# taz.de -- Choreographin Aydin Teker in Berlin: „Ich hinterfrage mein Leben … | |
> Aydin Teker gilt als Pionierin des zeitgenössischen Tanzes in der Türkei. | |
> Ein Gespräch über Istanbul, Proteste im Gezi-Park und wachsende Ängste. | |
Bild: Gizem Aksu performt in „Hallo!“ auf dem Hometrainer | |
taz: Aydin Teker, Sie haben Istanbul nach Ihrer Emeritierung von der | |
Universität dort den Rücken gekehrt und sind in eine ländliche Gegend | |
gezogen. Ist das auch ein Rückzug aus dem Politischen? | |
Aydin Teker: Sehen Sie, ich war eine Pionierin des zeitgenössischen Tanzes | |
in der Türkei. Was das bedeutet? Dass ich nie Ferien hatte. Ich hatte weder | |
Zeit, um mich zu erholen, noch Zeit, mich aktiv in politische Themen | |
einzumischen. Als ich 10 Jahre alt war, bekam ich einen Platz im | |
staatlichen Konservatorium in Ankara. Damals gab es nicht einmal einen | |
Fernseher zu Hause. Meine Welt war Ballett, mein Horizont das Bolschoi. | |
Nach 10 Jahren Training begann ich jedoch mein Leben als Ballerina infrage | |
zu stellen. Entscheidend wurde dann die Aufführung von Kurt Jooss’ „Der | |
grüne Tisch“ in Ankara. Dieses Ereignis änderte mein Leben. Von nun an | |
investierte ich alle Energie dafür, Stipendien zum Studium des | |
zeitgenössischen Tanzes in Europa und in New York zu finden. | |
War es die Brutalität des Balletts, das einen in ein bestimmtes Körperbild | |
zwingt, von der Sie sich verabschieden wollten? | |
Ich kannte ja nichts anderes. Ich merkte erst nach und nach, als ich | |
Improvisations- und choreografische Kompositionsklassen besuchte, was mir | |
fehlte. Das war etwas anderes, als nach bestimmten Maßstäben zu | |
funktionieren. Es war hart. Ich musste so viele Mauern einreißen. Ich | |
weinte viel. Aber ich hatte Glück: Ich wurde gemocht. Mein Verlangen | |
danach, Neues zu lernen, wurde wahrgenommen. | |
Ist Ihr Umzug aufs Land letztlich ein Urlaub vom Pionierinnenleben? | |
Es ist fantastisch: ein Aufatmen, eine Meditation. Wissen Sie, Istanbul ist | |
keine lebenswerte Stadt mehr. Sie fühlen Druck von allen Seiten. Die | |
soziale Interaktion, die erwartet wird, der Lärm, der ständige | |
Verkehrsstau, der politische Druck. Das erklärt wohl auch, warum ich vor | |
fünf Jahren plötzlich im Gezipark landete … | |
2013 waren Sie noch Professorin. Stellte es kein Problem dar, als | |
Staatsangestellte die Proteste zu verfolgen? | |
Selbstverständlich. Ich habe den Studierenden verboten, sich in meiner Nähe | |
aufzuhalten. Sie haben sich daran gehalten. Sie waren wirklich süß! Und | |
überhaupt: Die Stimmung unter den jungen Menschen in Gezi war wundervoll. | |
Sie machten sauber, lasen Poesie, sie stifteten ein Gefühl der | |
Zusammengehörigkeit. Sie berührten mich. Die Bäume, die sie vor dem | |
Abholzen beschützen wollten, waren für mich zum Symbol ihrer Zukunft | |
geworden, und diese Zukunft haben sie beschützt und verdient! | |
Wie sah Ihr Alltag zu jener Zeit aus? | |
Ich lebte nur zwei Bushaltestellen vom Taksim-Platz entfernt, ich kam also | |
täglich am Park vorbei, er war Teil meiner näheren Umgebung. Obwohl ich | |
nicht das Gefühl hatte, dass das, was dort stattfand, für mich war, mir | |
galt, hatte es eine magische Anziehung. Aber ich machte mir auch Sorgen. | |
Meine Tochter arbeitete damals im Divan Hotel, das die jungen Leute sehr | |
unterstützte. Und da ich in der Nähe und damit im Bereich des ständig | |
eingesetzten Tränengases wohnte, musste ich immer wieder auch in meine | |
Wohnung zurück, um nach den Katzen zu sehen. Sie hatten einen Ausgang durch | |
das Fenster. | |
Das erinnert mich an eine Geschichte von Oya Baydar, der „Grande Dame“ der | |
engagierten türkischen Literatur. Darin gibt es den Kater „Tschapul“, | |
