| # taz.de -- Buch über die Geschichte der USA: Für einen neuen Amerikanismus | |
| > Jill Lepore ruft einen „guten“ Nationalismus auf, um den bösartigen zu | |
| > bekämpfen. Dabei verkennt die Historikerin aber entscheidende Punkte. | |
| Bild: USA und Freiheit – das war mal fast ein Synonym | |
| Geschichte wird meist als [1][Nationalhistorie] geschrieben, auch wenn die | |
| Welt zum digitalen Dorf geworden ist, grenzüberschreitende Abhängigkeiten | |
| zunehmen und Nationalstaaten drinnen an Steuerungs- und draußen an | |
| Regulierungsvermögen einbüßen. Namentlich Historiker sind dem nationalen | |
| Referenzrahmen verhaftet, dem sie wissenschaftsgeschichtlich ihr Ansehen | |
| verdanken und dessen Narrativ sie ausstaffiert haben. | |
| An der Nation, die [2][Tony Judt] einmal als eine Institution bezeichnet | |
| hat, die man erfinden müsste, wenn es sie nicht längst gäbe, hängen viele | |
| Identitätskonstrukte, an sie richten sich Ansprüche auf materielle | |
| Sicherheit und individuellen Schutz. | |
| Fast tausend Seiten Text, hundert Seiten Anmerkungen und eine ganze | |
| Bibliothek selbstständig verarbeiteter Literatur: Das Buch „Diese | |
| Wahrheiten“ (aus der Präambel der amerkanischen Verfassung) ist ein ganz | |
| großer Wurf der Harvard-Historikerin Jill Lepore, die bestlesbare | |
| Geschichte der Vereinigten Staaten in einem Band, mit hochinteressanten | |
| Episoden und Seitenlinien, die man auch andernorts (und anders bewertet) | |
| lesen konnte, aber selten so elegant und einleuchtend. | |
| Ihre Methode ist, „die Toten selbst erzählen zu lassen“, und so lernt man | |
| nicht nur George Washington, sondern auch dessen Sklaven Harry Washington | |
| kennen, der von Mount Vernon über Kanada nach Sierra Leone entfloh. | |
| ## Rückzug in die Echokammmern | |
| Wer die (ungewöhnliche) Nation Amerika verstehen möchte, muss Lepore lesen, | |
| die ihr erzählerisches Talent auch als ständige Autorin des New Yorker zur | |
| Geltung bringt. Das Buch führt in vier Kapiteln von der Erfindung Amerikas | |
| 1492–1799 über die Bildung eines amerikanischen Volkes 1800–1865 und der | |
| Festigung des US-Staates 1866–1945 bis hin zur „Maschine“ 1946–2016, wo… | |
| die politischen Apparate gemeint sind, die per Meinungsumfrage, | |
| Parteispenden und Politikberatung den demokratischen Prozess beeinflussen | |
| und häufig verfälschen. | |
| Lepore konzentriert sich auf die politische Geschichte und das (nicht | |
| zuletzt religiöse) Alltagsleben der Vereinigten Staaten und skizziert eine | |
| Medien- und Kommunikationsgeschichte des Landes, auch um zu zeigen, welchen | |
| Schaden der heutige Rückzug in Echokammern anrichtet. Politische Ökonomie | |
| und Soziologie fand sie weniger interessant, da es ihr um die | |
| Verwirklichung republikanischer Gleichheit geht. | |
| Mit Christoph Columbus zu starten, wenn man eine 1776 gegründete Nation | |
| beschreibt, treibt manchem Postkolonialen sicher den Zorn ins Gesicht, in | |
| der jüngsten Gegenwart mit Trump zu enden, verstößt ebenso gegen den | |
| historiografischen Comment. Doch der schmale Folgeband „This America“ | |
| begründet diese weitgespannte Mission: Lepore will einen „neuen | |
| Amerikanismus“ begründen. | |
| So tituliert sie einen liberalen Nationalismus, der Trumps von vielen | |
