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# taz.de -- Hype um Wahre Verbrechen: True Crime trifft True Trauer
> Auf der CrimeCon kommen jedes Jahr Tausende zusammen, um ihre
> Leidenschaft auszuleben. Was passiert, wenn Angehörige der Mordopfer
> dabei sind?
Orlando taz | Als Stacy Chapin den großen Konferenzsaal der CrimeCon in
Orlando, Florida, betritt, stößt sie einen Schrei aus. Fast 3.000 Menschen
sind hier zusammengekommen, um der forensischen Analyse eines
Collegeprofessors aus Alabama zu lauschen. Der Gegenstand: die brutale
Ermordung von Chapins Sohn Ethan und drei seiner Collegefreunde vergangenes
Jahr in Idaho.
Rasch zieht sich Stacy Chapin in eine Nische zurück und hört der Diskussion
weiter zu. Während der Redner zunächst den Namen der Freundin ihres Sohns –
auch sie ist eines der Mordopfer – falsch ausspricht und dann völlig
danebenliegt bei der Landschaftsbeschreibung rund um den Tatort, murmelt
sie leise vor sich hin. Die Zuhörer:innen sind ganz in den Bann gezogen
von den Ausführungen des Mannes, Chapin hingegen beschließt, den Saal durch
eine Nebentür wieder zu verlassen.
„Warum darf diese Person vor all diesen Leuten über mein Kind sprechen?“
flüstert sie auf dem Flur. Und fragt sich dann: „Sollte ich auf die Bühne
gehen?“
Zehn Monate ist es an diesem Tag im September 2023 her, dass Stacy Chapin
sich von heute auf morgen im Mittelpunkt der landesweiten Obsession für
True Crime wiedergefunden hatte. Heerscharen von Podcast-Hörer:innen,
Internet-Kommentator:innen und Amateurdetektiv:innen waren
ganz vernarrt gewesen in das Rätsel um den Mord an Ethan Chapin und drei
anderen Studierenden der Universität von Idaho, die eines Nachts in einem
Haus in der Nähe des Campus erstochen worden waren. Seitdem ist seine
Mutter unfreiwillige Berühmtheit in einer für sie unbekannten Welt und auf
der Suche nach einer Möglichkeit, die Begeisterung, die der Mord an ihrem
Sohn bei einigen Menschen ausgelöst zu haben schien, für etwas Gutes zu
nutzen.
Chapin ist Gast der CrimeCon – einer Veranstaltung, auf der Teilnehmende
nach Erwerb eines Tickets für 349 US-Dollar Blutspritzer messen, die
Zeichnungen eines Serienmörders analysieren, ihren Held:innen bei der
Verbrechensbekämpfung zujubeln und die blutigen Details berüchtigter
Vergewaltigungen und Morde in sich aufsaugen dürfen. Die jährlich
stattfindende Konferenz, zu der in diesem Jahr 5.000 Menschen aus allen 50
Bundesstaaten angereist sind, profitiert vom steilen Wachstum des
True-Crime-Genres: In den USA haben aktuell im Schnitt mehr als die Hälfte
der 20 meistgehörten Podcasts auf der Apple-Plattform einen
True-Crime-Bezug.
Einige Besucher:innen beschreiben vor Ort ihre schiere Faszination für
die Denkweise Krimineller; andere behaupten, sie empfänden tiefes Mitgefühl
mit den Opfern und hielten es für verlockend, dass betroffene Familien
durch die Anstrengungen der True-Crime-Community endlich Gerechtigkeit
erfahren könnten – vorausgesetzt, jemand stelle die richtigen Fragen oder
finde den fehlenden digitalen Hinweis. Angehörige einiger dieser Familien
haben sich ebenfalls angemeldet, stellen Material zur Verfügung und
erzählen ihre Geschichten. Überglücklich darüber, dass die Leute bereit
sind, zuzuhören.
In der Ausstellungshalle buhlen verschiedene Unternehmen um Aufmerksamkeit.
Eines bietet Kaffee der Marke True Crime an, während es einen Tisch weiter
laut knallt: Besucher:innen testen dort Elektroschocker. Eine
Tatortreinigungsfirma hat einen blutverschmierten Pappkarton aufgebaut; in
der Fotobox gleich daneben kann man sich vor einem Hintergrund ablichten
lassen, der mehrere durchnummerierte Mordverdächtige an der Wand einer
Polizeiwache zeigt. Stacy Chapin zuckt zusammen und wendet sich ab, als auf
einem Fernsehbildschirm Bilder des Mannes auftauchen, der beschuldigt wird,
ihren Sohn getötet zu haben.
