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# taz.de -- „Blutiges Weihnachten“ in Zypern: Versöhnliche Knochen
> Am 21. Dezember 1963 eskaliert die Gewalt zwischen griechischen und
> türkischen Zyprioten. Eine gemeinsame Initiative sucht jetzt nach den
> Vermissten.
Bellapais/Nikosia taz | Mit höchster Konzentration, ganz behutsam, Schicht
für Schicht, trägt Ergin Taranci die vom Nieselregen feuchte Erde mit einer
Baggerschaufel ab. Nur eine unbedachte Bewegung, ein zu tiefes Ansetzen
reicht, um die unter der Erde womöglich liegenden Funde zu beschädigen.
Taranci ist erfahren, er leistet Präzisionsarbeit. Mit Argusaugen
beobachtet der Archäologe Ali Çulluoğlu, pechschwarzes Haar, Vollbart,
olivgrüne Hose, den Boden und die frisch abgetragene Erde auf der Schaufel,
bevor der versierte Baggerführer sie auf einen Haufen bereits abgetragener
Erde wirft. Immer wieder folgt der gleiche Vorgang. Schicht für Schicht.
Bis nackter Felsen zum Vorschein kommt.
Es ist Tag drei der Ausgrabungen an diesem ersten Donnerstag im Dezember in
einem leicht abschüssigen Waldstück ganz in Zyperns Norden unweit des
Dorfes, das griechisch [1][Bellapais] und türkisch Beylerbeyi heißt. Noch
haben die Forensiker Çulluoğlu und Co. nichts gefunden. Was sie beharrlich
suchen: menschliche Überreste. Schädel, Knochen, Knochensplitter, auch noch
so winzige. Aber auch Gegenstände: Ringe, Uhren, Kleidung, Schuhe. Ebenso
Goldzähne. Sie suchen alles, was sie zu den Vermissten führen könnte.
Ihre Spuren verlieren sich während der [2][türkischen Invasion Zyperns] im
Sommer 1974, in dem die Insel, am Schnittpunkt von Orient und Okzident
gelegen, schlagartig in das Interesse der Weltöffentlichkeit rückt.
Türkische Truppen landen am 20. Juli 1974 im Norden der Insel. Die Türkei
weitet ihre Invasion ab dem 14. August 1974 massiv aus. Das führt zur
faktischen Teilung von Zypern. Sie dauert bis heute an. Nikosia ist die
letzte geteilte Hauptstadt der Welt. Die Grenze verläuft mitten durch die
Altstadt.
„Wir graben hier bis zu einen Meter tief. Finden wir an dieser Stelle
nichts, graben wir daneben weiter“, erklärt Çulluoğlu. Sein sechsköpfiges
Team, drei griechische und drei türkische Zyprioten, ist vom CMP, dem
[3][Committee on missing Persons in Cyprus] (Komitee für die Vermissten in
Zypern). Die von CMP-Ermittlern gewonnene Information, wonach an dieser
Stelle drei Vermisste, darunter zwei Zivilisten und ein Offizier, alle
griechische Zyprioten, begraben sein sollen, sei von einem Augenzeugen,
somit einer Topquelle. Çulluoğlu hebt die Augenbrauen. „Nur wenn der
Hinweis stichhaltig ist, haben wir eine Chance, fündig zu werden.“
Çulluoğlu weiß, wovon er redet. Er arbeitet schon lange für das CMP. Die
Faustregel lautet: Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto schwieriger
wird es für die Ermittler von CMP, fundierte Angaben darüber zu finden, was
aus den Vermissten geworden ist, wo sie begraben liegen. Zeitzeugen
sterben. Wer noch lebt, der kann sich kaum oder gar nicht mehr daran
erinnern oder vertut sich, die richtige Stelle für eine Ausgrabung zu
finden.
Die Suche nach den Vermissten in Zypern betrifft ursprünglich genau 2.002
Personen. So viele stehen auf der offiziellen Liste vom CMP, im Jahr 2006
erstellt. 1.510 Fälle betreffen griechische, 492 Fälle türkische Zyprioten.
Maßgeblich türkisch-zypriotische Zivilisten verschwinden bei heftigen
Zusammenstößen zwischen beiden Volksgruppen. Sie nehmen am 21. Dezember
1963, vor genau sechzig Jahren, in der Altstadt von Nikosia ihren Anfang.
