# taz.de -- Samantha Schweblin „Hundert Augen“: Überwachen und kuscheln | |
> Die argentinische Autorin schreibt Geschichten wie unbehagliche Träume. | |
> In ihrem aktuellen Roman geht es um ferngesteuerte Plüschtiere. | |
Bild: Man versteht genau, warum Menschen sich auf dieses schräge Spiel einlass… | |
Neuerdings verschenkt Samanta Schweblin gern altes Miniaturspielzeug. Auf | |
[1][ihrem Instagram-Account] hat die argentinische Autorin, die seit | |
einigen Jahren in Berlin lebt, das Foto eines winzigen Plüschvogels | |
geteilt. Sie finde die Tierchen auf Flohmärkten, schreibt Schweblin, wenn | |
man sie danach fragt, und sie kämen ihr vor wie Glücksbringer aus | |
vergangenen Zeiten. | |
Nun wird es Menschen geben, die den Anblick dieses abgewetzten Kuscheltiers | |
schlicht unschuldig und hübsch finden. Aber auch Menschen, die sofort an | |
Überwachung oder Terror denken, weil sie „Hundert Augen“ gelesen haben, so | |
heißt Schweblins neuer Roman. | |
In ihm geht es um eine Gesellschaft im Bann einer simplen, aber perfiden | |
Erfindung: nämlich um Plüschtiere mit integrierten Kameras, um Pandas, | |
Häschen und Eulen mit elektronischen Eingeweiden, durch deren Augen ein | |
Mensch irgendwo auf dem Planeten den Tierbesitzer beobachten, sogar mit ihm | |
interagieren kann, im Einverständnis beider Teilnehmer. | |
Die Spielzeuge, genannt Kentukis, bewegen sich – gesteuert vom Menschen auf | |
der anderen Seite der Verbindung – auf rudimentären Rollen und können | |
schnurren, quieken und kreischen, nicht aber sprechen. Wollen die Besitzer | |
mit ihren Kentukis reden, müssen sie sich auf Morsezeichen oder andere | |
Tricks verständigen. | |
## Kind oder Sexualstraftäter? | |
Mit wem man diese Schicksalsgemeinschaft eingeht; ob hinter dem Bildschirm | |
ein Kind oder ein Sexualstraftäter sitzt, kann man sich beim Kauf eines | |
Kentukis nicht aussuchen. Der Zufall entscheidet, und pro Tier wird nur | |
eine Verbindung verkauft. Kappt einer von beiden die Verbindung, ist der | |
Kentuki tot. Das Verblüffende: Nach 252 Seiten versteht man sehr genau, | |
warum Menschen ihre Privatsphäre aufgeben, um sich auf dieses schräge Spiel | |
einzulassen. | |
Samanta Schweblin selbst, geboren 1978, besitzt keine sprechenden Apparate, | |
keinen „Amazon Echo“ oder sonstiges. „Ich mag die Stille zu sehr. Deshalb | |
werde ich es immer vorziehen, eine Taste zu drücken, anstatt mit lauter | |
Stimme Anweisungen zu geben“, schreibt Schweblin. Passend zu einem Roman | |
über das seltsame Verhältnis von Fremdheit und Intimität im Netz | |
unterhalten sich Schriftstellerin und Journalistin per Mail. | |
Seit fast 20 Jahren schreibt Schweblin Geschichten wie unbehagliche Träume, | |
die einen beunruhigen, ohne dass man sich genau an ihren Plot erinnert. In | |
ihren Erzählungen im Grenzbereich zwischen Alltag und surrealistischem | |
Schauermärchen verschlingen Mädchen lebendige Vögel oder packen unablässig | |
Kisten, um ihr Verschwinden vorzubereiten. | |
Ihr Roman „Das Fieber“, in dem eine sterbende Frau im Krankenhaus einem | |
fremden Jungen ihr Leben erzählt, stand 2017 auf der Shortlist des [2][Man | |
Booker International Prize]. Manchen gilt Schweblin als wichtigste | |
lateinamerikanische Autorin ihrer Generation. | |
## Menschen werden zu Kentukis | |
In „Hundert Augen“ erzählt sie von Menschen, die sich Kentukis als | |
Alltagsbegleiter halten, und Menschen, die zu Kentukis werden. Manche | |
