| # taz.de -- „Blutiges Weihnachten“ in Zypern: Versöhnliche Knochen | |
| > Am 21. Dezember 1963 eskaliert die Gewalt zwischen griechischen und | |
| > türkischen Zyprioten. Eine gemeinsame Initiative sucht jetzt nach den | |
| > Vermissten. | |
| Bellapais/Nikosia taz | Mit höchster Konzentration, ganz behutsam, Schicht | |
| für Schicht, trägt Ergin Taranci die vom Nieselregen feuchte Erde mit einer | |
| Baggerschaufel ab. Nur eine unbedachte Bewegung, ein zu tiefes Ansetzen | |
| reicht, um die unter der Erde womöglich liegenden Funde zu beschädigen. | |
| Taranci ist erfahren, er leistet Präzisionsarbeit. Mit Argusaugen | |
| beobachtet der Archäologe Ali Çulluoğlu, pechschwarzes Haar, Vollbart, | |
| olivgrüne Hose, den Boden und die frisch abgetragene Erde auf der Schaufel, | |
| bevor der versierte Baggerführer sie auf einen Haufen bereits abgetragener | |
| Erde wirft. Immer wieder folgt der gleiche Vorgang. Schicht für Schicht. | |
| Bis nackter Felsen zum Vorschein kommt. | |
| Es ist Tag drei der Ausgrabungen an diesem ersten Donnerstag im Dezember in | |
| einem leicht abschüssigen Waldstück ganz in Zyperns Norden unweit des | |
| Dorfes, das griechisch [1][Bellapais] und türkisch Beylerbeyi heißt. Noch | |
| haben die Forensiker Çulluoğlu und Co. nichts gefunden. Was sie beharrlich | |
| suchen: menschliche Überreste. Schädel, Knochen, Knochensplitter, auch noch | |
| so winzige. Aber auch Gegenstände: Ringe, Uhren, Kleidung, Schuhe. Ebenso | |
| Goldzähne. Sie suchen alles, was sie zu den Vermissten führen könnte. | |
| Ihre Spuren verlieren sich während der [2][türkischen Invasion Zyperns] im | |
| Sommer 1974, in dem die Insel, am Schnittpunkt von Orient und Okzident | |
| gelegen, schlagartig in das Interesse der Weltöffentlichkeit rückt. | |
| Türkische Truppen landen am 20. Juli 1974 im Norden der Insel. Die Türkei | |
| weitet ihre Invasion ab dem 14. August 1974 massiv aus. Das führt zur | |
| faktischen Teilung von Zypern. Sie dauert bis heute an. Nikosia ist die | |
| letzte geteilte Hauptstadt der Welt. Die Grenze verläuft mitten durch die | |
| Altstadt. | |
| „Wir graben hier bis zu einen Meter tief. Finden wir an dieser Stelle | |
| nichts, graben wir daneben weiter“, erklärt Çulluoğlu. Sein sechsköpfiges | |
| Team, drei griechische und drei türkische Zyprioten, ist vom CMP, dem | |
| [3][Committee on missing Persons in Cyprus] (Komitee für die Vermissten in | |
| Zypern). Die von CMP-Ermittlern gewonnene Information, wonach an dieser | |
| Stelle drei Vermisste, darunter zwei Zivilisten und ein Offizier, alle | |
| griechische Zyprioten, begraben sein sollen, sei von einem Augenzeugen, | |
| somit einer Topquelle. Çulluoğlu hebt die Augenbrauen. „Nur wenn der | |
| Hinweis stichhaltig ist, haben wir eine Chance, fündig zu werden.“ | |
| Çulluoğlu weiß, wovon er redet. Er arbeitet schon lange für das CMP. Die | |
| Faustregel lautet: Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto schwieriger | |
| wird es für die Ermittler von CMP, fundierte Angaben darüber zu finden, was | |
| aus den Vermissten geworden ist, wo sie begraben liegen. Zeitzeugen | |
| sterben. Wer noch lebt, der kann sich kaum oder gar nicht mehr daran | |