In den nächsten Tagen und Wochen heizen Radikale und Nationalisten beider
Lager den Konflikt an. Bewaffnete griechische Zyprioten wollen die Enosis,
die Vereinigung von Zypern mit Griechenland. Demgegenüber streben
bewaffnete türkische Zyprioten die Teilung Zyperns an: Taksim. Die
Extremisten prallen aufeinander.
In ganz Zypern werden Bewohner getötet, verletzt – oder sie verschwinden.
[4][Die Ereignisse ab dem 21. Dezember 1963] sind nach Lesart der
griechischen Zyprioten ein „türkisch-zypriotischer Aufstand“. Die
türkisch-zypriotische Seite nennt sie „blutige Weihnachten“. Sie gelten als
Vorbote für die Zuspitzung im Zypernkonflikt im Sommer 1974, in dem das
Gros der Vermissten auf der CMP-Liste verschwindet.
Die Vermissten zu finden, ist ein ungeheuer zähes, mühsames, schwieriges
Unterfangen. In fünf Phasen. Zuerst sichern die Ermittler von CMP
ausreichende Informationen. Das ist die Phase eins. Dann treten die
Archäologen in Aktion. Das ist die Phase zwei.
Das CMP hat 1.583 Ausgrabungen seit dem Beginn seiner Tätigkeit im Jahr
2006 durchgeführt, im Schnitt rund neunzig Ausgrabungen pro Jahr.
Gegenwärtig laufen sechs Ausgrabungen. Fünf in Zyperns Norden, eine im
Süden. Die größte befindet sich im Norden: In dem Dorf Atlilar (griechisch:
Aloa) befindet sich ein Massengrab. Viele Knochen sind zu sehen, ein
schauderhafter Anblick. 37 Personen aus dem Dorf gelten als vermisst, auch
sie seit dem Sommer 1974. Alle sind türkisch-zypriotische Zivilisten.
Frauen, Kinder, Alte.
Bei bisher 351 Ausgrabungen, rund einem Viertel aller Ausgrabungen, fand
das CMP menschliche Überreste von 1.223 Personen. 1.036 Individuen konnten
identifiziert werden. Dabei handelt es sich um 743 griechische und 293
türkische Zyprioten. 966 Personen der CMP-Liste gelten weiter als vermisst.
Davon sind 767 Personen griechische und 199 türkische Zyprioten.
Die Angehörigen der Vermissten leiden bis heute. Viele haben die Hoffnung
nicht aufgegeben, dass ihre Liebsten noch am Leben sind. Mustafa Kemal
Gökeri glaubt hingegen nicht, dass sein Vater noch lebt. „Er ist getötet
worden“, ist sich Gökeri sicher. Was bleibt: dessen Überreste endlich zu
finden. Seit fast sechzig Jahren wartet er nun schon darauf. Bisher
vergeblich.
Das Treffen mit ihm findet in Nord-Nikosia statt. Draußen regnet es in
Strömen. Gökeri, ein schlanker, großgewachsener Mann, ist sechs Jahre alt,
als sein Vater Cengiz Ratip am 14. Februar 1964 in ihrem Heimatort Ort
Polis in Zyperns Südwesten verschwindet. Tür an Tür leben damals in Polis
griechische und türkische Zyprioten. Sein Vater sei mit einem Freund im
Auto gesessen, in einem nagelneuen, blauen Fiat. Plötzlich seien sie
beschossen worden, wie Gökeri erzählt wird. Seither fehle von beiden jede
Spur. Auch der Fiat wurde nie gefunden.
Sein Vater, ein Abgeordneter in Zyperns Parlament, sei ein gemäßigter
Politiker gewesen. „Er setzte sich für die Koexistenz der beiden
Volksgruppen auf Zypern ein“, unterstreicht Gökeri. Dabei riskierte er auch
sein eigenes Leben. Hohe Wellen schlägt seine mutige Tat, von Polis in den
Ort Kokkina (türkisch: Erenköy) zu fahren, um einen Bus voller entführter
griechischer Zyprioten zu retten. Cengiz Ratip gelingt es, die
türkisch-zypriotischen Entführer dazu zu überreden, die Insassen
freizulassen. Cengiz Ratip ist stets darum bemüht, während der Konflikte
zwischen den beiden Volksgruppen die aufgeheizte Stimmung in Polis und
anderswo wieder zu beruhigen. Auch an jenem 14. Februar 1964, als er
beschossen wird und verschwindet. „Ich war zwar noch klein. Ich kann mich
jedoch daran erinnern, dass meine Mutter ständig weinte“, sagt Gökeri.
