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# taz.de -- 50 Jahre Zypern-Teilung: Eine Insel, keine Lösung
> Nach einer türkischen Offensive am 20. Juli 1974 wird Zypern zweigeteilt.
> Bis heute bestimmt die Trennung den Alltag der Menschen.
Kaimakli, Famagusta und Lefkosa taz | Die Sirenen heulen. Um 8.20 Uhr
ertönen sie an diesem brütend heißen Montag in Kaimakli, einem
nordöstlichen Vorort von Zyperns Hauptstadt Nikosia. Kein Mensch auf der
Straße reagiert. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Die Leute wissen:
Heute ist keine Gefahr. Das war vor – auf den Tag genau – 50 Jahren ganz
anders. Die Sirenen erinnern an den Staatsstreich vom 15. Juli 1974. Die
Putschisten wollen die Vereinigung mit Griechenland. Den Putsch führen die
zyprische Nationalgarde und Mitglieder der berüchtigten EOAKA-B, einer
ultranationalistischen paramilitärischen Organisation der Zyperngriechen,
auf Geheiß der Athener Militärjunta durch. Ihr Ziel ist es, Zyperns
gewählten [1][Präsidenten Erzbischof Makarios III.] zu stürzen.
Makarios steht im Streit mit den Athener Obristen. Kompromisslos fordert er
die Selbstbestimmung der Völker, den Abzug der griechischen Offiziere von
Zypern und übt harsche Kritik an der Athener Militärdiktatur. Den USA ist
der „Fidel Castro des Mittelmeers“, der sich der Bewegung der Blockfreien
Staaten anschließt, sowieso nicht geheuer. Die Supermacht will zwar keinen
Krieg zwischen zwei Nato-Mitgliedern, Griechenland und der Türkei, den
beiden Garantiemächten der noch jungen Republik Zypern. Sehr wohl wollen
die USA aber die Absetzung von Erzbischof Makarios. Hinter den Kulissen
unterstützt die CIA den Staatsstreich der Griechen und eine türkische
Invasion auf der Insel, um die Rolle der Türkei, ein Schwergewicht in der
Nato, in der Region zu stärken. Gekonnt setzt Washington Akteure aller
Seiten als Werkzeuge und Schachfiguren ein.
Die Ereignisse überschlagen sich. Erzbischof Makarios flieht nach Paphos im
Inselsüden. Nach einer abenteuerlichen Flucht erreicht Makarios New York.
Dort nimmt er am 19. Juli an der Sitzung des UN-Sicherheitsrats teil.
Unverhohlen prangert er die Athener Junta an, wirft ihr ohne Umschweife
eine Invasion vor. Am 20. Juli 1974 greift die Türkei auf Zypern ein.
Ankara beruft sich auf Artikel 4 des Garantievertrags zu Zypern. Türkische
Truppen landen im Morgengrauen im Norden der Insel. Im Eiltempo besetzt das
türkische Militär in der [2][Operation Attila]etwa sieben Prozent der
Inselfläche. In einer zweiten Offensive, Attila II, bringen die türkischen
Truppen vom 14. bis 18. August weitere 30 Prozent der Inselfläche unter
ihre Kontrolle.
50 Jahre später empfängt der Zyperngrieche Pater Marios im Herzen von
Kaimakli in seinem kleinen Beichtzimmer im Untergeschoss der mächtigen
Kirche Aghios Polydoros. Er ist ein großgewachsener Mann, mit einem für
orthodoxe Priester typischen Rauschebart. Soeben hat ihm eine
Mitvierzigerin ihre Sünden gebeichtet. „Wer beichtet, muss Reue zeigen. Wir
Priester sind nur der Überbringer der Erlösung von den Sünden“, sagt der
62-Jährige. Der Namensgeber der Kirche in Kaimakli, ein Händler, der lange
nach seinem Tod heilig gesprochen wurde, sei 1794 von den türkischen
Herrschern erhängt worden, erklärt er. „Er wollte kein Muslim sein, sondern
Christ bleiben. Dafür brachten ihn die Türken um“, erzählt der Pater
ehrfürchtig. Zum 20. Juli 1974 erzählt er: Die türkische Armee wollte
damals Kaimakli komplett erobern. Jedoch ohne Erfolg. Nur die Ackerflächen,
die die Bewohner von Kaimakli bis dahin bewirtschafteten, brachten sie
unter ihre Kontrolle.