| erinnern oder vertut sich, die richtige Stelle für eine Ausgrabung zu | |
| finden. | |
| Die Suche nach den Vermissten in Zypern betrifft ursprünglich genau 2.002 | |
| Personen. So viele stehen auf der offiziellen Liste vom CMP, im Jahr 2006 | |
| erstellt. 1.510 Fälle betreffen griechische, 492 Fälle türkische Zyprioten. | |
| Maßgeblich türkisch-zypriotische Zivilisten verschwinden bei heftigen | |
| Zusammenstößen zwischen beiden Volksgruppen. Sie nehmen am 21. Dezember | |
| 1963, vor genau sechzig Jahren, in der Altstadt von Nikosia ihren Anfang. | |
| In den nächsten Tagen und Wochen heizen Radikale und Nationalisten beider | |
| Lager den Konflikt an. Bewaffnete griechische Zyprioten wollen die Enosis, | |
| die Vereinigung von Zypern mit Griechenland. Demgegenüber streben | |
| bewaffnete türkische Zyprioten die Teilung Zyperns an: Taksim. Die | |
| Extremisten prallen aufeinander. | |
| In ganz Zypern werden Bewohner getötet, verletzt – oder sie verschwinden. | |
| [4][Die Ereignisse ab dem 21. Dezember 1963] sind nach Lesart der | |
| griechischen Zyprioten ein „türkisch-zypriotischer Aufstand“. Die | |
| türkisch-zypriotische Seite nennt sie „blutige Weihnachten“. Sie gelten als | |
| Vorbote für die Zuspitzung im Zypernkonflikt im Sommer 1974, in dem das | |
| Gros der Vermissten auf der CMP-Liste verschwindet. | |
| Die Vermissten zu finden, ist ein ungeheuer zähes, mühsames, schwieriges | |
| Unterfangen. In fünf Phasen. Zuerst sichern die Ermittler von CMP | |
| ausreichende Informationen. Das ist die Phase eins. Dann treten die | |
| Archäologen in Aktion. Das ist die Phase zwei. | |
| Das CMP hat 1.583 Ausgrabungen seit dem Beginn seiner Tätigkeit im Jahr | |
| 2006 durchgeführt, im Schnitt rund neunzig Ausgrabungen pro Jahr. | |
| Gegenwärtig laufen sechs Ausgrabungen. Fünf in Zyperns Norden, eine im | |
| Süden. Die größte befindet sich im Norden: In dem Dorf Atlilar (griechisch: | |
| Aloa) befindet sich ein Massengrab. Viele Knochen sind zu sehen, ein | |
| schauderhafter Anblick. 37 Personen aus dem Dorf gelten als vermisst, auch | |
| sie seit dem Sommer 1974. Alle sind türkisch-zypriotische Zivilisten. | |
| Frauen, Kinder, Alte. | |
| Bei bisher 351 Ausgrabungen, rund einem Viertel aller Ausgrabungen, fand | |
| das CMP menschliche Überreste von 1.223 Personen. 1.036 Individuen konnten | |
| identifiziert werden. Dabei handelt es sich um 743 griechische und 293 | |
| türkische Zyprioten. 966 Personen der CMP-Liste gelten weiter als vermisst. | |
| Davon sind 767 Personen griechische und 199 türkische Zyprioten. | |
| Die Angehörigen der Vermissten leiden bis heute. Viele haben die Hoffnung | |
| nicht aufgegeben, dass ihre Liebsten noch am Leben sind. Mustafa Kemal | |
| Gökeri glaubt hingegen nicht, dass sein Vater noch lebt. „Er ist getötet | |
| worden“, ist sich Gökeri sicher. Was bleibt: dessen Überreste endlich zu | |
| finden. Seit fast sechzig Jahren wartet er nun schon darauf. Bisher | |
| vergeblich. | |
| Das Treffen mit ihm findet in Nord-Nikosia statt. Draußen regnet es in | |
| Strömen. Gökeri, ein schlanker, großgewachsener Mann, ist sechs Jahre alt, | |
