# taz.de -- Griechenland nach der Finanzkrise: Kampf ums blaue Gold | |
> Die EU investierte Hunderte von Milliarden Euro in die griechische | |
> Wirtschaft. Mittlerweile erholt sie sich. Doch davon profitieren nicht | |
> alle gleich. | |
KALAMATA, LARYMNA UND GREVENA taz | Die Aussicht von der Terrasse ist | |
atemberaubend schön. Der sanfte Wind kräuselt das blassblaue Meer, der | |
Blick schweift über die palmengesäumte Strandpromenade, die Dächer der | |
Stadt glitzern in der Abendsonne. Dimitrios Patriarcheas, 43, pechschwarzes | |
Haar, blütenweißes Hemd und perfekt sitzende Krawatte, spricht mit fester | |
Stimme. „Wir sorgen dafür, die drei wichtigsten menschlichen Bedürfnisse zu | |
decken: Unterkunft, Nahrung, Sicherheit.“ Er untertreibt. Patriarcheas’ | |
Fünf-Sterne-Hotel Messinian Icon hat 36 Zimmer mit Meerblick, einen | |
weitläufigen Frühstücksbereich mit teurem Marmorboden sowie ein | |
Schwimmbecken und liegt auf einer Anhöhe im östlichen Vorort Verga der | |
Küstenstadt Kalamata im Süden der griechischen Halbinsel Peloponnes. | |
Patriarcheas ist Hotelier in zweiter Generation. Das Handwerk lernte er | |
schon früh. Er selbst war noch ein kleiner Junge, als Ende der 1980er Jahre | |
ein Hotel in Verga zum Verkauf stand. Prompt habe sein Vater zu Dimitrios’ | |
Onkeln, die alle zuvor in Kalamata Obst und Gemüse verkauften, gesagt: „Wir | |
kaufen das, wir wechseln die Arbeit!“ Gesagt, getan. Hernach kam ein | |
Stadthotel hinzu. Schließlich erwarb das Trio unbebautes Land am Fuß des | |
Hügels in Verga, just an jener Stelle, wo heute das noble Flaggschiff der | |
drei Patriarcheas-Herbergen in Kalamata steht. | |
Bis zur Fertigstellung war es jedoch ein mühsamer, steiniger Weg. Den Bau | |
bremsten zuerst die Turbulenzen nach dem Kollaps der US-Bank [1][Lehman | |
Brothers], die bis ins ferne Kalamata überschwappten. Die Eurokrise folgte. | |
Im Epizentrum: Griechenland. Für Hellas waren die zehner Jahre ein | |
Desaster. Der Staat war pleite, die Banken wurden zu Zombies. Athen | |
brauchte dringend Geld, setzte einen Notruf ab. | |
Die EU, die EZB und der IWF sprangen in die Bresche – auch aus Eigennutz. | |
Kredite im Umfang von 289 Milliarden Euro flossen in Tranchen nach Athen, | |
bis Griechenland im August 2018 finanzpolitisch wieder auf eigenen Beinen | |
stand. Im Gegenzug bürdeten die neuen Gläubiger den Regierungen in Athen | |
einen rigorosen Sparkurs auf. [2][Das tat weh.] Die Gehälter, Löhne und | |
Renten brachen abrupt um im Schnitt ein Drittel ein. Die Arbeitslosigkeit | |
schnellte auf fast 30 Prozent in die Höhe. Unter den jungen Menschen | |
suchten sogar 60 Prozent einen Job, so viele wie sonst nirgendwo in Europa. | |
Hunderttausende meist junge und gut qualifizierte Griechinnen und Griechen | |
verließen das Land, um eine bessere Zukunft zu finden. Stichwort: | |
„Braindrain“, „die Flucht der klugen Köpfe“. „Wir Griechen hätten u… | |
Staatsschuldenkrise schneller überwinden müssen. Wir haben viel produktive | |
Zeit verloren. Das macht mich in der Rückschau traurig“, sagt Patriarcheas. | |
Er blieb, überstand die Krise. Nach „Mühen und Qualen“ öffnete sein | |
Luxushotel im Frühjahr 2019 seine Pforten. Unterm Strich seien die Gelder | |