Auf der CrimeCon kommt das Publikum ganz nah dran an die Stars des Genres:
Ein Youtuber macht Selfies mit Camille Vasquez, Anwältin des Schauspielers
[1][Johnny Depp im Prozess gegen dessen Ex-Frau Amber Heard]. Daneben
stehen Dutzende Schlange, um den ehemaligen „Cold Case“-Detective Paul
Holes zu treffen. Und auf der CrimeCon-Willkommensparty spielt
Creighton Waters – leitender Staatsanwalt im Prozess um den Mordfall gegen
Anwalt [2][Alex Murdaugh] aus South Carolina – auf der Gitarre den Song
„Brown-Eyed Girl“.
Stacy Chapin sei nie eine True-Crime-Anhängerin gewesen und verstehe, offen
gesagt, auch nicht den Reiz, sagt sie. Die Berichterstattung und die
öffentliche Diskussion über den Mord an ihrem Sohn habe sie im vergangenen
Jahr weitgehend gemieden. Doch sei ihr in den ersten Tagen nach der Tat
bewusst geworden, welche Macht diese Community habe und wie effektiv sie
sich mobilisieren und organisieren könne – manchmal auf alarmierende Weise.
Sobald sich der Fall ihres Sohns über ein breites Netzwerk von
Youtube-Kanälen, Tiktok-Persönlichkeiten und Facebook-Gruppen verbreitet
hatte, seien die True-Crime-Spürnasen vollends gefesselt gewesen von diesem
Rätsel aus Idaho. Denn dem Mörder war es gelungen, unbemerkt in die Nacht
zu entschwinden, nachdem er vier Menschen auf zwei Etagen eines
Mietshauses erstochen hatte. Da es keine Verdächtigen gab und die Polizei
um Hinweise bat, machten sich Tausende von Onlinedetektiven an die Arbeit.
Sie luden Karten der Nachbarschaft und Grundrisse des Wohnhauses von
Chapins Sohn hoch, sie analysierten Fotos des Gebäudes, darunter eines, von
dem einige glaubten, es zeige Blut an den Außenmauern. Sie durchforsteten
alle Interaktionen auf sozialen Medien und nahmen Frame für Frame das Video
eines Twitch-Livestreams auseinander, in dem zwei der Opfer Stunden vor
ihrer Ermordung an einem Imbisswagen zu sehen waren. Im Anschluss stellten
sie eine Reihe von Theorien auf: dass ein Ex-Freund das Verbrechen
begangen hatte, oder ein Mitbewohner der Opfer, oder ein Nachbar, der zum
Fall Interviews gegeben hatte, oder ein Mann in einem Kapuzenpulli, der im
Hintergrund des Twitch-Videos aufgetaucht war.
Einige der „Verdächtigen“ – es waren überwiegend trauernde
Collegestudierende, deren einzige echte Verbindung zur Tat ihre
Freundschaft mit den Opfern war – wurden über Nacht zu angeblichen
Verbrechern. Stacy Chapin erinnert sich an ihre Wut, als sie erfuhr, dass
darüber spekuliert wurde, ob ihr Sohn die Gräueltat als Teil eines perfiden
Selbstmordplans begangen haben könnte.
Selbst nachdem ein echter Verdächtiger verhaftet worden war – Bryan K., ein
Doktorand der Kriminologie an einer nahegelegenen Universität – arbeiteten
die Möchtegerndetektive weiter an alternativen Theorien. Die
Staatsanwaltschaft hatte da längst DNA-Beweise und Handy-Ortungsdaten
vorgelegt, die den Mann mit dem Verbrechen in Verbindung brachten.
Für Stacy Chapin und einen Großteil der Universitätsgemeinde in der
Kleinstadt Moscow, Idaho, hatte der Mord eine Welle des Schocks und der
Trauer ausgelöst.
Nun hofft sie, dass ihre Anwesenheit auf der CrimeCon die Menschen daran
erinnert, wie es ihr als Mutter ergangen ist. Außerdem hat sie sich
vorgenommen, mit anderen Opferfamilien in Kontakt zu treten, die sich wie
sie selbst nach Gemeinschaft sehnen. Und sie hofft auf Unterstützung für
eine Stiftung, die zu Ehren ihres Sohns Collegestipendien vergeben soll.
Stacy Chapin hat es noch nicht mal geschafft, ihren Ausweis für die
Konferenz abzuholen, da kommt eine Frau auf sie zu und umarmt sie unter
Tränen. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Im Grunde ein Detektiv“,
dankt Chapin für deren Güte und bekundet ihr Beileid für den Tod Ethans.
Die CrimeCon organisiert auch Treffen für Angehörige von Verbrechensopfern.
Chapin besucht eines davon und lernt dort die Familie von [3][Gabby Petito]
kennen. 2021 war die junge Frau bei einem Roadtrip quer durch die USA von
ihrem Verlobten getötet worden. True-Crime-Liebhaber:innen hatten bei
dem Fall tatsächlich glänzen können: Nachdem die Familie auf sozialen
Medien um Hilfe gebeten hatte, waren Tausende Hinweise eingegangen, die
schlussendlich zum Fund der Leiche geführt hatten.