| als sein Vater Cengiz Ratip am 14. Februar 1964 in ihrem Heimatort Ort | |
| Polis in Zyperns Südwesten verschwindet. Tür an Tür leben damals in Polis | |
| griechische und türkische Zyprioten. Sein Vater sei mit einem Freund im | |
| Auto gesessen, in einem nagelneuen, blauen Fiat. Plötzlich seien sie | |
| beschossen worden, wie Gökeri erzählt wird. Seither fehle von beiden jede | |
| Spur. Auch der Fiat wurde nie gefunden. | |
| Sein Vater, ein Abgeordneter in Zyperns Parlament, sei ein gemäßigter | |
| Politiker gewesen. „Er setzte sich für die Koexistenz der beiden | |
| Volksgruppen auf Zypern ein“, unterstreicht Gökeri. Dabei riskierte er auch | |
| sein eigenes Leben. Hohe Wellen schlägt seine mutige Tat, von Polis in den | |
| Ort Kokkina (türkisch: Erenköy) zu fahren, um einen Bus voller entführter | |
| griechischer Zyprioten zu retten. Cengiz Ratip gelingt es, die | |
| türkisch-zypriotischen Entführer dazu zu überreden, die Insassen | |
| freizulassen. Cengiz Ratip ist stets darum bemüht, während der Konflikte | |
| zwischen den beiden Volksgruppen die aufgeheizte Stimmung in Polis und | |
| anderswo wieder zu beruhigen. Auch an jenem 14. Februar 1964, als er | |
| beschossen wird und verschwindet. „Ich war zwar noch klein. Ich kann mich | |
| jedoch daran erinnern, dass meine Mutter ständig weinte“, sagt Gökeri. | |
| Groll, Wut oder gar Hass empfinde er nicht. Im Gegenteil. „Wir Zyprioten | |
| sollten daran arbeiten, dass so etwas nie wieder passiert, was meinem Vater | |
| zugestoßen ist.“ Sein größter Wunsch sei, dass die Überreste seines Vaters | |
| gefunden werden, bevor seine Mutter stirbt. „Sie ist 96 Jahre alt. Ich | |
| will, dass sie seine Überreste noch sieht und wir ihn angemessen bestatten | |
| können.“ Auch Nikos Sergidis wartet. Darauf, dass die Überreste seines | |
| jüngeren Bruders gefunden werden. Iosif Sergidis, geboren am 1. April 1953, | |
| beginnt seinen obligatorischen Wehrdienst in der zypriotischen | |
| Nationalgarde, der Ethniki Froura (EF), im Juli 1972. Im Juli 1974, nach 24 | |
| Monaten, wäre sein Wehrdienst abgelaufen. | |
| Doch es kommt alles anders. Denn am 15. Juli 1974 putschen Offiziere der EF | |
| mit Unterstützung der griechischen Militärjunta in Athen gegen Zyperns | |
| Präsidenten, den Erzbischof Makarios III. Ziel des Putsches ist der | |
| Anschluss Zyperns an Griechenland, die Enosis. Dazu kommt es nicht. Denn | |
| fünf Tage später (am 20. Juli 1974) beginnt die Invasion der Türkei mit der | |
| Landung regulärer türkischer Truppen im Norden der Insel unter dem | |
| Decknamen Attila I. Schnell kontrollieren sie etwa drei Prozent der | |
| Inselfläche. Nach einer Waffenruhe nutzt die Türkei ab dem 14. August die | |
| Präsenz ihrer Truppen zu einer völkerrechtswidrigen Besetzung von Zyperns | |
| Norden. Das Gebiet Nordzyperns, das durch die Operation Attila II besetzt | |
| wird, macht 37 Prozent der Insel aus. | |
| Beide Seiten verüben Gräueltaten. Es gibt Vermisste. Und viele Vertriebene. | |
| Griechische Zyprioten, die mit insgesamt 506.000 Bewohnern 79 Prozent der | |
| Inselbevölkerung stellten, werden aus dem türkisch besetzten Teil Zyperns | |
| vertrieben oder flüchten in den Süden der Insel. Umgekehrt verlassen | |