| Vorläufern übernommene illiberale Variante korrigiert, also nicht auf | |
| Rassentrennung beruht, sondern auf der „Nationalisierung“ der universalen | |
| Menschenrechte. | |
| Die USA waren zuerst ein Staat, Nation wurden sie über die | |
| verfassungspatriotische Inklusion der Ureinwohner, der Afroamerikaner, | |
| Katholiken und farbigen Immigranten, die bekanntlich stets umkämpft und | |
| unvollkommen blieb. Vieles, was in „diesen Wahrheiten“ niedergelegt ist, | |
| wurde in „diesem Amerika“ zum bloßen Fetzen Papier. | |
| Für Lepore bleibt die Nation gleichwohl ein Axiom, als die einzig reale | |
| Machtinstanz, bei der ein bedrohtes Individuum seine Rechte einklagen kann. | |
| Nichts garantiert allerdings, dass der „gute“ (inklusive, weltoffene, auf | |
| Menschenrechte gestützte) Nationalismus am Ende stets über den „bösen“ d… | |
| xenophoben Exklusion und des Strebens nach weißer Suprematie obsiegt. | |
| Lepores Durchgang legt eher das Gegenteil nah. Ihr Held ist Abraham | |
| Lincoln, aber die Geschichte ist voller politischer Schurken von Andrew | |
| Jackson bis Richard Nixon. | |
| Und natürlich Donald Trump, der Barack Obamas und Elizabeth Warrens | |
| Loyalität zur Nation und damit das Rückgrat der liberalen Inklusion in | |
| Zweifel zog, nämlich das Territorialrecht aller in den USA geborenen | |
| Bürger, das Trump ganzen Kohorten von Einwanderern entziehen möchte. | |
| Der Rest der Welt bleibt auch bei Lepore weitgehend Kulisse. Dabei ist | |
| Amerika die exemplarische „transnational nation“, wie es der progressive | |
| Intellektuelle Randolph Bourne im Ersten Weltkrieg formuliert hat. Schon | |
| damals war die unterstellte Alternativlosigkeit des Nationalen brüchig in | |
| einer Weltgesellschaft, in der heute nicht nur erneut ein | |
| völkisch-autoritärer Nationalismus um sich greift, sondern planetare | |
| Probleme eindeutig die Steuerungsmöglichkeiten einzelner Nationen | |
| überschreiten. | |
| ## Eine gute, eine böse Version | |
| Lepores Absicht, den „guten“ Nationalismus herauszustellen, um den | |
| bösartigen niederzuringen, verkennt, dass die grassierende Xenophobie eine | |
| Reaktion eben darauf ist, [3][dass Nationalstaaten] die gewünschte | |
| Sicherheit und Identität heute objektiv nicht mehr verbürgen können. | |
| Als Europäer fühlte man sich von diesem „America first“ mit freundlichem | |
| Antlitz befremdet, wäre da nicht die implizite Lehre: Europa könnte ebenso | |
| als Neue Nation funktionieren, nicht nach demselben Muster, aber auf | |
| analoge Weise, durch Verdichtung der Interaktions- und Kommunikationsräume, | |
| die, wie der aus Prag stammende Politologe Karl W. Deutsch schon vor langer | |
| Zeit demonstriert hat, ethnische Binnengrenzen durchkreuzen. | |
| Lepore zitiert gern Ernest Renan, den französischen Theoretiker der Nation, | |
| aus seiner Sorbonne-Rede 1882: Nationen seien nicht von ewiger Dauer, „sie | |
| beginnen und werden irgendwann enden“. Den ersten Halbsatz hat die | |
| Historikerin am amerikanischen Sonderfall mustergültig nachvollzogen, den | |
| zweiten jedoch kaum in Erwägung gezogen. | |
| 15 Jan 2020 | |
| ## LINKS | |
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| ## AUTOREN | |
| Claus Leggewie | |
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