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# taz.de -- Griechenland nach der Finanzkrise: Kampf ums blaue Gold
> Die EU investierte Hunderte von Milliarden Euro in die griechische
> Wirtschaft. Mittlerweile erholt sie sich. Doch davon profitieren nicht
> alle gleich.
Kalamata, Larymna und Grevena taz | Die Aussicht von der Terrasse ist
atemberaubend schön. Der sanfte Wind kräuselt das blassblaue Meer, der
Blick schweift über die palmengesäumte Strandpromenade, die Dächer der
Stadt glitzern in der Abendsonne. Dimitrios Patriarcheas, 43, pechschwarzes
Haar, blütenweißes Hemd und perfekt sitzende Krawatte, spricht mit fester
Stimme. „Wir sorgen dafür, die drei wichtigsten menschlichen Bedürfnisse zu
decken: Unterkunft, Nahrung, Sicherheit.“ Er untertreibt. Patriarcheas’
Fünf-Sterne-Hotel Messinian Icon hat 36 Zimmer mit Meerblick, einen
weitläufigen Frühstücksbereich mit teurem Marmorboden sowie ein
Schwimmbecken und liegt auf einer Anhöhe im östlichen Vorort Verga der
Küstenstadt Kalamata im Süden der griechischen Halbinsel Peloponnes.
Patriarcheas ist Hotelier in zweiter Generation. Das Handwerk lernte er
schon früh. Er selbst war noch ein kleiner Junge, als Ende der 1980er Jahre
ein Hotel in Verga zum Verkauf stand. Prompt habe sein Vater zu Dimitrios’
Onkeln, die alle zuvor in Kalamata Obst und Gemüse verkauften, gesagt: „Wir
kaufen das, wir wechseln die Arbeit!“ Gesagt, getan. Hernach kam ein
Stadthotel hinzu. Schließlich erwarb das Trio unbebautes Land am Fuß des
Hügels in Verga, just an jener Stelle, wo heute das noble Flaggschiff der
drei Patriarcheas-Herbergen in Kalamata steht.
Bis zur Fertigstellung war es jedoch ein mühsamer, steiniger Weg. Den Bau
bremsten zuerst die Turbulenzen nach dem Kollaps der US-Bank [1][Lehman
Brothers], die bis ins ferne Kalamata überschwappten. Die Eurokrise folgte.
Im Epizentrum: Griechenland. Für Hellas waren die zehner Jahre ein
Desaster. Der Staat war pleite, die Banken wurden zu Zombies. Athen
brauchte dringend Geld, setzte einen Notruf ab.
Die EU, die EZB und der IWF sprangen in die Bresche – auch aus Eigennutz.
Kredite im Umfang von 289 Milliarden Euro flossen in Tranchen nach Athen,
bis Griechenland im August 2018 finanzpolitisch wieder auf eigenen Beinen
stand. Im Gegenzug bürdeten die neuen Gläubiger den Regierungen in Athen
einen rigorosen Sparkurs auf. [2][Das tat weh.] Die Gehälter, Löhne und
Renten brachen abrupt um im Schnitt ein Drittel ein. Die Arbeitslosigkeit
schnellte auf fast 30 Prozent in die Höhe. Unter den jungen Menschen
suchten sogar 60 Prozent einen Job, so viele wie sonst nirgendwo in Europa.
Hunderttausende meist junge und gut qualifizierte Griechinnen und Griechen
verließen das Land, um eine bessere Zukunft zu finden. Stichwort:
„Braindrain“, „die Flucht der klugen Köpfe“. „Wir Griechen hätten u…
Staatsschuldenkrise schneller überwinden müssen. Wir haben viel produktive
Zeit verloren. Das macht mich in der Rückschau traurig“, sagt Patriarcheas.
Er blieb, überstand die Krise. Nach „Mühen und Qualen“ öffnete sein
Luxushotel im Frühjahr 2019 seine Pforten. Unterm Strich seien die Gelder
der EU entscheidend gewesen, um sein neues Luxushotel bauen zu können –
wenn auch mit Verzug. „Wie sonst hätten wir das Kapital aufbringen
können?“, räumt der Hotelier unverhohlen ein. Etwa die Hälfte der
Gesamtinvestition sei durch EU-Gelder finanziert, so Patriarcheas. Der
Anteil der bereitgestellten EU-Gelder sei so hoch, weil sein Luxushotel den
qualitativ hochwertigen Tourismus fördere, ein erklärtes Ziel
Griechenlands. Während Hellas kollabierte, flossen die üppigen EU-Gelder
weiter. Für Patriarcheas war das Geld aus Brüssel das blaue Gold.