| türkische Zyprioten, die mit insgesamt 118.000 Bewohnern 19 Prozent der | |
| Inselbevölkerung ausmachen, den Süden der Insel in Richtung Norden. | |
| Iosif Sergidis, Scheitel, Brille, kämpfte gegen die türkischen Invasoren. | |
| „Wir waren eine sehr verbundene Familie. Mit sieben Söhnen. Ich bin der | |
| zweitälteste, Iosif der fünfte“, sagt sein Bruder Nikos Sergidis. Er | |
| überreicht ein Schwarzweißfoto. Iosif sieht ihm verblüffend ähnlich. Nikos | |
| Sergidis sitzt im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes in Süd-Nikosia | |
| in den Büros der Panzypriotischen Vereinigung der Angehörigen | |
| nichtgemeldeter Kriegsgefangener und Vermisster. Vor ihm liegt eine Akte | |
| mit braunem Deckblatt. Es ist die Personalakte seines vermissten Bruders. | |
| Aktennummer: 899. | |
| „Das letzte Mal habe ich meinen Bruder in der Waffenruhe Anfang August | |
| gesehen“, erinnert sich Nikos Sergidis. Dann sei Iosif Sergidis wieder an | |
| die Front im Norden gegangen. „Er war eine Hüne von Mann“, so Nikos | |
| Sergidis. Zum Verhängnis wird Iosif Sergidis der Kampf auf dem strategisch | |
| bedeutsamen Labatsa-Hügel im Nordwesten von Zypern zwischen den Dörfern | |
| Kontemenos (türkisch: Kiliçarslan) und Skylloura (türkisch: Yilmazköy). | |
| Der 21-Jährige leitet einen Zug aus zwei Dutzend Infanteristen. Der Kampf | |
| von Sergidis’ kleiner Einheit gegen die türkischen Invasoren beginnt am 15. | |
| August in der Mittagshitze um drei Uhr, er dauert zweieinhalb Stunden. | |
| Sergidis und seine Soldaten kämpfen tapfer, haben aber gegen die Übermacht | |
| der türkischen Truppen, die sie zudem mit der Luftwaffe beschießt, keine | |
| Chance. | |
| „Ich sah etwa 30 bis 35 tote Körper des Feindes herumliegen. Die Luft stank | |
| fürchterlich. Ich wollte ihre Gewehre einsammeln, aber einige meiner | |
| Soldaten mussten sich übergeben. Der Geruch war unerträglich. Sofort zog | |
| ich meine Soldaten zurück. Die Gewehre ließ ich bei den Leichen liegen. Als | |
| ich zu meinem Regiment zurückkehrte, befahl ich meinen Soldaten, ihre | |
| Kleidung zu verbrennen und ein Bad zu nehmen. Später informierte mich ein | |
| Oberstleutnant, dass sie die Waffen einsammeln und die Gegend bereinigen“, | |
| schreibt der damalige türkische Kommandeur Turan Erdem in seinen Memoiren. | |
| Das 1999 in Ankara auf Türkisch herausgegebene Buch hat Nikos Sergidis | |
| gefunden. „Das Gelände wurde vom CMP gründlich untersucht. Dabei fand man | |
| Knochensplitter. Etwa 300. Sie lagen verstreut herum. Ein bis zwei | |
| Zentimeter lang, der längste sechs Zentimeter. Dazu noch einen Zahn. CMP | |
| fand heraus, wem der Zahn gehörte. Der Zahn wurde der Familie übergeben. | |
| Die Beerdigung in einem Friedhof fand mit diesem Zahn statt“, sagt er. Sein | |
| Bruder Iosif bleibt vermisst, fast 50 Jahre nach dem Kampf auf dem | |
| Labatsa-Hügel. Dennoch sagt Nikos Sergidis mit fester Stimme: „Wir können | |
| mit den türkischen Zyprioten friedlich zusammenleben.“ | |
| Die drei großen, braunen Pappkartons mit der Aufschrift „Labatsa Hill“ | |
| stehen im obersten Fach eines Metallregals im Lagerraum des | |