der EU entscheidend gewesen, um sein neues Luxushotel bauen zu können – | |
wenn auch mit Verzug. „Wie sonst hätten wir das Kapital aufbringen | |
können?“, räumt der Hotelier unverhohlen ein. Etwa die Hälfte der | |
Gesamtinvestition sei durch EU-Gelder finanziert, so Patriarcheas. Der | |
Anteil der bereitgestellten EU-Gelder sei so hoch, weil sein Luxushotel den | |
qualitativ hochwertigen Tourismus fördere, ein erklärtes Ziel | |
Griechenlands. Während Hellas kollabierte, flossen die üppigen EU-Gelder | |
weiter. Für Patriarcheas war das Geld aus Brüssel das blaue Gold. | |
„Ohne die EU hätte Griechenland nicht den Frieden und Wohlstand, den wir | |
bis jetzt erlebt haben“, sagt der Hotelier und fügt hinzu: „Vergessen wir | |
nicht: Hier herrschte von 1967 bis 1974 die Militärjunta. Die Demokratie | |
war ausgesetzt, die Verfassung gebrochen. Erst danach fing das Land an, | |
sich zu erneuern. Ich möchte glauben, dass wir die meisten | |
Kinderkrankheiten überstanden haben und uns dem EU-Durchschnitt | |
angleichen.“ Mit Blick auf die Europawahlen sagt er: „Ich glaube an Europa. | |
Ich bin dafür, dass wir die EU vertiefen. Nicht nur ökonomisch, sondern auf | |
allen Ebenen.“ | |
Das Gros der Griechen sieht das genauso. Laut dem jüngsten Eurobarometer | |
sagen sieben von zehn Befragten, der EU-Beitritt 1981 habe Griechenland | |
genutzt. Im Siebenjahreszeitraum 2021 bis 2027 fließen EU-Mittelzuweisungen | |
von insgesamt 57,35 Milliarden Euro nach Athen – eine in Relation zur | |
hiesigen Wirtschaftsleistung enorme Summe. Das entspricht Jahr für Jahr | |
rund 4 Prozent des griechischen BIP. | |
Die EU-Gelder sind ein wahrer Booster für Hellas’ Wirtschaft. Der | |
[3][Economist] kürte Griechenland zur besten Wirtschaft 2023, zum zweiten | |
Mal in Folge. Dafür untersuchte das britische Magazin fünf | |
Wirtschaftsindikatoren in 35 OECD-Staaten. Darunter sind die Inflation, die | |
Inflationsbreite, das BIP, Beschäftigungswachstum sowie die | |
Börsenentwicklung. 2023 ging es vor allem an der Athener Börse nach oben, | |
griechische Aktien legten um rund 43 Prozent zu. | |
Patriarcheas schlürft griechischen Mokka aus einer Tasse. Seit der vorigen | |
Saison geht es für den Hotelier steil nach oben, er sprüht vor Zuversicht. | |
„2023 war unser bisheriges Rekordjahr, 2024 läuft noch besser.“ Die | |
Frühbuchungen lägen um satte 22 Prozent über denen des Vorjahres, offenbart | |
er. Damit liegt sein Hotel voll im landesweiten Trend. Hellas steht in | |
diesem Jahr vor einem neuen Tourismusrekord, die Reisebranche ist der | |
Wachstumsmotor Nummer eins. Etwa ein Viertel der griechischen | |
Wirtschaftsleistung wird im Tourismus generiert. Kritiker warnen: Der | |
Tourismus sei eine äußerst anfällige Monokultur, monieren sie. | |
Ob eine neue Autobahn von Athen nach Kalamata oder ein eigener, | |
internationaler Flughafen: Kalamata mit seinen knapp 60.000 Einwohnern | |
boomt. Der Ort ist blitzsauber, neue Restaurants, Bistros und gemütliche | |
Cafés sprießen wie Pilze aus dem Boden. Patriarcheas befürwortet das. „Geht | |
es Kalamata gut, dann geht es auch mir gut.“ Seine einzige Sorge sei, dass | |