Nach der türkischen Offensive wird Zypern geteilt. Rund 160.000
Zyperngriechen werden aus dem Inselnorden in den Inselsüden vertrieben,
Tausende Zyperntürken verlassen den Inselsüden in Richtung Norden. Die
Zyperngriechen kontrollieren den Inselsüden, die Zyperntürken den
Inselnorden. Das ist bis heute so. Die 1983 ausgerufene „Türkische Republik
Nordzypern“ wird nur von der Türkei anerkannt. Die Republik Zypern wird
2004 EU-Mitglied und tritt 2008 der Eurozone bei. Die letzten bilateralen
Gespräche zur [3][Lösung der Zypernfrage] scheitern Mitte 2017. Die Türkei
will eine Zwei-Staaten-Lösung, das lehnt die Republik Zypern jedoch
vehement ab. Der Inselnorden zählt 350.000 Bewohner, die Türkisch sprechen
und fast alle Muslime sind. Der Süden hat 900.000 Bewohner, die Griechisch
sprechen und fast alle orthodox sind. Nikosia ist die letzte geteilte
Hauptstadt der Welt.
„1974 fand auf Zypern eine ethnische Säuberung statt“, unterstreicht Pater
Marios. Das habe nicht nur die Zyperngriechen betroffen, die aus dem Norden
in den Süden flohen. Er kenne eine türkischzypriotische Familie aus Paphos,
einer Stadt im Südwesten des Landes. „Sie wollten nicht weg. Sie haben
geweint, als sie ihr Haus verlassen mussten.“ Es gab aber auch eine Zeit,
da waren die Fronten weniger verhärtet. „Wir lebten friedlich mit den
Zyperntürken zusammen. Wir waren Freunde“, erinnert sich Pater Marios. Das
war vor [4][den Unruhen 1963], in denen die Gewalt zwischen griechischen
Zyprioten und türkischen Zyprioten erstmals gewaltvoll eskaliert. Dann habe
die Türkei den Zyperntürken immer mehr die Marschrichtung vorgegeben, sagt
er.
Der Westen habe Ankara dabei freie Hand gelassen, die Türkei „aufgeweckt
und angestachelt, auf Zypern aktiv zu werden“, ätzt er. Für den Geistlichen
ist damals wie heute klar: „Die Türkei will sich ganz Zypern einverleiben.
Ihr Motto lautet: ‚Die Insel gehört uns!‘ Werde diesem Bestreben nicht
Einhalt geboten, seien hernach Kreta oder andere Regionen dran, fürchtet
Pater Marios. „Die Lösung des Zypernkonflikts ist nicht eine Sache zwischen
Zyperngriechen und Zyperntürken, sondern hat vor allem mit der Türkei und
ihrem stetigen Expansionsdrang zu tun.“
Der Umstand, dass die Flagge der „Türkischen Republik Nordzypern“ (TRNC)
von den dortigen Behörden an den Hängen des Berges Pentadaktylos in einer
riesigen Gesamtfläche nachgebildet wurde, um überall sichtbar zu sein, ist
für Pater Marios bloß „ein Provisorium“. Der Pfarrer übt sich in Geduld.
„Wir haben auf Zypern 300 Jahre Osmanenherrschaft überstanden. Wieso sollen
dann 50 Jahre viel sein?“
Famagusta (griechisch: Ammochostos) ist eine pulsierende,
55.000-Einwohner-Stadt an Zyperns Ostküste. Hier lebt Deniz Altiok, nur 50
Kilometer Luftlinie von Kaimakli und Pater Marios entfernt. Die junge
Zyperntürkin und den altgedienten orthodoxen Priester aus Kaimakli trennt
die von der UN bewachte „Grüne Linie“, eine Pufferzone zwischen dem
Inselnorden und Inselsüden. Dabei hat Altiok als Kind türkischer Zyprioten,
die schon seit Generationen auf Zypern leben, den gleichen Pass wie Pater
Marios: jenen der Republik Zypern, die Freizügigkeit in der EU inbegriffen.