Groll, Wut oder gar Hass empfinde er nicht. Im Gegenteil. „Wir Zyprioten
sollten daran arbeiten, dass so etwas nie wieder passiert, was meinem Vater
zugestoßen ist.“ Sein größter Wunsch sei, dass die Überreste seines Vaters
gefunden werden, bevor seine Mutter stirbt. „Sie ist 96 Jahre alt. Ich
will, dass sie seine Überreste noch sieht und wir ihn angemessen bestatten
können.“ Auch Nikos Sergidis wartet. Darauf, dass die Überreste seines
jüngeren Bruders gefunden werden. Iosif Sergidis, geboren am 1. April 1953,
beginnt seinen obligatorischen Wehrdienst in der zypriotischen
Nationalgarde, der Ethniki Froura (EF), im Juli 1972. Im Juli 1974, nach 24
Monaten, wäre sein Wehrdienst abgelaufen.
Doch es kommt alles anders. Denn am 15. Juli 1974 putschen Offiziere der EF
mit Unterstützung der griechischen Militärjunta in Athen gegen Zyperns
Präsidenten, den Erzbischof Makarios III. Ziel des Putsches ist der
Anschluss Zyperns an Griechenland, die Enosis. Dazu kommt es nicht. Denn
fünf Tage später (am 20. Juli 1974) beginnt die Invasion der Türkei mit der
Landung regulärer türkischer Truppen im Norden der Insel unter dem
Decknamen Attila I. Schnell kontrollieren sie etwa drei Prozent der
Inselfläche. Nach einer Waffenruhe nutzt die Türkei ab dem 14. August die
Präsenz ihrer Truppen zu einer völkerrechtswidrigen Besetzung von Zyperns
Norden. Das Gebiet Nordzyperns, das durch die Operation Attila II besetzt
wird, macht 37 Prozent der Insel aus.
Beide Seiten verüben Gräueltaten. Es gibt Vermisste. Und viele Vertriebene.
Griechische Zyprioten, die mit insgesamt 506.000 Bewohnern 79 Prozent der
Inselbevölkerung stellten, werden aus dem türkisch besetzten Teil Zyperns
vertrieben oder flüchten in den Süden der Insel. Umgekehrt verlassen
türkische Zyprioten, die mit insgesamt 118.000 Bewohnern 19 Prozent der
Inselbevölkerung ausmachen, den Süden der Insel in Richtung Norden.
Iosif Sergidis, Scheitel, Brille, kämpfte gegen die türkischen Invasoren.
„Wir waren eine sehr verbundene Familie. Mit sieben Söhnen. Ich bin der
zweitälteste, Iosif der fünfte“, sagt sein Bruder Nikos Sergidis. Er
überreicht ein Schwarzweißfoto. Iosif sieht ihm verblüffend ähnlich. Nikos
Sergidis sitzt im ersten Stock eines unscheinbaren Gebäudes in Süd-Nikosia
in den Büros der Panzypriotischen Vereinigung der Angehörigen
nichtgemeldeter Kriegsgefangener und Vermisster. Vor ihm liegt eine Akte
mit braunem Deckblatt. Es ist die Personalakte seines vermissten Bruders.
Aktennummer: 899.
„Das letzte Mal habe ich meinen Bruder in der Waffenruhe Anfang August
gesehen“, erinnert sich Nikos Sergidis. Dann sei Iosif Sergidis wieder an
die Front im Norden gegangen. „Er war eine Hüne von Mann“, so Nikos
Sergidis. Zum Verhängnis wird Iosif Sergidis der Kampf auf dem strategisch
bedeutsamen Labatsa-Hügel im Nordwesten von Zypern zwischen den Dörfern
Kontemenos (türkisch: Kiliçarslan) und Skylloura (türkisch: Yilmazköy).
Der 21-Jährige leitet einen Zug aus zwei Dutzend Infanteristen. Der Kampf
von Sergidis’ kleiner Einheit gegen die türkischen Invasoren beginnt am 15.
August in der Mittagshitze um drei Uhr, er dauert zweieinhalb Stunden.