er Personal suche, aber keines finde. „Im Empfang, in der Bedienung, zur | |
Zimmerreinigung.“ | |
Griechenlands Wirtschaft erholt sich wieder. Das kommt aber nicht [4][bei | |
allen an]. Die einen verdanken der EU ihr Vorankommen, die anderen sehen in | |
ihr einen Grund für ihren wirtschaftlichen Ruin. Die Staatspleite mag | |
überwunden sein, das Verhältnis der Griechen zur EU bleibt indes nicht ohne | |
Schatten. „Viele Bürger können die positiven Aspekte unseres gemeinsamen | |
europäischen Projekts nicht erkennen. Diese Unwissenheit wird von | |
populistischen Parteien ausgenutzt, die versuchen, die Spaltung in der EU | |
zu erwirken“, sagt der Hotelier. | |
Auch Nikos Rinnas fällt es schwer, das Positive zu sehen. Er fährt seinen | |
alten VW Passat auf das Werksgelände, im Auto spielt die Musik von Magna | |
Carta, einer englischen Folk-Rock-Gruppe. Prüfend schaut er seinen | |
Beifahrer an. „Das ist meine Lieblingsband“, sagt er lapidar und hält an. | |
Der 58-Jährige mit den sehr langen, grauen Haaren, die er zu einem Zopf | |
gebunden hat, ist ein Hüne von Mann. Große Tränensäcke, tiefe Falten im | |
Gesicht, ein geschundener Körper: Es ist ihm leicht anzusehen, dass er sein | |
Leben lang Schwerstarbeit geleistet hat. Vor genau 36 Jahren, am 3. Juni | |
1988, fing Nikos Rinnas an, in der Schwerindustrie zu arbeiten, besser: zu | |
schuften, stets im Dreischichtbetrieb. Rinnas hat den härtesten Job in der | |
Metallfabrik der Firma Larco im Ort Larymna. Er arbeitet an den vier | |
Drehrohr- und fünf Elektrolichtbogenöfen. Larco stellt Ferronickel her, | |
eine Kombination aus Eisen und Nickel. | |
Das geht so: das Erz wird getrocknet, gebrannt, vorgewärmt, geschmolzen, | |
getrennt. Das Endprodukt Ferronickel ist gewonnen. Das Verfahren, die | |
Pyrometallurgie, ist irrsinig stromfressend. In den Öfen herrschen | |
Temperaturen von bis zu 1.700 Grad Celsius. Die Wärmestrahlung in der | |
geschlossenen Fabrikhalle ist enorm. „Die Hitze ist unerträglich“, sagt | |
Nikos Rinnas. Heute, an diesem frühsommerlichen Freitag Ende Mai, geht | |
seine Schicht von 14 Uhr bis 22 Uhr. Rinnas wird, genauso wie er es die | |
letzten 36 Jahre getan hat, pünktlich an seinem Arbeitsplatz erscheinen. | |
Nur: Er hat nichts zu tun. Denn das Larco-Werk ist seit dem 31. Juli 2022 | |
stillgelegt. | |
Das entschied die Regierung in Athen unter dem konservativen [5][Premier | |
Kyriakos Mitsotakis.] Sie peitschte die Stilllegung des Larco-Werks in | |
Larymna gegen den erbitterten Widerstand der Belegschaft durch. Ökonomisch | |
ist das kaum einzusehen. Denn am 8. März 2022, unmittelbar nach Russlands | |
Invasion in die Ukraine, war der Nickelpreis an der Londoner Metallbörse | |
auf einen unglaublichen Rekordpreis von 101.365 US-Dollar pro Tonne | |
explodiert. Der Handel wurde ausgesetzt. | |
## 700 Millionen Euro verschenkt | |
Doch die Regierung Mitsotakis beharrte darauf, das Werk in Larymna Ende | |
Juli des gleichen Jahres stillzulegen – und die gesamte Belegschaft von | |
1.060 Beschäftigten auf einen Schlag zu entlassen. Auf Grundlage des | |
Nickelpreises von im Schnitt 20.000 US-Dollar pro Tonne hätte Larco seit | |
der Stilllegung des Werkes Einnahmen von über 700 Millionen Euro erzielen | |