Wer jedoch erst nach Zyperns Teilung vom türkischen Festland in den
Inselnorden entweder auf Anordung aus Ankara oder freiwillig kam, ist aus
Sicht der Republik Zypern ein „Epikos“ („Siedler“). Ihm und seinen
Nachfahren wird daher – anders als bei Altiok und Co. – die
Staatsangehörigkeit der Republik Zypern verwehrt. Die türkischen Siedler im
Inselnorden samt ihren Nachfahren sollen über 100.000 Bewohner sein. Bei
der Suche nach einer Lösung im Zypernkonflikt ist die Staatsangehörigkeit
ein großer Konfliktpunkt.
Ihr Vater sei kurz vor Kriegsausbruch von seiner Heimatstadt Paphos in den
Inselnorden geflohen, erzählt Deniz Altiok. „Er ahnte, dass etwas passieren
würde. Er wollte nicht kämpfen, für keine Seite. Er wollte nicht Teil des
Konflikts werden“, sagt die 31-Jährige. Ihre Mutter, eine überzeugte Linke,
stammt aus Larnaka im Inselsüden. Zum Zeitpunkt der Ereignisse im Sommer
1974 auf Zypern sei sie Studentin in der Türkei gewesen. Deniz’ Mutter
leistete dort Widerstand gegen die türkische Militärjunta, während in ihrer
Heimat Zypern die Athener Obristen ihr Unheil trieben. „Meine Familie
glaubte immer an den Frieden. Das hat mich stark geprägt“, sagt Deniz
Altiok.
Als Deniz Altiok 1993 zur Welt kam, war die „Türkische Republik Nordzypern“
(TRNC) schon zehn Jahre alt – für die Zyperngriechen schlicht ein
„Pseudo-Staat“. Sie studierte in Kent Jura. Erst im Süden Englands, als sie
mit Zyperngriechen an der Universität in direkten Kontakt kam, wurde ihr
die Teilung Zyperns bewusst. „Ich hatte nie eine Grenze im Kopf. Die
Zyperngriechen sind hingegen in ihrem Narrativ aufgewachsen. Für sie sind
wir Zyperntürken die Bösen. Anfangs war ich verärgert. Ich fragte mich:
Habe ich etwas falsch gemacht? Bin ich falsch aufgewachsen?“ Mit der Zeit
näherten sie sich jedoch an. „Wir wurden sehr enge Freunde, waren gemeinsam
mit den Zyperngriechen in der Zyprischen Studentenschaft.“
Nach ihrem Studium kehrt sie nach Zypern zurück, tritt seither für
Migranten und Menschen aus der LGBTQIA-Community ein. Sie fungiert in der
Plattform für Menschenrechte mit Sitz in Nord-Nikosia, das türkisch Lefkosa
heißt, als Koordinatorin im Programm Anti-Trafficking und
[5][Flüchtlingsrechte]. Die Lösung des Zypernkonflikts sei für die
Zyperntürken „keine Priorität mehr“, offenbart Altiok. Das gelte auch für
sie. Früher sei die Suche nach einer Lösung hierzulande das Thema Nummer
eins gewesen. „Das ist vorbei. Wir sind zwar mit der aktuellen Situation
nicht zufrieden. Zugleich tun wir aber nichts, um die Dinge zum Besseren zu
verändern. Nicht auf der Straße, nirgendwo.“ Sie habe ihre Hoffnung auf
eine Lösung verloren.
Im Inselnorden treibe der Alltag die Menschen um, so Deniz Altiok. „Wir
werden immer ärmer. Wir versuchen nur zu überleben, irgendwie durch den Tag
zu kommen.“ Vor allem die galoppierende Inflation belastet. Sie resultiert
aus dem enormen Wertverlust der türkischen Lira, im Norden Zyperns die
offizielle Währung. Geht es mit der türkischen Lira bergab, dann ist auch
der Norden Zyperns unmittelbar davon betroffen.
