Moment verbindet sie eine Partnerschaft mit dem Berliner
Freien-Szene-Theater HAU Hebbel am Ufer. Die gebürtige Kalifornierin hat in
New York studiert, lebt mit ihrem Sohn in Berlin und betreibt in Brüssel,
wo ihre Karriere begann, die Kompanie Damaged Goods.
taz: Meg Stuart, ist es in Ordnung, wenn wir über Gefühle sprechen? Sie
können ja, wie in Ihrem Stück „Maybe Forever“ von 2007, in der Zukunft
alles wieder zurücknehmen.
Meg Stuart (singt): „Feelings, nothing more than feeeelings.“ Okay, ich bin
bereit.
Auf Ihrer Homepage gibt es jeden Tag ein anderes Motto. Heute lautet es:
„Trace the present“.
O wow!
Wo sind Sie heute aufgewacht und, ähm, wie haben Sie sich gefühlt?
(Lacht) In einem Hotel in Zürich, wo ich gerade „Shown and Told“ mit [dem
Theatermacher und Autor] Tim Etchells gezeigt habe. Aber obwohl es früh
war, fühlte ich mich recht erfrischt. Eigentlich wollte ich noch eine Runde
am See spazieren, aber … Statt dessen ging ich direkt zum Flughafen, um
nach Berlin zurückzufliegen, und kaufte dort ein Buch über Glücklichsein.
Meine neue Liebe wurde kürzlich für einen Workshop über Glück angefragt. Um
ihm näher zu sein, wollte ich mich also auch ein bisschen mit Glück
befassen.
Haben Sie neue Erkenntnisse gewonnen?
Nicht wirklich neue. Dass es nicht die Erlebnisse sind, sondern es ist die
Art, damit umzugehen, die uns glücklich macht. Immerhin brachte mich das
auf einen Gedanken: In der Jazzmusik gibt es diese Standards, das heißt
Lieder, die sehr bekannt sind, die aber immer wieder neu interpretiert
werden. Als hätten sie ein schlafendes Potenzial, das von den Musiker*innen
wachgeküsst wird. Sie zertrümmern es nicht, sondern erweitern es. Sie
bewegen sich fortwährend in diesem Zurückschauen, und indem sie Altes neu
setzen, collagieren und interpretieren, achten sie es und geben ihm
gleichzeitig einen Zukunftsmoment.
In einem Wort: Worum geht es in Ihrer Kunst? Schmerz?
Ich glaube, es geht um Akzeptanz (lacht). Zu akzeptieren, dass man nichts
in einem Wort sagen kann.
Sie sind für intensive Probenprozesse bekannt. Über mehrere Monate so eng
mit einer Gruppe zusammenzuarbeiten, muss anspruchsvoll sein. Wie gehen Sie
mit all dem, was dabei zutage gefördert wird – Gefühle zum Beispiel – um?
Welche Strategien haben Sie, um den Prozess zu einer kontrollierten
Explosion zu bringen?
Ich versuche, nicht zu versessen auf das Ergebnis zu sein, sondern jeden
Probentag als ein Ziel für sich zu betrachten. Auch das Vokabular, das wir
im gegenseitigen Austausch benutzen, spielt eine Rolle, genauso wie Raum
dafür zu schaffen, dass jeder und jede für einen gewissen Zeitraum auch mal
verloren gehen kann. In Situationen familienähnlicher Nähe ist es zudem
wichtig, die unterschiedlichen Rhythmen der Leute zu akzeptieren. Diese
polyrhythmische Situation ist Grundlage der Komposition. Und zuletzt: Ich
arbeite immer mit zwei Modellen: mit dem, was ist, und dem, was sein
könnte.
Das lässt mich an das „Two Story House“ aus Ihrem Stück „Visitors Only�…
denken, uraufgeführt 2003 in Zürich. Das Bühnenbild von Anna Viebrock war
inspiriert von den Löchern, die Gordon Matta-Clark in Gebäude schnitt. Die
zwei Storys, hatten sie mit Bewusstseinsshifts zwischen äußerer Realität
und Gefühl zu tun?
Das Stück machte ich direkt nach der Geburt meines Sohnes. Anna Viebrock
entwarf ein sehr spielerisches Haus, das mit viel Fantasie in die
Bewegungsoptionen eingriff. Es war mit seinen asymmetrischen Räumen,
unvollständigen oder zerstörten Zimmern, den Löchern sowie gewisser
Alice-im-Wunderland-Komponenten eine tolle Vorlage, um in verschiedene
Zustände gehen zu können. Es war jedoch kein psychoanalytisches Haus, mit
dem Unterbewussten unter dem Teppich etc. Es ging um die Beziehung zwischen
Haus und Körper – dem Körper nicht nur als Ausdrucksmittel, sondern auch
als Treffpunkt von Atmosphären und Energien, wo Dinge aufgespürt, kopiert,
erinnert etc. werden, wo nicht nur ich sondern auch andere durch mich
sprechen.