abgeleitet von den Schimpftiraden des damaligen türkischen | |
Ministerpräsidenten, der die Gezi-Aktivist*innen „Tschapulierer“, | |
Marodeure, nannte. – Das ist nur ein Beispiel für die vielen Symbole, | |
Begriffe und sprachlichen Wendungen, die sich in jener Zeit entwickelt | |
haben. Welche haben auf Ihr Leben und Arbeiten Auswirkungen gehabt? | |
Abgeleitet von den Gasmasken, die damals allgegenwärtig waren, habe ich mit | |
einer Künstlerin an Masken für andere Körperteile gearbeitet. Sie hängen | |
nun in meiner Wohnung, als würden sie sagen: We will not shut up! | |
Die Dinge haben sich trotzdem ins Negative gewendet. | |
Ja, rasend schnell haben sie sich verändert. Alles, was wir sagen, kann | |
jetzt gefährlich sein. Ich habe zum Beispiel Angst davor, meinen Pass zu | |
verlieren. Darum muss ich aufpassen, was ich sage. Das geht nicht nur mir | |
so. Das geht sehr vielen so. Menschen verlieren ihre Jobs und niemand weiß, | |
warum. Daher möchte ich auch noch einmal betonen, dass ich kein politischer | |
Mensch bin. Mein Wunsch war es, zeitgenössischen Tanz in der Türkei zu | |
etablieren. Dafür habe ich all meine Zeit verwendet und es ist diese Zeit | |
in den Studios, die Kreativität, die dort entsteht, die mir wichtig ist. | |
Es scheint mir, dass Ihre Performance „Hallo!“ mit der Sie jetzt nach | |
Berlin kommen, diesen Widerspruch thematisiert. Sie handelt von einem | |
Körper, der durch sämtliche Zustände des Nicht-gehört-Werdens geht. | |
Gleichzeit findet „Hallo!“ auf einem Heimtrainer statt. | |
Ein wichtiger Gedanke für das Laufband war auch die Erfahrung der | |
Horizontalität. Plötzlich fiel mir auf, wie vertikal meine Art des | |
Unterrichtens war. Ich habe Studierende an ihre Quellen wie an Götter | |
herangeführt. Aber um zu überleben, müssen sie ganz anders, viel vernetzter | |
und gewissermaßen auf viel oberflächlichere Weise denken. Wenn sie | |
künstlerisch arbeiten wollen, schreiben sie einen Antrag, worin steht, wie | |
viele Mitwirkende es gibt, wer die Kostüme, wer die Musik macht, wie viel | |
es kostet. Wenn sie sich wirklich mit etwas beschäftigen, es wirklich | |
verdauen wollen, werden sie ständig den Zug verpassen. Sie müssen | |
Konsumisten sein und es mit dieser Realität aufnehmen. Aber das kann ich | |
ihnen nicht beibringen. | |
Würden Sie jungen Menschen empfehlen, ebenfalls aufs Land zu ziehen? | |
Nein! Aber viele wollen es tatsächlich. Alle Menschen in der Türkei wollen | |
derzeit aufs Land ziehen. Alle sehnen sich nach einem besseren, freieren | |
Leben. Ist das nicht überall so? | |
Bestimmte Tendenzen sicherlich. Aber nicht überall ist die Lebensqualität | |
so akut gefährdet wie in der Türkei. Eine Situation, in der Menschen | |
massenweise ihre Jobs verlieren, staatlich angestellte Lehrer*innen mit | |
Booten nach Griechenland flüchten, in der das Geld in wenigen Tagen um 40 | |
Prozent an Wert verliert … | |
Ja, aber das kann anderswo auch sehr schnell passieren. Wenn wir genau | |
hingesehen hätten, wäre uns in der Türkei schon viel früher klar gewesen, | |
dass wir etwas unternehmen müssen. Aber wir haben es nicht getan. Wir haben | |
unsere Werte nicht genügend verteidigt. Wir sind alle dafür verantwortlich. | |
Ich fühle mich verantwortlich. Und ich fühle mich schlecht. Ich hinterfrage | |
mein Leben neu: Habe ich den Studierenden wirklich zugehört? Habe ich | |
meiner Tochter zugehört? In dieser Hinsicht ist mein Stück „Hallo!“ für | |
mich wie eine Selbstbefragung über meine Fähigkeit zuzuhören und damit eine | |
Praxis, die ich mit möglichst vielen Menschen teilen möchte. | |
22 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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