„Ohne die EU hätte Griechenland nicht den Frieden und Wohlstand, den wir
bis jetzt erlebt haben“, sagt der Hotelier und fügt hinzu: „Vergessen wir
nicht: Hier herrschte von 1967 bis 1974 die Militärjunta. Die Demokratie
war ausgesetzt, die Verfassung gebrochen. Erst danach fing das Land an,
sich zu erneuern. Ich möchte glauben, dass wir die meisten
Kinderkrankheiten überstanden haben und uns dem EU-Durchschnitt
angleichen.“ Mit Blick auf die Europawahlen sagt er: „Ich glaube an Europa.
Ich bin dafür, dass wir die EU vertiefen. Nicht nur ökonomisch, sondern auf
allen Ebenen.“
Das Gros der Griechen sieht das genauso. Laut dem jüngsten Eurobarometer
sagen sieben von zehn Befragten, der EU-Beitritt 1981 habe Griechenland
genutzt. Im Siebenjahreszeitraum 2021 bis 2027 fließen EU-Mittelzuweisungen
von insgesamt 57,35 Milliarden Euro nach Athen – eine in Relation zur
hiesigen Wirtschaftsleistung enorme Summe. Das entspricht Jahr für Jahr
rund 4 Prozent des griechischen BIP.
Die EU-Gelder sind ein wahrer Booster für Hellas’ Wirtschaft. Der
[3][Economist] kürte Griechenland zur besten Wirtschaft 2023, zum zweiten
Mal in Folge. Dafür untersuchte das britische Magazin fünf
Wirtschaftsindikatoren in 35 OECD-Staaten. Darunter sind die Inflation, die
Inflationsbreite, das BIP, Beschäftigungswachstum sowie die
Börsenentwicklung. 2023 ging es vor allem an der Athener Börse nach oben,
griechische Aktien legten um rund 43 Prozent zu.
Patriarcheas schlürft griechischen Mokka aus einer Tasse. Seit der vorigen
Saison geht es für den Hotelier steil nach oben, er sprüht vor Zuversicht.
„2023 war unser bisheriges Rekordjahr, 2024 läuft noch besser.“ Die
Frühbuchungen lägen um satte 22 Prozent über denen des Vorjahres, offenbart
er. Damit liegt sein Hotel voll im landesweiten Trend. Hellas steht in
diesem Jahr vor einem neuen Tourismusrekord, die Reisebranche ist der
Wachstumsmotor Nummer eins. Etwa ein Viertel der griechischen
Wirtschaftsleistung wird im Tourismus generiert. Kritiker warnen: Der
Tourismus sei eine äußerst anfällige Monokultur, monieren sie.
Ob eine neue Autobahn von Athen nach Kalamata oder ein eigener,
internationaler Flughafen: Kalamata mit seinen knapp 60.000 Einwohnern
boomt. Der Ort ist blitzsauber, neue Restaurants, Bistros und gemütliche
Cafés sprießen wie Pilze aus dem Boden. Patriarcheas befürwortet das. „Geht
es Kalamata gut, dann geht es auch mir gut.“ Seine einzige Sorge sei, dass
er Personal suche, aber keines finde. „Im Empfang, in der Bedienung, zur
Zimmerreinigung.“
Griechenlands Wirtschaft erholt sich wieder. Das kommt aber nicht [4][bei
allen an]. Die einen verdanken der EU ihr Vorankommen, die anderen sehen in
ihr einen Grund für ihren wirtschaftlichen Ruin. Die Staatspleite mag
überwunden sein, das Verhältnis der Griechen zur EU bleibt indes nicht ohne
Schatten. „Viele Bürger können die positiven Aspekte unseres gemeinsamen
europäischen Projekts nicht erkennen. Diese Unwissenheit wird von
populistischen Parteien ausgenutzt, die versuchen, die Spaltung in der EU
zu erwirken“, sagt der Hotelier.
Auch Nikos Rinnas fällt es schwer, das Positive zu sehen. Er fährt seinen
alten VW Passat auf das Werksgelände, im Auto spielt die Musik von Magna
Carta, einer englischen Folk-Rock-Gruppe. Prüfend schaut er seinen
Beifahrer an. „Das ist meine Lieblingsband“, sagt er lapidar und hält an.
Der 58-Jährige mit den sehr langen, grauen Haaren, die er zu einem Zopf
gebunden hat, ist ein Hüne von Mann. Große Tränensäcke, tiefe Falten im
Gesicht, ein geschundener Körper: Es ist ihm leicht anzusehen, dass er sein
Leben lang Schwerstarbeit geleistet hat. Vor genau 36 Jahren, am 3. Juni
1988, fing Nikos Rinnas an, in der Schwerindustrie zu arbeiten, besser: zu
schuften, stets im Dreischichtbetrieb. Rinnas hat den härtesten Job in der
Metallfabrik der Firma Larco im Ort Larymna. Er arbeitet an den vier
Drehrohr- und fünf Elektrolichtbogenöfen. Larco stellt Ferronickel her,
eine Kombination aus Eisen und Nickel.