Alles in allem, resümiert Chapin gegen Ende der Konferenz, habe sie auf dem
Kongress mit vielen Menschen gesprochen, die ihr Hilfe angeboten und ihr
Buch gekauft hätten. „The Boy Who Wore Blue“ ist ein Kinderbuch über Etha…
das sie kurz nach seinem Tod schrieb. Um die Geschichte ihres Sohns zu
erzählen, habe sie sich in den letzten Tagen auch immer wieder unter die
Journalist:innen gemischt. Vier Sitzungen auf der Konferenz waren, wenn
auch nur zum Teil, der Diskussion über den Fall aus Idaho gewidmet.
Als Chapin die Vorlesung zur forensischen Analyse des Professors aus
Alabama verlässt, findet sie Zuflucht in einer privaten Lounge. Dort sitzt
der Gründer der CrimeCon, Kevin Balfe. Chapin erklärt ihm, wie
nervenaufreibend es für sie gewesen sei, jemanden Unbekanntes, der
offensichtlich nicht einmal alle Details kenne, vor so einem großen
Publikum über die Morde sprechen zu hören. „Da sind so viele Leute drin“,
erzählt sie ihm. „Das schockt mich.“
Der Vortrag sei einer der größten Attraktionen der Konferenz, entgegnet ihr
Balfe. Und versichert, viel Zeit damit verbracht zu haben, herauszufinden,
wer dieses erst so kürzlich begangene Verbrechen, das auch noch so viele
Menschen brennend interessiere, präsentieren könne. Eine gerichtlich
verordnete Nachrichtensperre hätte verhindert, das übliche Panel aus
Staatsanwält:innen, Ermittler:innen und Familienmitgliedern
zusammenzustellen.
Balfe erklärt, Joseph Scott Morgan, Forensikprofessor an der Universität
von Jacksonville und Host des True-Crime-Podcasts „Body Bags“, ausgewählt
zu haben, weil er überzeugt sei, dass dieser nicht in Sensationslust
verfalle. Und dann gibt der CrimeCon-Gründer zu, sich schon länger gefragt
zu haben, was passieren würde, wenn Chapin einfach in diese Sitzung platze.
„Ich wünschte, ich hätte Sie vorab angerufen und gesagt: Gehen Sie da nicht
rein“, sagt er.
Chapin räumt ein, dass ihre Anwesenheit auf der CrimeCon sicherlich einiges
verkompliziere. Nach wie vor ist sie unschlüssig: Sollte sie zurück in den
Saal und auf die Bühne gehen?
Sie geht wieder hinein. Auf der Bühne beantwortet der Professor gerade
Fragen aus dem Publikum. Kann die am Tatort gefundene Messerscheide mit der
DNA des Verdächtigen im Prozess berücksichtigt werden?
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt stellt sich Chapin in eine der
Schlangen vor den Mikrofonen im Publikum und wartet, dass sie an die Reihe
kommt. Dann bittet der Professor um ihre Frage. „Mein Name ist Stacy
Chapin, und ich bin Ethans Mutter“, beginnt sie. Die Menge staunt, dann
brandet Applaus auf. Einige erheben sich, um Fotos zu machen.
Chapin spricht nur kurz, ihre Stimme zittert. Sie wolle, dass das Publikum
wisse, dass all die positiven Dinge, die über die Opfer bisher gesagt
worden seien, der Wahrheit entsprächen. „Vergessen Sie diese Kinder nicht“,
sagt sie. „Sie waren wunderbare, wunderbare Kinder, in der Blüte ihres
Lebens.“ Als sie geht, wird sie von Menschen umringt, die sie umarmen, ihr
über den Rücken streichen und erzählen, warum ihnen der Mordfall Ethan
Chapin so viel bedeute.
Der Moment, sagt sie danach, sei empowernd gewesen. Sie hoffe, dass er bei
den Leuten nachhalle, insbesondere wenn sie die nächste Folge ihres
liebsten True-Crime-Podcasts konsumierten. „Auf einer gewissen Ebene ist es
natürlich reine Unterhaltung“, sagt Chapin. „Aber dahinter steckt ein
echtes Gesicht. Hinter diesen Geschichten stehen echte Menschen. Vergessen
Sie das nie.“
Der Text ist zuerst in der [4][New York Times vom 8. Oktober 2023]
erschienen. Übersetzung aus dem Englischen von Leonie Gubela
26 Nov 2023
## LINKS
[1] /Depp-gegen-Heard-vor-Gericht/!5850663
[2] /Die-Murdaugh-Morde-bei-Netflix/!5918465
[3] /Der-Fall-Gabby-Petito/!5803406
[4] https://www.nytimes.com/2023/10/08/us/crimecon-true-crime-idaho-murder-stac…
## AUTOREN
Mike Baker
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