| anthropologischen Labors des CMP. Es liegt in der [5][Schutzzone der | |
| UN-Friedenstruppe] auf dem weitläufigen Gelände des seit dem Sommer 1974 | |
| verwaisten Flughafens in Nikosia. Erstmals seit Jahren erhält ein | |
| internationales Medium Zugang zum Labor. Was der seltene Einblick zeigt: | |
| Das Labor besteht aus zwei Räumen zur Aufbewahrung der exhumierten | |
| Überreste sowie aus zwei Bereichen für deren Analyse. Das ist die Phase | |
| drei. | |
| ## DNA-Analyse winziger Knochen | |
| Der Fall Labatsa-Hügel habe sie vor große Herausforderungen gestellt, räumt | |
| das Teamleiter-Duo aus der griechischen Zypriotin Theodora Eleftheriou und | |
| ihrer türkisch-zypriotischen Kollegin Engin Istenc gegenüber der taz ein. | |
| „Jeder Mensch hat 206 Knochen. Das CMP fand 2009 auf dem Labatsa-Hügel | |
| kleine bis winzige Knochensplitter. Sie passten gerade auf zwei Tische“, | |
| erinnert sich Theodorou. Es habe kein Grab gegeben. Das erschwere eine | |
| anthropologische Analyse sehr. „Liegen Knochen viele Jahre auf der | |
| Bodenoberfläche, verändert sich im Sonnenlicht ihre Farbe. Sie sind nicht | |
| mehr dunkelbraun bis schwarz, sondern weiß.“ | |
| Die Aufgabe des Duos: die exhumierten Überreste analysieren, um die | |
| Identität einer vermissten Person festzustellen. Zwei bikommunale Teams | |
| unter Leitung von Eleftheriou und Istenc erstellen ein biologisches Profil | |
| der Person, einschließlich Geschlecht, Größe, Alter zum Zeitpunkt des Todes | |
| und anderer individueller Merkmale. Kleine Knochenproben werden entnommen | |
| und zur DNA-Analyse in die USA geschickt. | |
| „Das ist ein zerstörerischer Prozess. Der Knochen wird zu Puder zermahlen. | |
| Das geht verloren“, erklärt Istenc. Es bleibt keine andere Wahl. Diese | |
| Analysen führen zur Identifizierung vermisster Personen. Die Proben werden | |
| mit den genetischen Profilen der Verwandten der Vermissten abgeglichen. | |
| Eine [6][DNA-Identifizierung] gilt erst dann als erfolgreich, falls eine | |
| Übereinstimmung zu 99,95 Prozent erreicht oder überschritten wird. | |
| Die Ergebnisse werden an das CMP-Labor zurückgeschickt. Das Genetikerteam | |
| des CMP, bikommunal von der türkischen Zypriotin Gülbanu Zorba und ihrer | |
| griechisch-zypriotischen Kollegin Katerina Papaioannou geleitet, untersucht | |
| und bestätigt die Übereinstimmung. Das ist die Phase vier. Im Fall | |
| Labatsa-Hügel dauerte es zwölf Jahre, bis das CMP insgesamt 20 Personen | |
| zweifelsfrei identifizierte. Vier Personen bleiben vermisst. Darunter ist | |
| Iosif Sergidis. | |
| Für Leonidas Pantelidis ein Ansporn, so lange nicht locker zu lassen, bis | |
| die Überreste der übrigen 966 Vermissten der CMP-Liste gefunden werden. | |
| Seit Mitte 2019 ist er das von der Republik Zypern entsandte | |
| griechisch-zypriotische Mitglied im CMP. Pantelidis war in Washington und | |
| Moskau Zyperns Botschafter. Ein Top-Diplomat. | |
| Er empfängt in seinem Büro in einem Regierungsgebäude im Süden von Nikosia. | |
| „Ich erhielt einen Anruf vom damaligen Staatspräsidenten Nikos | |
| Anastasiadis. Er bat mich, den vakanten Posten zu übernehmen. Um ehrlich zu | |
