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# taz.de -- Buch über Sucht und Prekarität: Fixierung auf die eigene Scholle
> Im Suchkreislauf der Selbstfindung: Nina Bußmann verwirrt in ihrem Roman
> „Dickicht“ kunstvoll die Erzählfäden.
Bild: Bußmanns Figuren sind verloren auf dem selbst verstelltem Terrain
Eine Frau, Ruth, ist im Krankenhaus. Weswegen, lässt sich so leicht nicht
sagen; ein Unfall oder ein Sturz vielleicht, Ursache unklar. Sie beobachtet
die Patientinnen im gemeinsamen Zimmer. Nach der Entlassung gabelt eine
Unbekannte, die Therapeutin Katja, sie auf und nimmt sie mit zu sich nach
Hause.
Zwischendurch wechselt die Perspektive zu Max, einem jungen Mann, der, wie
sich herausstellt, als Praktikant in einer Integrationskita arbeitet und
eine Zwillingsschwester namens Edna hat, die wiederum eine Ausbildung in
der Hotellerie macht. Auch Max und Ruth kennen sich offenbar, hatten so
etwas wie eine Affäre, vor allem aber haben sie [1][miteinander getrunken.]
[2][Nina Bußmanns dritter Roman], „Dickicht“, ist nicht weniger, als der
Titel verspricht. Ein Gestrüpp von Erzählperspektiven, in dem die Leserin
verloren zu gehen droht – bis sie langsam lernt, sich im Unterholz zu
orientieren. Bußmanns Technik erinnert an eine Kamera, die stets nur das
nächstliegende Bild scharf stellt. Die in der jeweils dritten Person
erzählten streams of consciousness schweifen zurück in die Vergangenheit,
hüpfen zum nächsten Gegenstand der Betrachtung, lassen sich treiben oder
werden getrieben.
Nicht einmal die erzählte Zeit ist vor lauter Rückblenden und
Nebengeschichten klar zu umreißen; sie ist gezielt aus den Fugen. Keine
Vogelperspektive verschafft Überblick, die Kapitelnummerierung scheint
willkürlich, eine Struktur, die den Wechsel zwischen Ruth, Max und Katja
begründet, sucht man vergeblich.
## Kunst und Leben
Aus der Haltlosigkeit, die die 1980 in Frankfurt geborene Autorin
erzählerisch kunstvoll zu fassen versucht und der sie vielleicht
notgedrungen selbst erliegt, resultiert ein weiteres Thema, das sich
antagonistisch aufdrängt: der Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen.
Am deutlichsten wird diese Dialektik bei Katja, die ihre Klientinnen
beruflich dabei unterstützt, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, die
vielleicht aber auch selbst Hilfe gebrauchen könnte. Zumal ihre Ehe mit dem
zwanghaften Intervallfaster Milan, der sein Übergewicht weitaus
erfolgreicher bekämpft hat als Katja, im Scheitern begriffen ist.
In dieser Situation freundet sie sich mit der Alkoholikerin Ruth an: „Keine
unter ihren Freundinnen, dachte Katja, ließ sie sich derart lebendig
fühlen.“ Zeitweise konsultiert Katja ihrerseits eine Heilerin, Kerrith,
eine der eher seltenen Stellen, an denen der Roman Komik entfaltet, wenn
Katja bei der Kollegin mit geübtem Blick Anzeichen der Verwahrlosung
registriert: „Offensichtlich bekam sie die Dinge des Alltags nicht in den
Griff.“
Während bei Katja das Thema des Romans deutlich ausbuchstabiert wird,
scheint Max dem Pendeln zwischen Rausch und Regeln restlos ausgeliefert.
Und während Katja auf andere weitaus schärfer blicken kann als auf sich
selbst, sind Max die anderen so rätselhaft wie er sich selbst: etwa das
Wutmädchen und Pflegekind Cara (eine „Systemsprenger“-Wiedergängerin) oder
seine Schwester, um die er sich sorgt, mit der er sich unbewusst
vergleicht. Eher beiläufig erfährt man, dass Max ständig überteuerte
Selbstfindungsseminare bucht, anscheinend ein eigener Suchkreislauf. Der
ihn nicht davor bewahrt, am Ende des Buches buchstäblich auf den Kopf zu
fallen.
## Stolz auf die Probleme
„Die eigene kleine Scholle bestellen. Grandiosität, Ideen von höherer
Bestimmung, Stolz auf undurchdringliche Probleme: All das gehört zur
Struktur der süchtigen Persönlichkeit“, heißt es über einen der Besucher
der Guttemplergruppe, der Ruth sich zeitweilig anschließt.
Tatsächlich scheint sie, die definiert Süchtige, die dem Alkohol gegenüber
die Kontrolle auf- und sich selbst dem Rausch anheimgegeben hat, ihr Leben
weitaus klarer und autonomer zu führen als die beiden anderen, die die
Beziehung zu ihr suchen und sich in Co-Abhängigkeit begeben, eine Struktur,
die der der Sucht frappierend ähnelt: „Co-Abhängige übernehmen keine
Verantwortung für den anderen. Sie arbeiten für sich und ihr kleines
Ökosystem.“ Trinken oder Nichttrinken sind vergleichsweise überschaubare
Kategorien.
Vielleicht deshalb nimmt Ruths Perspektive auch den kleinsten Raum im Buch
ein und den größten als Projektionsfläche für die Ängste und Sehnsüchte d…
anderen.
Bis zum Schluss erfordert die Lektüre von „Dickicht“ hohe Konzentration,
zumal Nina Bußmann Fremdtexte über verschiedene Strategien des Maßhaltens
einschleust, von der gewaltfreien Kommunikation bis zur traditionellen
chinesischen Medizin. Außerdem drohen Katjas Klientinnen, Max’ Familie und
Ruths Mitsüchtige aus der AA-Gruppe zeitweise fast zu Hauptfiguren
aufzusteigen; ihre Geschichten variieren und verwirren den Plot zugleich.
Auch wenn Bußmanns ausschweifend abbildende Erzählökonomie im Verlauf der
Lektüre als Widerstandsmodus gegen den Teufelskreis von Sucht und Kontrolle
verstanden werden kann: Sie ist so erschöpfend und selbstverausgabend wie
Katjas und Max’ Fixierung auf das eigene Selbst.
5 Aug 2020
## LINKS
[1] /Autorin-und-Barbesitzerin-ueber-Alkohol/!5557493
[2] https://www.literaturport.de/Nina.Bussmann/
## AUTOREN
Eva Behrendt
## TAGS
Sucht
Roman
Autorin
Psyche
wochentaz
Literatur
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