Omac Cin treiben andere Dinge um. In seinem weitläufigen Verkaufsraum in
einem unscheinbaren Gebäude in Lefkosa stehen schicke Sofagarnituren,
hochwertige Betten, massive Tische, bunte Stühle. Der 59-Jährige macht es
sich auf einem Sofa gemütlich. Er verkaufe eingeführte Möbel, habe zudem
eigene Fertigungsstätten, sagt er. Die importierte Ware komme aus der
Türkei, seine produzierten Möbel verkauft er nur im Inselnorden. „Ich würde
meine Möbel gerne auch im Inselsüden verkaufen. Das geht aber nicht.“ Die
simple Logik: Produkte aus Nordzypern dürfen nicht in den Inselsüden, die
übrige EU und fast überall auf der Welt ausgeführt werden, weil die
„Türkische Republik Nordzypern“ außer für die Türkei gar nicht als Land
existiert. Dabei hat Omac Cin einträgliche Geschäfte in neuen, viel
größeren Absatzmärkten als im Niemandsland Nordzypern bitter nötig. Der
bisher boomende Immobiliensektor, ein wichtiger Pfeiler der Wirtschaft im
Inselnorden, ist in unruhiges Fahrwasser geraten.
Denn Zyperns Behörden gehen zuletzt hart gegen Personen vor, die im Norden
Zyperns Immobilien verkaufen oder bebauen. Diese Immobilien gehören trotz
der faktischen Teilung der Insel weiter ihren rechtmäßigen
zyperngriechischen Eigentümern, die im Sommer 1974 aus ihren Häusern im
Inselnorden in den Inselsüden flohen. Zuletzt blühte das Geschäft mit
diesen Liegenschaften im Norden, sehr zum Verdruss der rechtmäßigen
zyperngriechischen Eigentümer. Sie wollen nicht, dass ihr altes Eigentum im
Inselnorden von anderen illegal erworben oder genutzt wird.
Erst kürzlich wurde eine 49-jährige Deutsche auf dem Flughafen von Larnaka
verhaftet, die im Immobilienmarkt im Norden Zyperns aktiv ist. Ferner nahm
die zyprische Polizei den israelischen Geschäftsmann Simon Mistriel Aykut
fest, ein großer Fisch in der Branche. „Das ist ein Erdbeben in unserer
Immobilienbranche“, legt Möbelverkäufer Cin den Finger in die Wunde. Die
Turbulenzen treffen ihn mit voller Wucht. Ohne neue Wohnungen braucht man
keine neuen Möbel. Cin bleibt nun buchstäblich auf seiner Ware sitzen.
Die Missstände in Sachen Liegenschaften im Inselnorden sind auf der Suche
nach einer Lösung im Zypernkonflikt ein zweiter chronischer Streitpunkt
zwischen Zyperngriechen und Zyperntürken. Umgekehrt könnte eine Lösung im
Zypernkonflikt diese Missstände abstellen. Doch ein Einvernehmen ist nicht
in Sicht.
Die Öffnung der Republik Zypern für Waren aus dem Inselnorden wäre in
seinen Augen der erste Schritt, um die Teilung der Insel endlich zu
überwinden, so der Vorschlag von Unternehmer Cin. „Wir würden mehr Geld
verdienen und so zum Süden aufschließen. Nur so können wir auf gleicher
Augenhöhe mit den Zyperngriechen zusammenleben.“ Andernfalls bestünde für
die Zyperntürken die Gefahr, vom bevölkerungsreichen und wohlhabenden Süden
„geschluckt“ zu werden.
Cins Sicht der Dinge hat Gewicht. Er ist Präsident der
türkischzypriotischen und zugleich Co-Präsident der gemeinsamen türkischen
und türkischzypriotischen Handelskammer. Einer Zweistaatenlösung erteilt
Cin eine Absage. „Zypern ist zu klein, um zwei Staaten Platz zu bieten.“
Eine baldige Lösung im Zypernkonflikt sieht er nicht. Gleichzeitig betont
er: „Einen Krieg zwischen Zyperngriechen und Zyperntürken wie 1974 darf es
nie wieder geben.“
Die gleißende Sonne, die genau 50 Jahre nach dem Putsch auf Zypern
unbarmherzig auf Kaimakli brennt, geht gerade unter. Eine Mauer, etwa vier
Meter hoch, wirft immer längere Schatten. Verfallene Gebäude, eine
unbebaute Fläche, überall Unkraut, das keiner jätet, ein Stoppschild. Die
Georgios-Griva-Digeni-Straße, benannt nach dem Gründer der EOAKA-B, der
Putschisten, endet hier, an der Grünen Linie zwischen Groß-Kaimakli und
Klein-Kaimakli. Für Tasos Lamnisos alias X.YPNO, das auf Griechisch „Ich
wache auf“ bedeutet, ist das die ideale Kulisse. Der 25-jährige hat einen
Lockenkopf, trägt eine Halskette, dunkles T-Shirt, kurze Hose, und ist
Rapper. Was ihn von anderen unterscheidet: Er singt im zyprischgriechischen
Dialekt. Es ist ein Ein-Mann-Auftritt. Er spielt Synthesizer, trägt
Gedichte vor. Freunde, Bekannte, antifaschistische Mitstreiter lauschen.