können. Mitsotakis zieht es hingegen vor, dass das Werk in Larymna ohne | |
ernsthafte Wartung vor sich hin rostet. Die Larco-Mitarbeiter geben nicht | |
auf. „Wir warten an unserem Arbeitsplatz in der Fabrik darauf, dass es | |
wieder losgeht. Wir werden niemals aufgeben“, gibt sich Nikos Rinnas | |
kämpferisch. | |
Rinnas zeigt auf die Häuser in der Arbeitersiedlung. „Die Familien kamen | |
aus ganz Griechenland hierher, um zu arbeiten. Alles war voller Leben. Mit | |
Schulen, Kindergärten, Sportanlagen, Kirchen. Wir hatten sogar ein tolles | |
Kino“, sagt er. Jetzt denkt Nikos Rinnas, er sei in einem schlechten Film. | |
Der Fall Larco ist bei näherer Betrachtung ein großer Skandal. Politisch. | |
Ökonomisch. Ökologisch. | |
Gegründet wird das anfangs private Unternehmen 1963. Die Metallfabrik im | |
Dorf Larymna, 130 Kilometer nördlich von Athen, ist 1966 fertig. Die | |
Industrieanlage ist ein Monstrum mitten in einer hübschen Landschaft, | |
schafft jedoch Jobs im damals noch sehr rückständigen Griechenland. In der | |
Fabrik, im Tagebau und den Minen beschäftigt Larco 1.370 Arbeiter. | |
Larco wird zum unangefochten größten Hersteller von Ferronickel in Europa | |
und zu einem der fünf größten Produzenten in der Welt. Das Erz, ein | |
nickelhaltiges Goethit, hauptsächlich im Tagebau an den firmeneigenen | |
Standorten in Griechenland gefördert, wird zur Metallfabrik in Larymna | |
gebracht. Larco ist ein Pionier: 1977 ist das erste, gut sieben Kilometer | |
lange Langförderband Europas fertig, das die Kosten des Erztransports | |
senkt. | |
Larco stellt jährlich rund 20.000 Tonnen hochreinen, kohlenstoffarmen | |
Ferronickel her. Verwendung findet Nickel zur Herstellung von rostfreiem | |
Stahl. Großkunden aus ganz Europa kaufen den begehrten Rohstoff aus | |
Griechenland. 1979 stirbt der Firmeneigentümer, der Niedergang beginnt. | |
1982 bringt die sozialistische Regierung unter Premier Andreas Papandreou | |
Larco unter öffentliche Kontrolle, 1989 wird Larco verstaatlicht. | |
Als Staatsfirma wird das Unternehmen wieder rentabel. In den nuller Jahren | |
werden 60 Millionen Euro in die Modernisierung der Produktion investiert. | |
Alles scheint gut zu laufen. Doch ausgerechnet ein von der damaligen | |
konservativen Regierungpartei Nea Dimokratia (ND) eingesetzter | |
Larco-Geschäftsführer sorgt dafür, dass Larco sowohl gewaltige Einnahmen | |
entgehen als auch erhebliche Verluste entstehen. | |
## Larco-Drama geht weiter | |
Das passiert so: Der Larco-Manager, ein Ex-Banker, verkauft im Februar 2007 | |
vorab Teile der Firmenproduktion von 2006 bis Anfang 2009 zu einem | |
Festpreis von 18.500 US-Dollar pro Tonne Nickel an die US-Investmentbank J. | |
P. Morgan. Pikanterweise tat dies der besagte Larco-Manager, obgleich der | |
Nickelpreis just im Februar 2007 bereits auf 39.000 US-Dollar gestiegen | |
war. Tendenz: stark steigend. Der Nickelpreis geht durch die Decke. Schon | |
drei Monate später, im Mai 2007, kostet eine Tonne 49.500 US-Dollar. Für | |
Larco ist der dubiose Vorverkauf ein gigantisches Minusgeschäft. In den | |
Chefetagen von J. P. Morgan reibt man sich hingegen die Hände. | |
