# taz.de -- Forscherin über True-Crime-Formate: „Faszination für das Echte�… | |
> Psychologie von Täter_innenschaft, Bedürfnis nach Gerechtigkeit: | |
> Forscherin Christine Hämmerling erklärt, was True-Crime-Formate so | |
> reizvoll macht. | |
Bild: Teilnehmerinnen auf der CrimeCon, einem Kongress für wahre Verbrechen, i… | |
wochentaz: Der Klischee-Sonntagabend eines Deutschen beginnt mit der | |
„Tagesschau“, im Anschluss läuft „Tatort“. Warum wollen sich so viele … | |
Nachrichten über Krieg und Krisen noch Mord und Totschlag anschauen, Frau | |
Hämmerling? | |
Christine Hämmerling: Kurz gesagt gehen die Nachrichten mit dem „Tatort“ | |
weiter. Denn der „Tatort“ ist ein Spezialformat. Er ist nicht nur eine | |
fiktive Kriminalgeschichte, sondern hat den erklärten Anspruch, aktuelle | |
gesellschaftliche Fragen zu thematisieren und damit das Publikum zum | |
Reflektieren einzuladen. Dieser Anspruch führt dazu, dass Zuschauer_innen | |
am nächsten Tag über den Krimi im Büro sprechen. Einfach, weil er Themen | |
behandelt, die die Leute bewegen. | |
Ist diese Liebe zum Krimi etwas spezifisch Deutsches? | |
Auch im skandinavischen Raum gibt es eine ausgeprägte Liebe zum Krimi, in | |
anderen Ländern existieren eher Mischformen mit anderen Genres. In | |
Deutschland gibt es einen großen Markt für den klassischen Krimi, der aus | |
der Perspektive eines Ermittlerteams erzählt wird. Das liegt am relativ | |
großen Vertrauen der Deutschen in den Rechtsstaat, das nicht überall | |
gegeben ist. | |
Während der „Tatort“ vorrangig von einem älteren Publikum geschaut wird, | |
stehen Jüngere eher auf das Genre [1][„True Crime“] – also Podcasts, | |
Serien, Filme und Bücher, die von wahren Verbrechen erzählen. Seit dem | |
[2][US-amerikanischen Podcast „Serial“ von 2014] über den Mord an einer | |
Schülerin in Baltimore spricht man von einem Hype. Aber ist das überhaupt | |
eine neue Entwicklung? | |
Neu ist, dass sich der Markt durch internationale Streamingdienste | |
erweitert hat. True Crime ist mittlerweile aber auch einfach ein Dach, | |
unter dem immer mehr gefasst wird. Was früher mal eine Dokumentation war, | |
ist heute gleich True Crime. Die Idee des Edutainment hat in den 1970ern | |
Fahrt aufgenommen. Seitdem hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass man | |
Nachrichten und reale Dinge mit unterhaltenden Aspekten vermischen darf. | |
Immer mehr Unterhaltungsformate haben zugleich wiederum den Anspruch, dass | |
sie etwas mit der Realität zu tun haben. | |
Weil uns Reales mehr fasziniert als Fiktives? | |
Ja, es gibt einfach eine Faszination für das Echte. Doch uns begeistert | |
nicht unbedingt der Mord an sich, sondern eher die Frage, was bei | |
Ermittlungen verpasst oder falsch gemacht wurde. Das Publikum verspürt den | |
Wunsch, „hinter die Kulissen“ zu schauen. | |
In den Produktionen kommen Täter_innen, Opfer, Journalist_innen oder die | |
Polizei vor. Für wen sollen wir Sympathie entwickeln? | |
Manche Formate wollen provozieren und nehmen absichtlich die Perspektive | |
des Täters ein, spielen also damit, sich mit ihm zu identifizieren. Andere | |
Formate fokussieren Angehörige und Opfer. Das schafft Nähe und wirkt | |
legitimierend, weil Opfer gehört werden müssen. Am häufigsten wird aber die | |
journalistische, investigativ erforschende Perspektive eingenommen. Auch | |
sie stellt ein Identifikationsangebot für uns dar. Im Idealfall ist die | |
„Ermittler_in“ eine sympathische Figur, die wir auch als Charakter | |
interessant finden. In letzter Zeit sind das immer häufiger Frauen. | |
Oft sind Frauen nicht nur die Ermittlerinnen, sondern auch die Opfer in den | |
Geschichten. Und sie sind ein Großteil des Publikums. Warum ist das Genre | |
so weiblich besetzt? | |
Das Genre Krimi ist schon lange weiblich konnotiert. Bei Umfragen zu | |
True-Crime-Hörer_innen bin ich immer ein bisschen skeptisch, weil die Frage | |
ist, was genau dem Genre zugerechnet wird und was nicht. Diese | |
Auseinandersetzung mit der Psychologie von Täterschaft – vielleicht finden | |