wollen der Enge ihres Alltags entkommen oder sich nicht mehr allein fühlen, | |
andere sind Voyeure oder Sadisten. Da ist die Pensionärin Emilia aus Peru, | |
die in Gestalt eines Kaninchens zu ihrer jungen Kentuki-Herrin ein fast | |
mütterliches Verhältnis entwickelt. | |
Der Halbwaise Marvin aus Guatemala wird zum Drachen, der sich im | |
norwegischen Honningsvåg auf die Suche nach Schnee begibt, dabei aber die | |
Lust an seinem Offline-Leben verliert. „In drei Wochen würde es die Noten | |
geben, und sie würden grauenhaft ausfallen“, heißt es im Buch, „aber gera… | |
war Marvin kein Junge mehr, der einen Drachen besaß, sondern ein Drache, | |
der einen Jungen in sich trug.“ | |
In Italien findet der alleinerziehende Vater Enzo in seinem Kentuki, den er | |
rührend höflich mit „Mister“ anspricht, einen treuen Unterstützer im | |
Haushalt, während Alina im mexikanischen Oaxaca all ihre Frustration an | |
einer Plüschkrähe auslässt: Weil sie sich in der Künstlerresidenz, in die | |
sie ihren Freund begleitet, ihrer Durchschnittlichkeit bewusst wird, | |
verstümmelt sie ihren Kentuki – bis er so defizitär aussieht, wie sie sich | |
fühlt. | |
## Der gesichtlose Nutzer wird eine zarte Gestalt | |
Die Spielzeuge übernehmen in „Hundert Augen“ eine seltsame Funktion: Sie | |
schenken dem gesichtslosen Nutzer eine lustige, zarte, schützenswerte | |
Gestalt. „Weil ein Kentuki nicht sprechen kann, wird die Person hinter ihm | |
in gewisser Weise zum Haustier“, mailt Schweblin. Die Idee habe sie | |
interessiert, weil Haustiere ein Spiegelbild unseres menschlichen | |
Bewusstseins seien. „Sie beobachten, wie wir leben, und bestätigen uns | |
darin, dass wir real sind.“ | |
„Hundert Augen“ spielt in 25 verschiedenen Städten. Einige Handlungsorte | |
kannte Samanta Schweblin von Reisen oder Festivals, andere erkundete sie – | |
wie die Kentukis im Roman – durch die Augen von Kameras vor Ort. Schweblin | |
erzählt, wie sie einen Ladenbesitzer in Honningsvåg anschrieb, ihm die | |
Funktionsweise der Kentukis erklärte und ihn fragte, ob sich so ein | |
mechanisches Tier in einer bestimmten Straße seiner Stadt wohl ohne Hilfe | |
auf dem Bürgersteig fortbewegen könnte. Nach einer Woche antwortete der | |
Unbekannte: Ja, das klappt. Also rollte Marvins Drache im Roman | |
selbstständig durch Honningsvåg. | |
Für alle Handlungsstränge hatte Schweblin eigene Recherchehelfer vor Ort. | |
Außerdem traf sie Spezialisten für Netz- und Drohnentechnik. Sie wollte | |
sichergehen, dass die Apparate mit heute gängigen Vorrichtungen | |
funktionieren würden. „Es gibt nichts an einem Kentuki, dass noch nicht | |
existiert oder nicht technisch möglich ist“, sagt Schweblin. | |
## Smart Toys | |
Eine echte Dystopie ist ihr Roman nicht, allein die rechtliche Lage weicht | |
von der Realität ab. Sogenannte Smart Toys, die zur heimlichen Ton- oder | |
Bildaufnahme genutzt werden können, sind in Deutschland und anderen Ländern | |
verboten. In Schweblins gar nicht so ferner Welt treiben die Kentukis von | |
Taipeh bis Sierra Leone ihr Unwesen. | |
Um die Tiere entsteht ein Pandämonium der Begleiterscheinungen: Fankulte, | |
aufgekratzte Medienberichte, Hacker, die gegen Bezahlung eine | |
Kentuki-Verbindung an exklusive Orte versprechen, und sogar eine | |
Kentuki-Befreiungsfront. | |
Schweblin ist dabei weder für moralische Bewertungen noch für | |
Technikpessimismus zu haben. Die altprofessorale Idee, den Online-Quatsch | |