Doch damit nicht genug. Die damalige Larco-Leitung unter einem ND-Mann, dem | |
Vater eines Ministers der heutigen ND-Regierung, kündigt 2008 vorzeitig den | |
Vertrag mit J. P. Morgan – unter Zahlung einer hohen Strafgebühr. Doch | |
diesmal bricht der Nickelpreis ein. Im März 2009 kostet eine Tonne Nickel | |
unter 8.000 US-Dollar. Erneut lacht sich J. P. Morgan ins Fäustchen. | |
Das Larco-Drama nimmt kein Ende. Nach Hellas’ faktischem Staatsbankrott im | |
Frühjahr 2010 scheitern Privatisierungsversuche. Die seit dem 8. Juli 2019 | |
in Athen allein regierende ND unter Premier Mitsotakis ist wild | |
entschlossen, Larco zu privatisieren. | |
Ende Januar 2023 erhält ein Konsortium unter Führung des griechischen | |
Mischkonzerns GEK Terna den Zuschlag für die Larco-Übernahme. Der | |
Larco-Deal ist ein Paradebeispiel für familiäre Verflechtungen zwischen der | |
ND und Großfirmen: Der Schwiegervater von Georgios Gerapetritis, die rechte | |
Hand von Premier Mitsotakis und Außenminister, ist GEK Ternas Nummer zwei. | |
Ob Autobahnen, Windparks, die Müllverwertung oder nun Larco: GEK Terna | |
erhält einen Auftrag nach dem nächsten. Noch ist der Larco-Deal nicht in | |
trockenen Tüchern. | |
Ein irischer Mitanbieter klagt gegen seinen Ausschluss. Läppische 6 | |
Millionen Euro will GEK Terna für Larco, die Tagebaustätten und Minen | |
eingeschlossen, hinblättern – und wäre zugleich von Larcos Schulden | |
befreit. Die Regierung Mitsotakis beziffert sie auf 600 Millionen Euro, | |
davon entfällt mehr als die Hälfte auf offene Stromzahlungen. Den Strom | |
hatte Larco weit über dem üblichen Marktpreis von der DEI, einem der | |
Larco-Anteilseigner, eingekauft. Auch dies ist ein Korruptionsskandal. | |
Der Einstieg bei Larco bärge für den Privatinvestor ein ungeheures | |
Potenzial. Das von Larco geförderte griechische Erz birgt neben Nickel | |
einen noch viel kostbareren – bisher verborgenen – Bodenschatz: Kobalt, das | |
– mit Blick auf dessen Farbe – blaue Gold. Der Rohstoff wird für Batterien | |
verwendet, der globale Bedarf wird mit der Elektromobilität deutlich | |
steigen. Ein E-Auto benötigt etwa 5 bis 10 Kilo Kobalt. | |
Weil Larco bisher nicht in ein anderes Fertigungsverfahren, der | |
Hydrometallurgie, investiert hat, konnte sie das im Ferronickel enthaltene | |
Kobalt nicht vom Nickel trennen. Larco könnte per Hydrometallurgie extra | |
bis zu 3.000 Tonnen Kobalt pro Jahr produzieren und so einen erheblichen | |
Teil des Bedarfs an Kobalt in Europa decken, so Experten. Die EU muss das | |
Kobalt bisher fast ausschließlich aus Drittstaaten wie dem Kongo, dessen | |
Minen von [6][China kontrolliert werden], einkaufen. | |
Zuallererst würden sich die Aktionäre des Privatinvestors freuen. Denn hohe | |
Gewinne dürften hohe Dividenden mit sich bringen. Das ist hierzulande sehr | |
einträglich. Denn die Regierung Mitsotakis hat die Dividendensteuer auf 5 | |
Prozent gesenkt, in Deutschland beträgt der Steuersatz dafür 25 Prozent. So | |
würde sich der Kreis schließen, auch im Fall Larco. | |
Diese Steuerpolitik passt ganz zu Mitsotakis’ tiefer ökonomischen | |
Überzeugung der Trickle-down-Ökonomie („trickle down“ auf Deutsch: „nach | |
unten rieseln“). Sie beschreibt die Überzeugung, wonach der Wohlstand der | |
