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# taz.de -- Autobiografisches Buch über Missbrauch: Schreiben nach dem Schock
> Eine #MeToo-Erzählung: Die Bremer Autorin Jutta Reichelt hat ein so
> schonungsloses wie wunderbares Buch über sich und ihre Familie
> geschrieben.
Bild: Jutta Reichelt hat zehn Jahre an einer Autobiografie geschrieben, die es …
Beim lauten Nachdenken über Literatur ist es selten klug – und nie
besonders einfallsreich – mit dem ersten Satz zu beginnen. Aber es lässt
sich nun auch nicht vermeiden, dass jeder Gedanke über [1][Jutta Reichelts]
neues Buch einen wieder zum Anfang führt: „Ich habe mich über nahezu alles
Wichtige in meinem Leben geirrt“, lautet der. Besonders drastisch ist diese
fundamentale Selbsterkenntnis, weil es sich bei [2][„Mein Leben war nicht,
wie es war“] um eine Autobiografie handelt. Und eben eine Untersuchung
darüber, warum es die eigentlich gar nicht geben kann.
Im Kern steht dieser Wendepunkt: Als längst erwachsene Frau in ihren
Vierzigern realisiert Reichelt, dass sie als Kind von ihrem Vater sexuell
missbraucht wurde und bricht zusammen. In einem zähen Prozess beginnt sie
Stück für Stück das Bild dessen zu revidieren, was sie bis dahin für eine
verhältnismäßig normale Kindheit gehalten hat. Zehn Jahre lang schreibt sie
– und sortiert: frühe Ticks und Lebenskrisen, viel zu viel [3][Alkohol] und
viel zu wenig Vertrauen in sich selbst und in ihre Partnerschaft.
In frühen Therapien und auch in Phasen literarischer Selbstreflexion stößt
sie immer wieder an einen sonderbaren Punkt: Viel von dem, was da
schiefläuft, würde schon irgendwie Sinn ergeben, wenn sie zum Beispiel
traumatisiert wäre oder sowas – aber das ist sie ja nicht. Wovon denn auch?
## Schonungslos gegen sich selbst
Die Taten selbst, der Täter, vergebliche Hilfsversuche von außen, aber auch
die empathielose Rolle der eigenen Mutter – all das kommt im Buch zur
Sprache, ist beklemmend und mitunter erschütternd. Noch nachhaltiger wirkt
beim Lesen aber Reichelts Schonungslosigkeit gegenüber sich selbst, den
eigenen Schwächen und ihrer Unsicherheit.
Sitzt man ihr heute gegenüber, ist das kaum mehr vorstellbar. Sie strahlt
eine nachdenkliche Ruhe aus, die sich ganz sicher auch aus diesem Text
speist, der nach einem Jahrzehnt nun endlich fertig ist. Sie spricht auch
nicht von Wut, sondern reflektiert Schicht um Schicht, wie sich Wahrheit
und Text um ein Paradox drehen: ein falsches Leben geführt zu haben, das
aber ja doch ihr Leben ist – und darum eben auch wahr.
Auch wenn „Mein Leben war nicht, wie es war“ als intime subjektive
Erschütterung beginnt, kommt so ein Buch schließlich inmitten
gesamtgesellschaftlicher Debatten zur Welt: Während Jutta Reichelt
schreibt, erschüttert [4][#MeToo] den sexistischen Normalbetrieb von
Kultur- und Arbeitswelt. Als das Buch schließlich erscheint, diskutiert die
Welt über die schweren Vergewaltigungen Gisèle Pelicots, über „ganz normale
Männer“ und [5][die falsche Scham] der Opfer.
„Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt“: Der Satz
ist umso verblüffender, weil Jutta Reichelt der Wahrheit lange vorher dicht
auf der Spur war. Ihr Text verhandelt auch, wie [6][ihr vorheriges
Schreiben], vor allem aber ihr Lesen, das Thema seit jeher umkreisen:
Pierre Bourdieu und die Fallstricke des Biografischen etwa türmen sich in
ihren Regalen, aber auch Psycholog:innen und Zeugnisse, eben,
traumatischer Erfahrungen.
