# taz.de -- Tony Judt ist tot: Der Historiker Europas | |
> Mit seinen Vorträgen entflammte der sozialdemokratische Historiker die | |
> Gemüter seiner Kritiker und wurde durch seine Haltung zu Israel berühmt. | |
> Er starb mit 62 Jahren. | |
Bild: "Europa" galt Tony Judt als Chiffre: Für die Notwendigkeit sozialstaatli… | |
Tony Judt ist tot. Es ist der seltene Fall, wo einer solchen Nachricht – | |
selbst bei denjenigen, bei denen sie Betroffenheit oder Trauer auslöst –, | |
auch ein Moment von Erleichterung anhaftet. Erleichterung ist vielleicht | |
das falsche Wort, aber es gibt ein Aufatmen, dass dieses Leiden zu Ende | |
gegangen ist. | |
Denn Tony Judt, der in London geboren wurde, in Paris studierte, zuletzt in | |
New York lebte und lehrte und nun im Alter von 62 Jahren starb, war nicht | |
nur ein bekannter Historiker und ein berühmter Intellektueller mit einem | |
bedeutenden Lebensweg. Er hatte auch eine schier unfassbare | |
Leidensgeschichte. Seit zwei Jahren war er aufgrund einer seltenen | |
Nervenkrankheit vom Kopf ab gelähmt — der drahtige Mann, der stets in | |
Bewegung gewesen war. | |
Nichts charakterisiert seine Persönlichkeit besser, als die Art, in der er | |
sich selbst von da an als "moderne Mumie", als "Bündel toter Muskeln, das | |
denkt" bezeichnete. Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt stellte er | |
sich als "original talking head" vor. Ja, er ist noch aufgetreten als | |
sprechender Kopf und er hat noch weitergeschrieben, also diktiert — bis | |
zuletzt. So veröffentlichte er nicht nur Berichte von seiner Krankheit, | |
sondern 2010 auch noch ein ganzes Buch. "Ill Fares the Land" ist ein Buch, | |
das nicht nur vom Chronologischen her als sein Vermächtnis gelten kann. | |
Dem Befund, dass es den Vereinigten Staaten — eigentlich der gesamten | |
westlichen Welt — schlecht gehe, steht eines der Hauptthemen Judts | |
gegenüber: der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit als einziger | |
Möglichkeit für eine lebenswerte Gesellschaft. Wobei seine Vorstellung von | |
einer solchen Gerechtigkeit sich von zwei Grenzen her definiert: er setzt | |
sie sowohl gegen den Kleptokapitalismus neoliberaler Prägung als auch gegen | |
jede Form des totalitären Utopismus ab. Kurzum — Tony Judt war ein | |
Sozialdemokrat nach dem Ende der klassischen Sozialdemokratie, ein | |
utopischer Sozialdemokrat gewissermaßen. | |
Gegen Totalitarismus | |
Zentral war Judt der Sozialstaat als Verdichtung sozialer, politischer und | |
historischer Momente. Im Sozialstaat laufen auch die verschiedenen Stränge | |
seines Denkens zusammen. In seinem Buch "Postwar" (deutsch: "Die Geschichte | |
Europas von 1945 bis zur Gegenwart") kommt er zu dem Fazit, dass der | |
Sozialstaat jene Institution sei, die die effizienteste gesellschaftliche | |
Integration leisten könne: Er ist nicht nur eine Form des ökonomischen | |
Ausgleichs, sondern auch ein Bollwerk gegen den Totalitarismus. Das sei | |
eine der Lehren aus dem schrecklichen 20. Jahrhundert. Dafür steht auch | |
sein Buch mit dem programmatischen Titel. | |
Programm war "Postwar" auch insofern, als dem Buch ein jahrelanges | |
Forschungsprojekt voranging, das west- und osteuropäische ebenso wie | |
amerikanische Historiker in Wien zusammenbrachte. Zwei Jahre war ich dabei | |
Judts Assistentin. Er kam nur fallweise von New York, wo er an dem von ihm | |
gegründeten Remarque Institute lehrte, nach Wien. "Postwar", das war | |
schlussendlich die Lehre, dass es nur eine Rettung vor und nach der | |
totalitären Katastrophe gebe — die sozialstaatliche Demokratie, also all | |
das, was sich für Judt in dem Namen "Europa" verdichtete. | |
Deshalb muss sich das Projekt und das Konzept Europa von der Erinnerung | |
speisen, von der Erinnerung an die Katastrophe, von der Erinnerung an den | |
Holocaust. Und Tony Judt war der Historiker dieses Europas. Er war dafür | |
bestens gerüstet. Als Sohn säkularer Juden, die antikommunistische | |
Sozialdemokraten waren, war er schon von seiner Biografie her ein | |
Brennpunkt dieser europäischen Geschichte. Und es ist vielleicht | |
bezeichnend, dass der renommierte Historiker Judt erst durch seine Haltung | |
zu Israel richtig berühmt wurde. Für manche auch berüchtigt. | |
Zionist, dann Binationalist | |
Traditionell säkular-jüdisch erzogen, war er in jungen Jahren ein glühender | |
Linkszionist und ging 1967 nach dem Sechstagekrieg nach Israel. Dort | |
vollzog er eine Wendung. Er kritisierte Israel fortan nachhaltig, sowohl | |
dessen Politik, als auch dessen Selbstverständnis als jüdischer Staat. Nun | |
trat er für einen binationalen, israelisch-palästinensischen Staat als | |
einzigen Ausweg in einer Welt zunehmend komplexer Identitäten ein. | |
Das löste schon einige heftige Reaktionen aus. Aber wirklich kontrovers | |
wurde es, als Judt zum vehementen Kritiker des amerikanischen Judentums | |
wurde. Legendär wurde die Absage seines Vortrags "Die Israel-Lobby und die | |
amerikanische Außenpolitik" drei Stunden vor Beginn, erzwungen durch | |
Interventionen der Anti Defamation League. | |
Aber nicht nur nicht gehaltene Vorträge entflammten die Kritiker. Als er im | |
Juni 2007 in Wien einen Vortrag unter dem Titel "Is Israel (still) good for | |
the Jews?" hielt, mussten wir Saalschutz anfordern. In der ersten Reihe saß | |
sein damals 10-jähriger Sohn. In der Diskussion meldete sich dieser zu | |
Wort: "Als dein Sohn habe ich miterlebt, wie du als Antizionist und als | |
Jude voller Selbsthass kritisiert wurdest. Haben diese Leute einfach nur | |
Angst zuzugeben, dass Israel auf einem falschen Weg ist oder glauben sie | |
immer noch an Israel?" | |
10 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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