Reichsten einer Gesellschaft nach und nach durch Konsum und Investitionen | |
in die unteren Schichten der Gesellschaft durchrieseln und so zu | |
Wirtschaftswachstum führe, von dem letztlich alle profitieren. Die Anhänger | |
dieser Theorie fordern radikale Steuersenkungen für die Reichen. Genau das | |
praktiziert die Regierung Mitsotakis. Alle an der Athener Aktienbörse | |
gelisteten Unternehmen erzielten 2023 einen Reingewinn von insgesamt 10,5 | |
Milliarden Euro, sie schütteten 3,8 Milliarden Euro an Dividenden aus. Der | |
deutsche Fiskus hätte davon 950 Millionen Euro eingestrichen, der chronisch | |
klamme hellenische Fiskus will nur 190 Millionen Euro haben. | |
Andere gucken in die Röhre. Nikos Rinnas, der ungewollt untätige | |
Schichtarbeiter in der stillgelegten Larco-Metallfabrik, lässt seinem Frust | |
freien Lauf. Er empfinde Zorn und Wut, poltert er. Er bekomme zwar, so wie | |
die etwa 850 verbliebenen Larco-Mitarbeiter, noch sein Gehalt ausbezahlt. | |
Er erhalte 1.800 Euro im Monat, mit 36 Arbeitsjahren auf dem Buckel. Die | |
meisten seiner Kollegen müssten sich mit etwa 1.000 Euro im Monat begnügen. | |
Der Haken dabei ist, dass ihre zuvor unbefristeten Arbeitsverträge nach | |
ihrer Entlassung Ende Juli 2022 in befristete Verträge umgewandelt worden | |
sind. Immer wenn sie ablaufen, müssen sie vor Gericht für deren | |
Verlängerung kämpfen, eine Fortsetzung ihrer Lohnzahlungen inklusive. Das | |
geht seit fast zwei Jahren so. Der nächste Gerichtstermin ist für den 18. | |
Juni anberaumt, neun Tage nach den Europawahlen. | |
Apropos EU: Rinnas rechnet knallhart mit ihr ab. Für ihn haben alle | |
proeuropäischen Parteien in Athen Hand in Hand mit Brüssel Larco an den | |
Abgrund manövriert. Dass die EU in der Causa Larco Kapitalspritzen in Höhe | |
von 135 Millionen Euro als unerlaubte Staatssubvention einstufte, die | |
zurückzuerstatten sei, und das ohnehin angeschlagene Unternehmen somit noch | |
mehr in die Bredouille brachte, befeuert Rinnas’ tiefe Abneigung gegen die | |
EU. Seine Sorge sei, dass im Zuge des Einstiegs eines Privatinvestors bei | |
Larco die Vertretung der Arbeitnehmer zerschlagen werde. Doch die | |
Larco-Mitarbeiter haben noch Hoffnung: aber diese liegt für sie nicht | |
rechts, sondern links. Ganz links. Standen lange die meisten in der | |
Larco-Arbeitnehmervertretung den bürgerlichen Parteien ND (konservativ) | |
oder Pasok (sozialdemokratisch) nahe, sind es derweil die Gewerkschaft | |
Pame der Kommunistischen Partei (KKE) sowie andere Linke. | |
Die EU sei bloß „eine Allianz der Monopole, eine transnationale | |
imperialistische Union, ein Gegner der Völker“, ätzt die KKE vor den | |
Europawahlen. „Die EU kann nicht zum Besseren verändert werden! Sie wird | |
nur noch schlimmer!“ Erklärtes Ziel der KKE ist daher Griechenlands | |
Austritt aus der EU. Dennoch ruft sie zur Teilnahme an den Europawahlen | |
auf. Die Wähler sollen mehr als wie bisher zwei Kommunisten nach Brüssel | |
und Straßburg entsenden. | |
In Grevena gibt es weder Tourismus noch Industrie. Die nordgriechische | |
Stadt, 20.000 Einwohner, von über 2.000 Meter hohen Bergen umrahmt, 530 | |