Sergidis und seine Soldaten kämpfen tapfer, haben aber gegen die Übermacht
der türkischen Truppen, die sie zudem mit der Luftwaffe beschießt, keine
Chance.
„Ich sah etwa 30 bis 35 tote Körper des Feindes herumliegen. Die Luft stank
fürchterlich. Ich wollte ihre Gewehre einsammeln, aber einige meiner
Soldaten mussten sich übergeben. Der Geruch war unerträglich. Sofort zog
ich meine Soldaten zurück. Die Gewehre ließ ich bei den Leichen liegen. Als
ich zu meinem Regiment zurückkehrte, befahl ich meinen Soldaten, ihre
Kleidung zu verbrennen und ein Bad zu nehmen. Später informierte mich ein
Oberstleutnant, dass sie die Waffen einsammeln und die Gegend bereinigen“,
schreibt der damalige türkische Kommandeur Turan Erdem in seinen Memoiren.
Das 1999 in Ankara auf Türkisch herausgegebene Buch hat Nikos Sergidis
gefunden. „Das Gelände wurde vom CMP gründlich untersucht. Dabei fand man
Knochensplitter. Etwa 300. Sie lagen verstreut herum. Ein bis zwei
Zentimeter lang, der längste sechs Zentimeter. Dazu noch einen Zahn. CMP
fand heraus, wem der Zahn gehörte. Der Zahn wurde der Familie übergeben.
Die Beerdigung in einem Friedhof fand mit diesem Zahn statt“, sagt er. Sein
Bruder Iosif bleibt vermisst, fast 50 Jahre nach dem Kampf auf dem
Labatsa-Hügel. Dennoch sagt Nikos Sergidis mit fester Stimme: „Wir können
mit den türkischen Zyprioten friedlich zusammenleben.“
Die drei großen, braunen Pappkartons mit der Aufschrift „Labatsa Hill“
stehen im obersten Fach eines Metallregals im Lagerraum des
anthropologischen Labors des CMP. Es liegt in der [5][Schutzzone der
UN-Friedenstruppe] auf dem weitläufigen Gelände des seit dem Sommer 1974
verwaisten Flughafens in Nikosia. Erstmals seit Jahren erhält ein
internationales Medium Zugang zum Labor. Was der seltene Einblick zeigt:
Das Labor besteht aus zwei Räumen zur Aufbewahrung der exhumierten
Überreste sowie aus zwei Bereichen für deren Analyse. Das ist die Phase
drei.
## DNA-Analyse winziger Knochen
Der Fall Labatsa-Hügel habe sie vor große Herausforderungen gestellt, räumt
das Teamleiter-Duo aus der griechischen Zypriotin Theodora Eleftheriou und
ihrer türkisch-zypriotischen Kollegin Engin Istenc gegenüber der taz ein.
„Jeder Mensch hat 206 Knochen. Das CMP fand 2009 auf dem Labatsa-Hügel
kleine bis winzige Knochensplitter. Sie passten gerade auf zwei Tische“,
erinnert sich Theodorou. Es habe kein Grab gegeben. Das erschwere eine
anthropologische Analyse sehr. „Liegen Knochen viele Jahre auf der
Bodenoberfläche, verändert sich im Sonnenlicht ihre Farbe. Sie sind nicht
mehr dunkelbraun bis schwarz, sondern weiß.“
Die Aufgabe des Duos: die exhumierten Überreste analysieren, um die
Identität einer vermissten Person festzustellen. Zwei bikommunale Teams
unter Leitung von Eleftheriou und Istenc erstellen ein biologisches Profil
der Person, einschließlich Geschlecht, Größe, Alter zum Zeitpunkt des Todes
und anderer individueller Merkmale. Kleine Knochenproben werden entnommen
und zur DNA-Analyse in die USA geschickt.
„Das ist ein zerstörerischer Prozess. Der Knochen wird zu Puder zermahlen.
Das geht verloren“, erklärt Istenc. Es bleibt keine andere Wahl. Diese
Analysen führen zur Identifizierung vermisster Personen. Die Proben werden
mit den genetischen Profilen der Verwandten der Vermissten abgeglichen.
Eine [6][DNA-Identifizierung] gilt erst dann als erfolgreich, falls eine
Übereinstimmung zu 99,95 Prozent erreicht oder überschritten wird.