| sein, ich habe ihn um Bedenkzeit gebeten. Ich wusste, dass dies eine | |
| unglaublich schwierige Aufgabe ist. Ich entschied: Das ist etwas | |
| Einzigartiges. Ich mache das!“ | |
| Sein türkisch-zypriotisches Pendant ist Hakki Müftüzade, auch ein früherer | |
| Diplomat. Den Besucher empfängt er in seinem Büro in Nord-Nikosia. Er | |
| lässt türkischen Tee servieren. „Mit Leonidas verstehe ich mich blendend“, | |
| wie Hakki Müftüzade betont. | |
| Beide, Pantelidis und Müftüzade, blicken nicht in die Vergangenheit. Sie | |
| wollen die Überreste der Vermissten finden. Unerheblich sei es, welcher | |
| Volksgruppe sie angehören, wie sie unisono betonen. Egal sei ebenso, ob sie | |
| bei den gewalttätigen Ereignissen 1963, 1964 oder 1974 verschwunden seien. | |
| Ihr Ziel: Angaben über den Verbleib der Vermissten einholen, die Überreste | |
| suchen, analysieren, identifizieren. Alles gemeinsam. | |
| Das CMP ist ein Hort der Versöhnung beider Volksgruppen. Mit | |
| Vorbildfunktion. Ob Eleftheriou, Istenc, Zorba, Papaioannou oder das übrige | |
| CMP-Personal: Sie gingen je nach Volksgruppe in getrennte Schulen, kamen | |
| nie in Berührung, obgleich sie auf der gleichen Insel leben. Im CMP lernte | |
| man sich kennen, schmiedete Freundschaften. Ein junges, ambitioniertes | |
| Team. Ihre gemeinsame Sprache im Job und nach Feierabend: Englisch. Gülbanu | |
| Zorba sagt: „Wenn Katerina erkrankt, leide ich mit ihr. Umgekehrt genauso.“ | |
| Katerina Papaioannou nickt lächelnd. | |
| Für den Forensiker Mete Tosun, einen türkischen Zyprioten, bot die Arbeit | |
| im CMP eine ganz persönliche Erfahrung. Tosun fand 2014 bei einer | |
| Ausgrabung einen goldenen Zahn. Er führt zu Fahri Totkuy, den Mann seiner | |
| Tante, wie er enthüllt. Totkuy, ein Gemüsehändler, war seit 1963 vermisst. | |
| „Er wurde auf der Straße entführt.“ Dass ausgerechnet er seine Überreste | |
| fand, habe ihn „ziemlich aufgewühlt“. „Ich versuche, professionell damit | |
| umzugehen“, sagt Mete Tosun der taz auf dem Areal der Ausgrabung in | |
| Bellapais/Beylerbeyi. Man sieht, dass er hier mit der gleichen Hingabe die | |
| Überreste griechischer Zyprioten sucht. | |
| Den bikommunalen Charakter des CMP zu betonen, liegt auch Bruce Koepke am | |
| Herzen. Der Deutschaustralier ist das, wie es heißt, „dritte Mitglied“ im | |
| CMP. Seit 19 Jahren arbeitet Koepke für die UNO, stets in Konfliktzonen. Er | |
| war in Afghanistan, im Irak, im Jemen. „Meine Aufgabe ist es, beide Seiten | |
| zu ermutigen, die fruchtbare Kooperation fortzusetzen“, sagt er im | |
| CMP-Gebäude des UNO-Mitglieds in der „Grünen Linie“ in Nikosia, der | |
| UNO-Pufferzone unter Verwaltung der UN-Friedenstruppen. | |
| „Das CMP lebt vom Konsens aller drei Seiten – der griechisch-zypriotischen, | |
| der türkisch-zypriotischen und der UNO“, so Koepke. Dem CMP gehe es bewusst | |
| nicht um eine historische Aufarbeitung der Geschehnisse. „Die Arbeit des | |
| Komitees hat laut CMP-Mandat einen zutiefst humanitären Charakter“, so | |
| Koepke. | |
| Das würdigt die Staatengemeinschaft. Die EU hat dem CMP seit 2006 knapp 36 | |
| Millionen Euro gespendet, allein 2,6 Millionen Euro in diesem Jahr. Gut 10 | |