Meter über dem Meeresspiegel im Tal des Oberlaufs des Flusses Aliakmonas | |
und einiger Nebenflüsse gelegen, liegt in Westmakedonien, in einer der | |
ärmsten Regionen Griechenlands. Im Herzen von Grevena, auf dem | |
„Emilianou“-Platz, wartet Nancy Liantsi auf das Gespräch. Die 18-jährige | |
hat gerade die Schule abgeschlossen. Sie sieht Griechenland weiter in der | |
Krise. „Die Preise steigen, die Kaufkraft sinkt. Die Krise ist nicht | |
vorbei“, sagt sie. | |
Die Zahlen geben ihr recht. Griechenland ist in puncto Kaufkraft pro Kopf | |
auf den vorletzten Platz in der EU 27 gerutscht. Nur das Schlusslicht | |
Bulgarien liegt noch knapp hinter Hellas, holt aber auf. Kein Wunder: das | |
griechische Jahresgehalt belief sich 2023 im Schnitt auf 17.707 Euro netto. | |
Das ist so viel wie 2006 und satte 10.510 Euro weniger als im Schnitt in | |
der EU 27. Dabei arbeiten die Griechen von allen Europäern am längsten. | |
Laut Eurostat waren es 2023 genau 39,8 Stunden pro Woche. In der EU 27 | |
waren es im Schnitt 36 Stunden, in Deutschland 34 Stunden. | |
Zugleich verharrte die Inflation im April bei 3,1 Prozent. Seit April 2020 | |
legten die Preise um kumuliert 18 Prozent zu, Lebensmittel und Getränke | |
sogar um 30 Prozent. Besonders hart trifft das die einkommensschwächeren | |
Haushalte. „Ich merke das total, wenn ich in den Supermarkt gehe. Alles | |
wird teurer und teurer“, sagt Nancy Liantsi. | |
Laut Eurobarometer gaben 74 Prozent der Griechen an, ihr Lebensstandard | |
habe sich in den letzten fünf Jahren verschlechtert. Das ist der höchste | |
Wert in der EU. Obendrein sind die Griechen pessimistisch, was die nächsten | |
fünf Jahre bringen. 48 Prozent der Griechen (32 Prozent in der EU!) | |
glauben, ihr Lebensniveau werde weiter sinken. Demgegenüber glauben 13 | |
Prozent der Griechen, es werde fortan aufwärts gehen. Nancy Liantsi: „Meine | |
Mutter sagt mir: ‚Deine Mitgift wird dein Hochschulabschluss sein.‘“ | |
Nancy Liantsi hat ihre Entscheidung getroffen. Im Oktober geht sie nach | |
Zypern, um dort Medizin zu studieren. Sie wolle Genetikerin werden, die | |
Gerichtsmedizin gefalle ihr sehr. „Eigentlich würde ich gerne meinem Land | |
helfen“, beteuert sie. „Ich frage mich aber schon jetzt: Was kommt nach dem | |
Studium?“ Die Sache sei simpel, sagt sie. „Draußen sind die Berufschancen | |
besser. Um einen Job zu finden, in der Forschung.“ So dächten viele ihrer | |
Altersgenossen, nicht nur in ihrer Heimatstadt Grevena. Ihre Schwester, | |
drei Jahre älter als sie, ist schon weg. Sie studiert Jura in Den Haag. | |
„Geduld zu üben und beharrlich zu sein“ sei das Motto, das ihre Mutter | |
ihnen auf den Weg gebe, sagt Nancy Liantsi. Sie werde am 9. Juni wählen | |
gehen. Sie lächelt, als sie das sagt. Sie sucht noch ihr blaues Gold. | |
4 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Finanzkrise-vor-15-Jahren/!5960161 | |
[2] /Merkel-und-Griechenland/!5808720 | |
[3] https://www.economist.com/europe/2023/04/19/greece-is-a-european-success-st… | |
[4] /Wirtschaftsranking-von-Laendern/!5981378 | |
[5] /Misstrauensvotum-in-Griechenland/!6001209 | |
[6] /China-Besuch-von-Kongos-Praesident/!5933434 | |
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