Nach einer Viertelstunde ist sein Auftritt vorbei. Applaus brandet auf.
„Mir ist es wichtig, im zyprisch-griechischen Dialekt zu rappen, nicht in
Neugriechisch, das in Hellas gesprochen wird. Wir Zyprer sprechen im Alltag
alle den Dialekt. Das tue ich in meinen Liedern“, sagt er. Immer wieder
setzt sich der Rapper mit Zyperns Teilung auseinander. In einem seiner
Lieder heißt es: „Teufel, Teufel, Teufel. Sie werden uns verraten. Sie
werden uns nie vereinen.“ Mit „sie“ meint er die Machthaber, die die
Teilung der Insel nicht beseitigen.
Der Rapper will keine Grenze auf Zypern. „Die Grenze ist völlig ausgedacht.
Das ist ein Land“, sagt er. „Wir sind eingepferchte Schafe. Gehe ich in den
Norden, muss ich meinen Pass zeigen, als ob ich ein Tourist wäre, der das
Ausland besucht. Absurd.„Die Teilung führe dazu, dass die Menschen im
Norden und jene im Süden „in ihren eigenen Blasen leben“, nicht in Kontakt
kommen. „Für viele im Süden existiert der Norden praktisch nicht“, klagt
er. „Nur wenn beide Seiten aus ihren Fehlern lernen, kann eine Lösung im
Zypernkonflikt gefunden werden. Uns trennt nichts. Zyperngriechen,
Zyperntürken, die Türken, alle Bewohner Zyperns, egal woher sie stammen,
sind Zyprer. Zypern war immer ein Schmelztiegel verschiedener Ethnien,
Sprachen, Religionen und Kulturen.“
Um die Lösung im Zypernkonflikt zu erreichen, stünden alle Seiten in der
Verantwortung, findet der 25-jährige. „Wir Zyperngriechen aber mehr, weil
wir die Mehrheit sind.“ Leider sei er nicht zuversichtlich, dass er ein
vereintes Zypern erleben werde. Chancen dafür habe es gegeben. Sie seien
aber nicht genutzt worden.
Zum Beispiel der [6][Annan-Plan], benannt nach dem früheren
UN-Generalsekretär Kofi Annan. Der Anfang 2004 vorgelegte Entwurf sah ein
Hybridmodell aus einem Bundesstaat (Forderung der Zyperngriechen) und einer
Union zweier souveräner Staaten (Forderung der Zyperntürken) vor. Der Plan
scheiterte. Während 65 Prozent der Zyperntürken den Annan-Plan in einer
Volksabstimmung befürworteten, lehnten ihn 76 Prozent der Zyperngriechen
ab.
Die Teilung ist zum Dauerzustand avanciert. Politisch. Geostrategisch.
Ökonomisch. Gesellschaftlich. Sprachlich. Kulturell. So wundert es nicht,
dass sich derweil ein eher abschätziger Spruch im Neugriechischen
eingebürgert hat: „Mach es nicht zypriotisch!“ Will heißen: „Komme zu e…
Ende!“ Die Gespräche zur Lösung des Zypernkonflikts liegen derweil auf Eis.
Im Inselnorden ist der 20. Juli der „Feiertag des Friedens und der
Freiheit.“ Der Präsident der Türkischen Republik Nordzypern (TRNC), Ersin
Tatar, wird mit seinem engen Verbündeten, den türkischen Staatspräsidenten
Recep Tayyip Erdoğan, die alljährliche Militärparade im Inselnorden
verfolgen. Der 64-Jährige ist in Nikosia, im damals noch vereinten Zypern,
geboren. Er ist Chef der nationalkonservativen UBP.
