# taz.de -- Buch von Dominique Pelicots Tochter: Aufgewachsen mit einem Monster | |
> Caroline Darian ringt in ihrem neuen Buch mit dem Unvorstellbaren: Wie | |
> konnte sie einen Vater lieben, der ein Vergewaltiger ist? | |
Bild: Caroline Darian mit ihrem Bruder David Pelicot vor dem Gerichtssaal nach … | |
Widersprüche sind schwer auszuhalten. Noch schwerer ist es, sie miteinander | |
zu vereinbaren. Etwa, einerseits einen liebenden Vater gehabt zu haben, der | |
andererseits zu Monströsem in der Lage war? Ein Vater, der mit dir als Kind | |
schöne Radtouren fuhr und gleichzeitig seiner Frau Furchtbares antat. Ein | |
Vater, der mit seinen Enkeln am Pool tanzte, ein Vater, der die Mutter | |
[1][vergewaltigte]. | |
Diese Arbeit der Vereinbarung macht [2][Caroline Darian] in ihrem Buch „Und | |
ich werde dich nie wieder Papa nennen“. Darian bezeichnen viele auch als | |
die große Vergessene im [3][Pelicot-Prozess], einem der erschütterndsten | |
Kriminalprozesse Frankreichs. Caroline Darian ist Gisèle und Dominique | |
Pelicots Tochter. | |
In einem Tagebuch, das am 1. November 2020 beginnt und dem 28. November | |
2021 aufhört, lange vor dem Gerichtsprozess, gewährt Darian Einblick in | |
ihre Psyche und ihre Perspektive auf die Geschehnisse, die bald die ganze | |
Welt verfolgen werden. | |
Der 1. November ist der Tag, an dem ihr der Boden unter den Füßen | |
weggezogen wird, der Tag, an dem ihr mitgeteilt wird, was ihr Vater | |
verbrochen hat. Ein augenscheinlich ganz gewöhnlicher Arbeitstag, bis | |
Carolines Mann, den die Mutter wenige Stunden vorher bereits informiert | |
hatte, sie bittet, am Küchentisch Platz zu nehmen. | |
„Ich schaue in diesem Augenblick auf die Backofenuhr. Es ist 20 Uhr 25, in | |
weißen Ziffern. Eine bezifferte Grenze. Ich heiße Caroline Darian und | |
erlebe gerade die letzten Sekunden eines normalen Lebens.„Ab da beginnt der | |
Albtraum, den man sich kaum vorstellen könnte, wären da nicht Darians | |
Worte. Dominique Pelicot hat seine Frau Gisèle mehr als 10 Jahre lang | |
betäubt, vergewaltigt und zur Vergewaltigung angeboten. | |
## Aufschreiben war therapeutisch | |
Ab dem 1. November 2020 kommen immer mehr neue scheußliche Erkenntnisse | |
hinzu, immer mehr Vergewaltiger, immer mehr Unvereinbares – all das verwebt | |
Darian mit Szenen aus ihrer Kindheit oder glücklichen Erinnerungen an das | |
Haus in Mazan, in das ihre Eltern mit dem Renteneintritt zogen. Szenen, die | |
einen eiskalt erwischen, weil man sie nicht kommen sieht, weil sie nicht | |
zum Jetzt passen. | |
„Ich sehe uns noch beim Grillen, bei unseren Diskussionen, das Gelächter, | |
unsere lustigen Apéros, die späten Abendessen, die manchmal mit Musik oder | |
einem Tanzwettbewerb endeten, manchmal auch mit lauten Runden Trivial | |
Pursuit oder Money Drop.“ | |
All das aufzuschreiben, ist für Darian therapeutisch, schreibt sie. Das | |
merkt man: Auf den Seiten entblößt sie ihre Gefühlswelt, hält vor nichts | |
zurück, analysiert die eigene Familie, wankt zwischen Trauer, Ekel und Wut, | |
auch Sorge um den Vater findet vereinzelt Platz, und besonders Liebe zu | |
ihrem Sohn, dem sie ein gutes Vorbild sein möchte. | |
Auch er kämpft ab dem 1. November mit dem großen Widerspruch. Wenige Tage | |
später beginnt ein neuer Albtraum: Die Polizei findet unter den 20.000 | |
Dateien auch Bilder der schlafenden Caroline in fremder Unterwäsche auf der | |
Festplatte ihres Vaters. Darian ist sich sicher, betäubt worden zu sein, in | |
einer so seltsamen Position liege sie auf dem Foto da. | |
Bis heute weiß sie nicht, ob sich ihr Vater auch an ihr vergangen hat. | |
Dominique Pelicot streitet es ab. Der Gerichtsprozess gab ihr keine | |
Antworten, sie ist die Vergessene. Da ausgerechnet die eigene Mutter | |
Caroline nicht glaubt, als sie ihre Befürchtung preisgibt, bricht eine | |
weitere Welt zusammen. Noch ein Widerspruch, den Darian aushalten muss. | |
Das Buch handelt auch davon, wie ein Keil in die Mutter-Tochter-Beziehung | |
getrieben wurde. Weil Gisèle, was Caroline betrifft, scheinbar einen Weg | |
der Verleugnung ging – und weil die Manipulation des Vaters bestehen | |
bleibt, auch lange nachdem er nicht mehr bei der Familie, sondern im | |
Gefängnis lebt. | |
Inwieweit diese Zustände über Jahre hinweg angehalten haben, wird nicht | |
einsichtig, schließlich gibt es eine große Lücke zwischen damals und jetzt. | |
Seit 2022 ist das Buch auf Französisch erhältlich, nach Prozessende auch | |
auf Deutsch. | |
Inzwischen hat sich viel getan. Caroline Darian ist Aktivistin. Mit ihrem | |
Kollektiv „M’endors pas“ macht sie aufmerksam darauf, was man in Frankrei… | |
chemische Unterwerfung nennt, die Verabreichung von Substanzen, um ein | |
Opfer wehrlos und handlungsunfähig zu machen, um so Straftaten an ihm zu | |
begehen. Das, was Dominique Pelicot ihrer Mutter und mutmaßlich auch | |
Caroline Darian selbst angetan hat. | |
Das Buch ist größer als die eigene Geschichte. Es zeigt Lücken im System, | |
wie mit Opfern umgegangen wird, wie man nach traumatisierenden | |
Polizeiverhören allein gelassen wird und dass man keine angeordnete | |
psychiatrische Unterstützung bekommt. | |
Darian hatte das Glück, dass ihre Cousine, die Ärztin ist, sie und ihre | |
Familie beraten konnte: „Wie machen das die Frauen, die nicht so ein Glück | |
haben? Wenn die medizinische Versorgung, die einen im Rahmen eines | |
Gerichtsprozesses eigentlich unterstützen sollte, so katastrophal ist, wie | |
soll man da nur eine Sekunde die Hoffnung haben, wieder auf die Beine zu | |
kommen?,“ fragt sie sich. | |
Caroline Darians Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie vielschichtig | |
familiäre Strukturen sind, die auf der Oberfläche klar erscheinen. Sie | |
zeigt, wie komplex Personen und Beziehungen bleiben, auch wenn man stärker | |
denn je mit Kategorien wie „gut“ und „böse“ konfrontiert ist. Vor allem | |
macht ihre Geschichte begreifbar, wie eine einzige Person so viele | |
Widersprüche auszuhalten in der Lage ist. | |
16 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Valérie Catil | |
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