Die Ergebnisse werden an das CMP-Labor zurückgeschickt. Das Genetikerteam
des CMP, bikommunal von der türkischen Zypriotin Gülbanu Zorba und ihrer
griechisch-zypriotischen Kollegin Katerina Papaioannou geleitet, untersucht
und bestätigt die Übereinstimmung. Das ist die Phase vier. Im Fall
Labatsa-Hügel dauerte es zwölf Jahre, bis das CMP insgesamt 20 Personen
zweifelsfrei identifizierte. Vier Personen bleiben vermisst. Darunter ist
Iosif Sergidis.
Für Leonidas Pantelidis ein Ansporn, so lange nicht locker zu lassen, bis
die Überreste der übrigen 966 Vermissten der CMP-Liste gefunden werden.
Seit Mitte 2019 ist er das von der Republik Zypern entsandte
griechisch-zypriotische Mitglied im CMP. Pantelidis war in Washington und
Moskau Zyperns Botschafter. Ein Top-Diplomat.
Er empfängt in seinem Büro in einem Regierungsgebäude im Süden von Nikosia.
„Ich erhielt einen Anruf vom damaligen Staatspräsidenten Nikos
Anastasiadis. Er bat mich, den vakanten Posten zu übernehmen. Um ehrlich zu
sein, ich habe ihn um Bedenkzeit gebeten. Ich wusste, dass dies eine
unglaublich schwierige Aufgabe ist. Ich entschied: Das ist etwas
Einzigartiges. Ich mache das!“
Sein türkisch-zypriotisches Pendant ist Hakki Müftüzade, auch ein früherer
Diplomat. Den Besucher empfängt er in seinem Büro in Nord-Nikosia. Er
lässt türkischen Tee servieren. „Mit Leonidas verstehe ich mich blendend“,
wie Hakki Müftüzade betont.
Beide, Pantelidis und Müftüzade, blicken nicht in die Vergangenheit. Sie
wollen die Überreste der Vermissten finden. Unerheblich sei es, welcher
Volksgruppe sie angehören, wie sie unisono betonen. Egal sei ebenso, ob sie
bei den gewalttätigen Ereignissen 1963, 1964 oder 1974 verschwunden seien.
Ihr Ziel: Angaben über den Verbleib der Vermissten einholen, die Überreste
suchen, analysieren, identifizieren. Alles gemeinsam.
Das CMP ist ein Hort der Versöhnung beider Volksgruppen. Mit
Vorbildfunktion. Ob Eleftheriou, Istenc, Zorba, Papaioannou oder das übrige
CMP-Personal: Sie gingen je nach Volksgruppe in getrennte Schulen, kamen
nie in Berührung, obgleich sie auf der gleichen Insel leben. Im CMP lernte
man sich kennen, schmiedete Freundschaften. Ein junges, ambitioniertes
Team. Ihre gemeinsame Sprache im Job und nach Feierabend: Englisch. Gülbanu
Zorba sagt: „Wenn Katerina erkrankt, leide ich mit ihr. Umgekehrt genauso.“
Katerina Papaioannou nickt lächelnd.
Für den Forensiker Mete Tosun, einen türkischen Zyprioten, bot die Arbeit
im CMP eine ganz persönliche Erfahrung. Tosun fand 2014 bei einer
Ausgrabung einen goldenen Zahn. Er führt zu Fahri Totkuy, den Mann seiner
Tante, wie er enthüllt. Totkuy, ein Gemüsehändler, war seit 1963 vermisst.
„Er wurde auf der Straße entführt.“ Dass ausgerechnet er seine Überreste
fand, habe ihn „ziemlich aufgewühlt“. „Ich versuche, professionell damit
umzugehen“, sagt Mete Tosun der taz auf dem Areal der Ausgrabung in
Bellapais/Beylerbeyi. Man sieht, dass er hier mit der gleichen Hingabe die
Überreste griechischer Zyprioten sucht.
Den bikommunalen Charakter des CMP zu betonen, liegt auch Bruce Koepke am
Herzen. Der Deutschaustralier ist das, wie es heißt, „dritte Mitglied“ im
CMP. Seit 19 Jahren arbeitet Koepke für die UNO, stets in Konfliktzonen. Er
war in Afghanistan, im Irak, im Jemen. „Meine Aufgabe ist es, beide Seiten
zu ermutigen, die fruchtbare Kooperation fortzusetzen“, sagt er im
CMP-Gebäude des UNO-Mitglieds in der „Grünen Linie“ in Nikosia, der
UNO-Pufferzone unter Verwaltung der UN-Friedenstruppen.