## 40.000 türkische Streitkräfte auf der Insel
Die Militärparade hat Symbolkraft. Dass „auf der Insel seit einem halben
Jahrhundert kein Blut und keine Tränen geflossen“ seien, sei auf die
Präsenz der „türkischen Friedenstruppen“ zurückzuführen, hebt Ersin Tat…
hervor. Die Türkischen Streitkräfte auf Zypern, in der Eigenbezeichnung
Türkische Friedenstruppe auf Zypern, unterstehen mit ihren geschätzt 40.000
Soldaten den türkischen Streitkräften.
Während die fortwährende massive Präsenz der türkischen Streitkräfte im
Inselnorden für die TRNC-Politelite unerlässlich ist, ist sie für die
Zyperngriechen neben der heiklen Sache türkische Siedler und Immobilien im
Inselnorden ein dritter Knackpunkt bei der Suche nach einer Lösung im
Zypernkonflikt.
Der Hardliner Tatar vertritt die Position, wonach es „die Realität sei,
dass es zwei getrennte Völker und zwei getrennte Staaten auf der Insel
gibt“. Erdoğan sieht das genauso. Denn nur ein souveräner TRNC-Staat ist
ein Baustein für sein im Westen weitgehend unbeachtetes Projekt der
Schaffung und Erweiterung einer Türkischen Welt, in der sich die türkische
Einflusssphäre vom Mutterland Türkei aus auf alle Gebiete erstreckt, in der
das Türkische präsent ist oder Turkvölker leben.
Das Konzept ähnelt der unter Putin forcierten Russischen Welt (Russki Mir).
Die organisatorische Struktur für Erdoğans Projekt wurde bereits
geschaffen. In der 2009 gegründeten Organisation der Turkstaaten (OTS) mit
Hauptsitz in Istanbul, deren Mitglieder die Türkei, Aserbaidschan,
Kasachstan, Kirgistan sowie Usbekistan sind, genießt die „Türkische
Republik Nordzypern“ einen Beobachterstatus.
Unterdessen lehnt der Präsident der Republik Zypern, Nikos Christodoulidis,
eine Zweistaatenlösung auf Zypern strikt ab. In seinem Amtssitz in Nikosia
wird er am 20. Juli unter Anwesenheit des griechischen Premiers Kyriakos
Mitsotakis eine Rede halten. Den Tenor gab Christodoulidis, der gerade
fünfzig Jahre alt ist und Zyperns erster Präsident aus der
Nachkriegsgeneration ist, bereits im Vorfeld preis: „Die Zyprer warten
geduldig, sie hoffen, sie kämpfen“, sagte er kürzlich bei einer Rede.
Wer glaubt, die Zyperngriechen hätten eine geschlossene Meinung in der
Causa Zypern, der irrt gewaltig. Einer im November 2022 veröffentlichten
Umfrage des zyprischen Staatssenders RIK zufolge sprachen sich 36 Prozent
der Befragten für ein Staatsmodell auf Zypern aus, wie es im Annan-Plan
vorgesehen war.
Ferner wollten 18 Prozent zwei unabhängige Staaten, 14 Prozent plädierten
für einen einheitlichen Staat, 13 Prozent waren für die Beibehaltung des
Status quo und sechs Prozent favorisierten einen Staatenbund zweier
souveräner Staaten. Zwei Prozent sprachen sich für einen Status quo ante
aus (wie vor 1974), falls erforderlich mit Gewalt.
Die Sirenen werden abermals heulen. Am Samstag, dem 20. Juli, um Schlag
5.30 Uhr werden sie daran erinnern, dass türkische Truppen im Morgengrauen
vor genau 50 Jahren in den Inselnorden einfielen. Das Leben wird seinen
gewohnten Gang gehen. In ganz Zypern.
20 Jul 2024
## LINKS
[1] https://www.zypern.de/beruehmtheiten/erzbischof-makarios-3/
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Operation_Atilla_(Turkish_Invasion_of_Cyprus)
[3] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/177377/zypernfrage/
[4] /Blutiges-Weihnachten-in-Zypern/!5980828
[5] /Gefluechtet-und-gestrandet-auf-Zypern/!5982018
[6] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-7-2010-5413_EN.html
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
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