Tatsächlich stellt Reichelt während der Arbeit nach dem Schock fest, das
fast alles längst da ist: in Büchern, Artikeln, Skizzen und Exzerpten,
teils gründlich durchgearbeitet und verstanden – nur eben nie im
entscheidenden Sinne von ihr auf sich selbst bezogen.
So unfassbar das alles ist, fällt es erstaunlich leicht, über
unterschiedlichste Erfahrungen an Reichelts Buch anzuknüpfen. Existenzielle
Krisen sind ja nicht auf sexuellen Missbrauch beschränkt. Tatsächlich
bekomme sie, erzählt Reichelt, zurzeit viel Rückmeldung von Menschen, die
sich auch in ganz anderen Problemlagen verstanden fühlen.
## Literatur der Ordnung
Sicherlich schadet es der Lesbarkeit des Buchs nicht, dass eine
professionelle Schriftstellerin diese Geschichte erzählt. Die literarische
Qualität dieses Textes – und es ist eine hohe – liegt aber weniger im
handwerklichen Gebrauch einschlägiger Stilmittel als in der intellektuellen
Ordnung, die Text ins brodelnde Chaos bringt. Immerhin geht es um eine
Geschichte über Verdrängung, die sich also mit Klauen und Zähnen dagegen
wehrt, überhaupt erzählt zu werden.
Nicht wenige dieser Zwänge kommen von außen: politische Fragen um die
mediale Überpräsenz von Tätern etwa. Oder [7][ob ein Gewaltakt dem
Spannungsaufbau dienen darf]. Und als der Missbrauch zum ersten Mal im Text
erscheint, fragt schon die Kapitelüberschrift, ob es sich hier wirklich um
eine Schlüsselszene handle. Was folgt ist die Geschichte eines dreijährigen
Mädchens, das sich panisch dagegen wehrt, mit ihrem Vater allein ins
Badezimmer zu gehen. Jahrzehnte später hat Jutta Reichelt über ihren Bruder
davon gehört, im Text spricht sie von „seiner Schwester“, mit großem
Abstand zum „ich“.
Endlos oft habe sie diesen Text neu sortiert, erzählt Reichelt, Passagen
verworfen und andere neu gerahmt. Am Ende steht nun ein schlanker Text,
luzide und unmissverständlich – obwohl er gerade die endlosen
Verschachtelungen von Erinnerung, Traumata, Gewalt und seelischer
Zerrüttung zum Thema hat.
Das Schwergewicht des Themas mag den Blick auf die sprachliche Gewandtheit
dieser Erzählung noch ein bisschen verstellen, aber das wird noch kommen.
Und bis dahin steht als kleines Happy End die Erfahrung, dass auch
Reflexion und Analyse manchmal versöhnen können mit der Welt. Wenn man denn
erst so weit gekommen ist, in aller gebotener Widersprüchlichkeit zu
akzeptieren: „Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben
geirrt.“
17 Mar 2025
## LINKS
[1] /Bremer-Autorin-ueber-Brueche-im-Lebenslauf/!5019150
[2] https://www.kroener-verlag.de/books/mein-leben-war-nicht-wie-es-war.html
[3] /Suchtmittel-in-Deutschland/!6062252
[4] /Schwerpunkt-metoo/!t5455381
[5] /Vergewaltigungsfall-in-Frankreich/!6052202
[6] /Bremer-Autorin-ueber-Brueche-im-Lebenslauf/!5019150
[7] /Hype-um-Wahre-Verbrechen/!5972495
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Literatur
Autobiografie
Schwerpunkt #metoo
sexueller Missbrauch
Trauma
Bremen
Familie
Social-Auswahl
Pelicot-Prozess
Roman
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