„Das CMP lebt vom Konsens aller drei Seiten – der griechisch-zypriotischen,
der türkisch-zypriotischen und der UNO“, so Koepke. Dem CMP gehe es bewusst
nicht um eine historische Aufarbeitung der Geschehnisse. „Die Arbeit des
Komitees hat laut CMP-Mandat einen zutiefst humanitären Charakter“, so
Koepke.
Das würdigt die Staatengemeinschaft. Die EU hat dem CMP seit 2006 knapp 36
Millionen Euro gespendet, allein 2,6 Millionen Euro in diesem Jahr. Gut 10
Millionen Euro steuerten ferner 19 Staaten bei, darunter auch Deutschland.
Ebenso helfen Privatspender. Das CMP-Budget beträgt in diesem Jahr 3,2
Millionen Euro. Etwa die Hälfte der Ausgaben betreffen Ausgrabungen und
Exhumierungen.
Was Koepke im Gespräch mit der taz umtreibt: „Unsere Kosten steigen. Der
Treibstoff, das Material, das Mieten von Baumaschinen und anderen
Fahrzeugen, die DNA-Analysen, der gesamte Aufwand. Viele Stellen, wo
Vermisste vermutet werden, sind mittlerweile zugebaut und müssen nach einer
Ausgrabung restauriert werden. Die Kompensationskosten verteuern die
Ausgrabungen immens.“ Fest steht: Das Knowhow des CMP ist gefragt.
Spezialisten aus aller Welt, die Vermisste in ihren Ländern suchen, kommen
nach Zypern. Gerade sind Experten aus Aserbaidschan im CMP-Labor, eine
Delegation aus Irland hat sich angekündigt.
## Rückgabe an Angehörige
Der Höhepunkt der Arbeit des CMP ist die Rückgabe der Überreste an die
Angehörigen. Das ist die Phase fünf. Das geht so: Betroffene
Familienangehörige werden in den sogenannten Viewing Room des CMP
eingeladen. Dort treffen sie die an der Identifizierung beteiligten
CMP-Wissenschaftler in einem eigens dafür vorgesehenen Raum. Per
Powerpoint-Präsentation erhalten sie einen Einblick in den Prozess von der
Phase eins bis vier. Auf einem Tisch befinden sich die sterblichen
Überreste ihrer Angehörigen, auf einem kleineren Tisch dahinter ist ein
großes Foto von ihm oder ihr aufgestellt. Psychologen vom CMP helfen bei
den Vorbereitungen für die Beerdigung. Wünscht es die Familie, bieten sie
ihre Hilfe bis zu zwei Jahre nach der Beerdigung an.
Angela Ioannou, eine griechische Zypriotin mit einer einfühlsamen Stimme,
hat schon viele Rückgaben der Überreste mitverantwortet. Im
[7][CMP-Viewing-Room] beschreibt sie der taz die hoch emotionalen Szenen,
die sich hier abspielen. „Jede Familie ist anders. Manche weinen. Andere
sind stumm. Es ist in diesem Moment für sie so, als ob ihr Angehöriger erst
gestern verstorben ist.“
Der Wunsch einer älteren Dame habe sie sehr gerührt, offenbart Angela
Ioannou. Ihr Sohn, ein Soldat der Zypriotischen Nationalgarde, verschwindet
im Sommer 1974. „Sie hatte einen Anzug mit dabei. Eine schwarze Hose, ein
schwarzes Sakko und ein weißes Hemd. Sie sagte mir: ‚Angela, ich habe auf
ihn gewartet. Jetzt ist mein Sohn da‘. Sie sagte mir dann: ‚Ich habe seinen
Anzug aufbewahrt. Jetzt ist der Moment, wo er ihn anhaben soll.‘“
21 Dec 2023
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bellapais_(Abtei)
[2] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/32116/historische-hintergruende-…
[3] https://www.cmp-cyprus.org/
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Blutige_Weihnachten_(1963)
[5] /Angriff-auf-UN-Friedensmission-in-Zypern/!5954571
[6] /Umgang-mit-menschlichen-Ueberresten/!5956616
[7] https://www.cmp-cyprus.org/pictures/
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
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