Das geht so: das Erz wird getrocknet, gebrannt, vorgewärmt, geschmolzen,
getrennt. Das Endprodukt Ferronickel ist gewonnen. Das Verfahren, die
Pyrometallurgie, ist irrsinig stromfressend. In den Öfen herrschen
Temperaturen von bis zu 1.700 Grad Celsius. Die Wärmestrahlung in der
geschlossenen Fabrikhalle ist enorm. „Die Hitze ist unerträglich“, sagt
Nikos Rinnas. Heute, an diesem frühsommerlichen Freitag Ende Mai, geht
seine Schicht von 14 Uhr bis 22 Uhr. Rinnas wird, genauso wie er es die
letzten 36 Jahre getan hat, pünktlich an seinem Arbeitsplatz erscheinen.
Nur: Er hat nichts zu tun. Denn das Larco-Werk ist seit dem 31. Juli 2022
stillgelegt.
Das entschied die Regierung in Athen unter dem konservativen [5][Premier
Kyriakos Mitsotakis.] Sie peitschte die Stilllegung des Larco-Werks in
Larymna gegen den erbitterten Widerstand der Belegschaft durch. Ökonomisch
ist das kaum einzusehen. Denn am 8. März 2022, unmittelbar nach Russlands
Invasion in die Ukraine, war der Nickelpreis an der Londoner Metallbörse
auf einen unglaublichen Rekordpreis von 101.365 US-Dollar pro Tonne
explodiert. Der Handel wurde ausgesetzt.
## 700 Millionen Euro verschenkt
Doch die Regierung Mitsotakis beharrte darauf, das Werk in Larymna Ende
Juli des gleichen Jahres stillzulegen – und die gesamte Belegschaft von
1.060 Beschäftigten auf einen Schlag zu entlassen. Auf Grundlage des
Nickelpreises von im Schnitt 20.000 US-Dollar pro Tonne hätte Larco seit
der Stilllegung des Werkes Einnahmen von über 700 Millionen Euro erzielen
können. Mitsotakis zieht es hingegen vor, dass das Werk in Larymna ohne
ernsthafte Wartung vor sich hin rostet. Die Larco-Mitarbeiter geben nicht
auf. „Wir warten an unserem Arbeitsplatz in der Fabrik darauf, dass es
wieder losgeht. Wir werden niemals aufgeben“, gibt sich Nikos Rinnas
kämpferisch.
Rinnas zeigt auf die Häuser in der Arbeitersiedlung. „Die Familien kamen
aus ganz Griechenland hierher, um zu arbeiten. Alles war voller Leben. Mit
Schulen, Kindergärten, Sportanlagen, Kirchen. Wir hatten sogar ein tolles
Kino“, sagt er. Jetzt denkt Nikos Rinnas, er sei in einem schlechten Film.
Der Fall Larco ist bei näherer Betrachtung ein großer Skandal. Politisch.
Ökonomisch. Ökologisch.
Gegründet wird das anfangs private Unternehmen 1963. Die Metallfabrik im
Dorf Larymna, 130 Kilometer nördlich von Athen, ist 1966 fertig. Die
Industrieanlage ist ein Monstrum mitten in einer hübschen Landschaft,
schafft jedoch Jobs im damals noch sehr rückständigen Griechenland. In der
Fabrik, im Tagebau und den Minen beschäftigt Larco 1.370 Arbeiter.
Larco wird zum unangefochten größten Hersteller von Ferronickel in Europa
und zu einem der fünf größten Produzenten in der Welt. Das Erz, ein
nickelhaltiges Goethit, hauptsächlich im Tagebau an den firmeneigenen
Standorten in Griechenland gefördert, wird zur Metallfabrik in Larymna
gebracht. Larco ist ein Pionier: 1977 ist das erste, gut sieben Kilometer
lange Langförderband Europas fertig, das die Kosten des Erztransports
senkt.
Larco stellt jährlich rund 20.000 Tonnen hochreinen, kohlenstoffarmen
Ferronickel her. Verwendung findet Nickel zur Herstellung von rostfreiem
Stahl. Großkunden aus ganz Europa kaufen den begehrten Rohstoff aus
Griechenland. 1979 stirbt der Firmeneigentümer, der Niedergang beginnt.
1982 bringt die sozialistische Regierung unter Premier Andreas Papandreou
Larco unter öffentliche Kontrolle, 1989 wird Larco verstaatlicht.