| Millionen Euro steuerten ferner 19 Staaten bei, darunter auch Deutschland. | |
| Ebenso helfen Privatspender. Das CMP-Budget beträgt in diesem Jahr 3,2 | |
| Millionen Euro. Etwa die Hälfte der Ausgaben betreffen Ausgrabungen und | |
| Exhumierungen. | |
| Was Koepke im Gespräch mit der taz umtreibt: „Unsere Kosten steigen. Der | |
| Treibstoff, das Material, das Mieten von Baumaschinen und anderen | |
| Fahrzeugen, die DNA-Analysen, der gesamte Aufwand. Viele Stellen, wo | |
| Vermisste vermutet werden, sind mittlerweile zugebaut und müssen nach einer | |
| Ausgrabung restauriert werden. Die Kompensationskosten verteuern die | |
| Ausgrabungen immens.“ Fest steht: Das Knowhow des CMP ist gefragt. | |
| Spezialisten aus aller Welt, die Vermisste in ihren Ländern suchen, kommen | |
| nach Zypern. Gerade sind Experten aus Aserbaidschan im CMP-Labor, eine | |
| Delegation aus Irland hat sich angekündigt. | |
| ## Rückgabe an Angehörige | |
| Der Höhepunkt der Arbeit des CMP ist die Rückgabe der Überreste an die | |
| Angehörigen. Das ist die Phase fünf. Das geht so: Betroffene | |
| Familienangehörige werden in den sogenannten Viewing Room des CMP | |
| eingeladen. Dort treffen sie die an der Identifizierung beteiligten | |
| CMP-Wissenschaftler in einem eigens dafür vorgesehenen Raum. Per | |
| Powerpoint-Präsentation erhalten sie einen Einblick in den Prozess von der | |
| Phase eins bis vier. Auf einem Tisch befinden sich die sterblichen | |
| Überreste ihrer Angehörigen, auf einem kleineren Tisch dahinter ist ein | |
| großes Foto von ihm oder ihr aufgestellt. Psychologen vom CMP helfen bei | |
| den Vorbereitungen für die Beerdigung. Wünscht es die Familie, bieten sie | |
| ihre Hilfe bis zu zwei Jahre nach der Beerdigung an. | |
| Angela Ioannou, eine griechische Zypriotin mit einer einfühlsamen Stimme, | |
| hat schon viele Rückgaben der Überreste mitverantwortet. Im | |
| [7][CMP-Viewing-Room] beschreibt sie der taz die hoch emotionalen Szenen, | |
| die sich hier abspielen. „Jede Familie ist anders. Manche weinen. Andere | |
| sind stumm. Es ist in diesem Moment für sie so, als ob ihr Angehöriger erst | |
| gestern verstorben ist.“ | |
| Der Wunsch einer älteren Dame habe sie sehr gerührt, offenbart Angela | |
| Ioannou. Ihr Sohn, ein Soldat der Zypriotischen Nationalgarde, verschwindet | |
| im Sommer 1974. „Sie hatte einen Anzug mit dabei. Eine schwarze Hose, ein | |
| schwarzes Sakko und ein weißes Hemd. Sie sagte mir: ‚Angela, ich habe auf | |
| ihn gewartet. Jetzt ist mein Sohn da‘. Sie sagte mir dann: ‚Ich habe seinen | |
| Anzug aufbewahrt. Jetzt ist der Moment, wo er ihn anhaben soll.‘“ | |
| 21 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bellapais_(Abtei) | |
| [2] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32116/historische-hintergruende-… | |
| [3] https://www.cmp-cyprus.org/ | |
| [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Blutige_Weihnachten_(1963) | |
| [5] /Angriff-auf-UN-Friedensmission-in-Zypern/!5954571 | |
| [6] /Umgang-mit-menschlichen-Ueberresten/!5956616 | |
| [7] https://www.cmp-cyprus.org/pictures/ | |
| ## AUTOREN | |
| Ferry Batzoglou | |
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