doch einfach zu lassen, wenn man nicht von anonymen Arschlöchern | |
drangsaliert werden will, muss gar nicht weiter diskutiert werden. In jeder | |
Episode gibt es Momente, die sehr plausibel machen, was die Kentukis ihren | |
Nutzern schenken können, aber auch, wie schnell Begehrlichkeiten und | |
Verpflichtungsgefühle, Allmachtsfantasien und blanker Hass gegenüber | |
Fremden entstehen. | |
## Orwell und Big Brother | |
Samanta Schweblin sagt, sie habe „Hundert Augen“ geschrieben, um ihre | |
Technik-Ängste zu untersuchen. „Wir sind alle sehr alert, wenn es um die | |
Orwell’schen Idee einer mächtigen Kontrollinstanz geht, ein Staat oder eine | |
Firma, die über unsere Privatsphäre verfügt“, sagt sie. Heute ist die „B… | |
Brother“-Erzählung schal geworden: Spätestens seit [3][Edward Snowdens | |
NSA-Enthüllungen] muss man sich haarsträubende Spionage-Szenarien gar nicht | |
mehr ausdenken. | |
Gleichzeitig findet man sich mit Überwachungsparanoia schnell in | |
unangenehmer Gesellschaft wieder. „Die Idee einer Kontrollinstanz ist zwar | |
keine Vorstellung, der ich mich komplett versperre“, sagt Schweblin. In | |
ihrem Roman wollte sie aber vor allem über individuelle Verantwortung | |
nachdenken: An welchem Punkt verwandeln sich uninformierte Internet-User – | |
in einer Gesellschaft, die ihrer immer selbstverständlicheren | |
Techniknutzung kaum soziale, gesetzliche und moralische Normen auferlegt – | |
in eine ernste Gefahr? | |
Immer wieder werden im Roman Menschen auf der Suche nach Nähe gedemütigt, | |
behutsam gepflanzte Hoffnungen auf großes oder kleines Glück pulverisiert. | |
Allerdings selten, und das unterscheidet Schweblin von vielen Autoren, um | |
des Schockeffekts willen, nie mit spürbarer Freude an Qual und | |
Grenzüberschreitung. Schweblins Geschichten sind verstörend, weil sie die | |
Menschlichkeit mindestens so sorgfältig untersucht wie die | |
Unmenschlichkeit. | |
Sie weiß, dass einen Grausamkeit nicht nur erschreckt, sondern ins | |
Bodenlose fallen lässt, wenn man um die Möglichkeit von Empathie und | |
Zärtlichkeit weiß. | |
## Horror-Genre ist großes Lob | |
Schweblin sagt, sie finde Momente des Horrors in der Literatur | |
faszinierend, weil sie die volle Aufmerksamkeit des Lesers forderten. „Wir | |
fühlen uns gefährdet und alarmiert. Deshalb sind wir offen für alle neuen | |
Informationen, die uns dabei helfen, diesem Zustand zu entkommen“, sagt die | |
Schweblin. Sie selbst würde sich nicht als Horror-Autorin einordnen, dafür | |
seien ihre Geschichten zu realistisch und lebensnah. „Aber wenn meine | |
Arbeiten so gelesen werden, nehme ich das als großes Lob.“ | |
Schweblins Horror braucht in „Hundert Augen“ nichts Übernatürliches, weil | |
Menschen schrecklich genug sind, besonders im Umgang mit den Schwächsten. | |
In einer kurzen Episode stürzt sich die Bewohnerin eines Pflegeheims | |
weinend und brüllend in ein Wasserbecken, um den Kentuki zu retten, dessen | |
Steuermann das Tierchen hat sterben lassen. Die Aussicht, als Haustier | |
unter Senioren zu leben, entsprach nicht seinen Vorstellungen. | |
31 Aug 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.instagram.com/samschweblin/?hl=de | |
[2] https://thebookerprizes.com/international-booker/2020 | |
[3] /Trump-aeussert-sich-zum-Whistleblower/!5707417 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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