Frauen das spannender als Männer. Grundsätzlich denke ich aber, dass | |
Empathie mit den Opfern und der Wunsch nach Gerechtigkeit etwas | |
grundsätzlich Menschliches ist. | |
Empathie und Gerechtigkeit sind sehr positive Werte. Viele argumentieren, | |
es sei moralisch nicht richtig, sich durch [3][wahre Verbrechen | |
unterhalten] zu lassen. | |
Das ist ein Diskurs, dem ich schon bei meinen Tatort-Studien begegnet bin. | |
Damit ich mich durch etwas unterhalten oder gut fühlen darf, braucht es in | |
unserer Gesellschaft eine Art ethische Legitimierung. Dabei existieren | |
verschiedene Varianten. Eine ist Aufklärung, also die Idee, Fällen | |
Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie gelöst werden können. So wie bei der | |
ZDF-Sendung [4][„Aktenzeichen XY… Ungelöst“]. Das andere ist, eine | |
Perspektive zu einem Kriminalfall zu ergänzen, die bisher nicht publik | |
gemacht wurde. Bei historischen Events kann es darum gehen, Narrative | |
geradezurücken. Nicht zuletzt können True-Crime-Erzählungen eine Warnung | |
sein, damit ähnliche Fälle nicht wieder passieren. Neue Formate müssen ja | |
aber nicht immer nur Mordfälle behandeln, sondern sie können genauso gut | |
Betrug, Sekten oder andere kriminelle Zusammenhänge thematisieren. | |
Doch führt das nicht dazu, überall Gefahren zu sehen? Schließlich wird das | |
Sicherheitsgefühl der Deutschen immer schlechter, obwohl Straftaten weniger | |
werden. | |
Was wir als Unterhaltung konsumieren, kann sich grundsätzlich auf unser | |
Erleben der Alltagswelt auswirken. Natürlich heißt das nicht, dass Frauen | |
immer, wenn sie in der Dunkelheit einen Weg entlanglaufen, glauben, dass | |
sie getötet werden. Aber es kann dazu führen, Dunkelheit schneller als | |
Angstraum zu begreifen, weil ich das aus fiktiven Formaten so kenne. | |
Dazu kommen die möglichen Auswirkungen auf potenzielle Täter_innen. Gibt es | |
den viel befürchteten Effekt der Nachahmung? | |
Bei jedem Krimi gibt es die Möglichkeit, dass potenzielle Täter_innen auf | |
Ideen gebracht werden. Das Nachahmungspotenzial wird ja nicht kontrolliert, | |
lediglich Altersbeschränkungen können gesetzt werden. Zugleich könnte True | |
Crime auch eine kanalisierende Wirkung haben, wie wir das aus der Forschung | |
zu Ego-Shootern kennen. Das Spiel kann für die Spielenden eine Möglichkeit | |
sein, Aggressionen rauszulassen. Ich denke aber, dass die meisten | |
True-Crime-Erzählungen eigentlich so gestaltet sind, dass nicht das | |
Verbrechen das Befriedigende ist, sondern das gerechte Aufklären. | |
Das heißt, die heftigen Warnungen vor True Crime sind nicht gerechtfertigt? | |
Das kommt auf die Art der Warnung an. Wenn Angehörige beklagen, dass sie | |
ungerecht behandelt worden seien während der Recherche, dann ist das | |
unbedingt ernst zu nehmen. In der Debatte um True Crime sieht man außerdem, | |
dass gesellschaftlich der Eindruck vorherrscht, dass Menschen, die | |
Gewaltverbrechen begangen haben, ihr Recht über das eigene Narrativ ein | |
Stück weit verwirkt hätten. Gerade wenn Menschen nicht mehr am Leben sind, | |
ist die Freiheit, Geschichten zu fiktionalisieren, noch größer. Aber | |
allgemeine Warnungen vor True Crime stützen sich meist auf Kritik an | |
einzelnen Formaten, wie der Netflix-Serie über den Serienkiller [5][Jeffrey | |
Dahmer], die besonders drastisch sind, und verlieren dabei die Breite des | |
Genres aus dem Blick. | |
Glauben Sie, der Hype um True Crime wird irgendwann enden? | |
Ich war schon fasziniert, dass er sich überhaupt so lange hält. Aber | |
inzwischen gehe ich davon aus, dass das Genre sich einfach noch weiter | |
ausdifferenzieren wird. Was natürlich passieren kann, ist, dass True Crime | |
irgendwann als Label so sehr nach den 2010er Jahren klingt, dass man es | |
nicht mehr nutzen möchte. Aber ganz vorbei sein wird es nie. Wir werden | |
immer von Verbrechen fasziniert sein. | |
26 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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