Für „Splayed Mind Out“, das auf der documenta X 1997 gezeigt wurde,
arbeiteten Sie zusammen mit dem Video-Künstler Gary Hill. Es heißt, es sei
Ihr letztes Stück mit konkret einstudiertem Bewegungsmaterial gewesen.
Ersetzten nun Anweisungen zum Bewegtwerden festgeschriebenes Vokabular?
Nicht ganz. Meine Methode ist eher: Mache eine Bewegung, lass dich davon
bewegen, liefere dich aus. Danach drehen wir das um. Wir eignen uns die
Bewegung an und dirigieren sie, wir verantworten sie. Die Art, sich
zwischen dem einen und dem anderen zu bewegen, Dinge zuzulassen und sie zu
formen, gestaltet den Tanz. Der Tanz ist in den Shifts, in den
Bewusstseinswechseln. Aber was bewegt uns? Gefühle, ja, sicher. Aber
„Gefühl“ wird oft als ein flaches Wort verwendet. Und es sagt nichts
darüber, wie wir uns bewegen. Das ist eine Frage der Technik, wie sich eine
Person in Beziehung zu ihrer Bewegung setzt. Ich sage immer, dass es mich
interessiert, wenn eine Bewegung ihre Bedeutung verliert.
Wenn ich es recht verstehe, wollen Sie keine Zustände schaffen, die sich
auf einen Begriff reduzieren ließen, nichts mit Bedeutung belegen. Aber es
geht Ihnen schon um etwas Bedeutsames. Woran merken Sie, dass es „da“ ist?
Wenn eine Bewegung ihre überlieferte Bedeutung verliert, schafft sie Platz
für etwas anderes. Bedeutungsvoll ist der Vorgang, etwas aus seinen
Mustern, seinem Rahmen zu befreien. Aber ich würde nicht behaupten, alles,
was ich tue, ist Bewegungen von ihren Bedeutungen zu befreien. Es ist eine
Frage der Wahl. Manchmal baust du Dinge vor dir auf und willst sie direkt
wieder zerschlagen. Bedeutung ist kein Zustand sondern eher eine Art Zug.
Es gab jedoch eine große Veränderung in meiner Arbeit der letzten Jahre.
Ich spreche inzwischen weniger von Zuständen als von Energien. Hat etwas
eine Eigenenergie und wenn ja, wie komme ich da ran? Wie können wir Energie
leiten und in eine Form bringen? Der Körper ist kein Klavier!
Sie waren ja unter Frank Castorf von 2005 bis 2010 an der Berliner
Volksbühne. Wie haben Sie die Entscheidung, Chris Dercon als dessen
Nachfolger zu berufen und dann gleich wieder rauszuschmeißen, erlebt? Wie
hat das aggressive Level der Diskussionen auf Sie gewirkt?
Sicher, nach Castorf wäre alles schwierig gewesen. Ich muss gestehen, dass
ich mich nicht allzu intensiv mit der Frage beschäftigte, was die
Volksbühne für wen repräsentiert hat und warum wer wie reagierte. Ich lebe
hier auch, aber Deutsche bin ich nicht. Diese Angelegenheit ging um etwas,
was offensichtlich mit sehr viel mehr als Fakten zu tun hatte. Um es kurz
zu machen: Die Künstler und Künstlerinnen, die Dercon einlud, fanden meine
Unterstützung. Wenn jemand mich danach fragte, sagte ich immer, dass Tanz
in den Theatern natürlich unterrepräsentiert ist. Wenn jemand das ändern
und ihm eine Bühne geben will: toll! Castorf dagegen interessierte sich ja
in letzter Zeit eher weniger für Tanz. Aber ich will mich nicht auf eine
Seite schlagen. Ich glaube nicht, dass es einen Grund dafür gibt, etwas
attackieren zu müssen.
Sie haben auf unterschiedlichsten Bühnen gearbeitet, unterschiedlichste
Formate und Räume bespielt. Gibt es etwas, an das Sie sich noch nicht
gewagt haben?
An was habe ich mich noch nicht gewagt? Schwer zu sagen. Ich habe noch
keine Oper gemacht. Aber will ich es? Was ich auf jeden Fall gerne machen
würde, ist ein improvisierter Film in einem intimen Setting, etwas im Stil
von John Cassavetes, mit jeder Menge brillanter Tanzkünstlerinnen darin.
Vielleicht kann ich eine Sache über Wagnisse sagen: Was ich in der Kunst
mag, ist der Moment, in dem Verletzlichkeit nichts Unpassendes ist, sondern
geteilte Erfahrung.
21 Jun 2018
## AUTOREN
Astrid Kaminski
## TAGS
Tanz
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Tanz im August
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