Als Staatsfirma wird das Unternehmen wieder rentabel. In den nuller Jahren
werden 60 Millionen Euro in die Modernisierung der Produktion investiert.
Alles scheint gut zu laufen. Doch ausgerechnet ein von der damaligen
konservativen Regierungpartei Nea Dimokratia (ND) eingesetzter
Larco-Geschäftsführer sorgt dafür, dass Larco sowohl gewaltige Einnahmen
entgehen als auch erhebliche Verluste entstehen.
## Larco-Drama geht weiter
Das passiert so: Der Larco-Manager, ein Ex-Banker, verkauft im Februar 2007
vorab Teile der Firmenproduktion von 2006 bis Anfang 2009 zu einem
Festpreis von 18.500 US-Dollar pro Tonne Nickel an die US-Investmentbank J.
P. Morgan. Pikanterweise tat dies der besagte Larco-Manager, obgleich der
Nickelpreis just im Februar 2007 bereits auf 39.000 US-Dollar gestiegen
war. Tendenz: stark steigend. Der Nickelpreis geht durch die Decke. Schon
drei Monate später, im Mai 2007, kostet eine Tonne 49.500 US-Dollar. Für
Larco ist der dubiose Vorverkauf ein gigantisches Minusgeschäft. In den
Chefetagen von J. P. Morgan reibt man sich hingegen die Hände.
Doch damit nicht genug. Die damalige Larco-Leitung unter einem ND-Mann, dem
Vater eines Ministers der heutigen ND-Regierung, kündigt 2008 vorzeitig den
Vertrag mit J. P. Morgan – unter Zahlung einer hohen Strafgebühr. Doch
diesmal bricht der Nickelpreis ein. Im März 2009 kostet eine Tonne Nickel
unter 8.000 US-Dollar. Erneut lacht sich J. P. Morgan ins Fäustchen.
Das Larco-Drama nimmt kein Ende. Nach Hellas’ faktischem Staatsbankrott im
Frühjahr 2010 scheitern Privatisierungsversuche. Die seit dem 8. Juli 2019
in Athen allein regierende ND unter Premier Mitsotakis ist wild
entschlossen, Larco zu privatisieren.
Ende Januar 2023 erhält ein Konsortium unter Führung des griechischen
Mischkonzerns GEK Terna den Zuschlag für die Larco-Übernahme. Der
Larco-Deal ist ein Paradebeispiel für familiäre Verflechtungen zwischen der
ND und Großfirmen: Der Schwiegervater von Georgios Gerapetritis, die rechte
Hand von Premier Mitsotakis und Außenminister, ist GEK Ternas Nummer zwei.
Ob Autobahnen, Windparks, die Müllverwertung oder nun Larco: GEK Terna
erhält einen Auftrag nach dem nächsten. Noch ist der Larco-Deal nicht in
trockenen Tüchern.
Ein irischer Mitanbieter klagt gegen seinen Ausschluss. Läppische 6
Millionen Euro will GEK Terna für Larco, die Tagebaustätten und Minen
eingeschlossen, hinblättern – und wäre zugleich von Larcos Schulden
befreit. Die Regierung Mitsotakis beziffert sie auf 600 Millionen Euro,
davon entfällt mehr als die Hälfte auf offene Stromzahlungen. Den Strom
hatte Larco weit über dem üblichen Marktpreis von der DEI, einem der
Larco-Anteilseigner, eingekauft. Auch dies ist ein Korruptionsskandal.
Der Einstieg bei Larco bärge für den Privatinvestor ein ungeheures
Potenzial. Das von Larco geförderte griechische Erz birgt neben Nickel
einen noch viel kostbareren – bisher verborgenen – Bodenschatz: Kobalt, das
– mit Blick auf dessen Farbe – blaue Gold. Der Rohstoff wird für Batterien
verwendet, der globale Bedarf wird mit der Elektromobilität deutlich
steigen. Ein E-Auto benötigt etwa 5 bis 10 Kilo Kobalt.
Weil Larco bisher nicht in ein anderes Fertigungsverfahren, der
Hydrometallurgie, investiert hat, konnte sie das im Ferronickel enthaltene
Kobalt nicht vom Nickel trennen. Larco könnte per Hydrometallurgie extra
bis zu 3.000 Tonnen Kobalt pro Jahr produzieren und so einen erheblichen
Teil des Bedarfs an Kobalt in Europa decken, so Experten. Die EU muss das
Kobalt bisher fast ausschließlich aus Drittstaaten wie dem Kongo, dessen
Minen von [6][China kontrolliert werden], einkaufen.
Zuallererst würden sich die Aktionäre des Privatinvestors freuen. Denn hohe
Gewinne dürften hohe Dividenden mit sich bringen. Das ist hierzulande sehr
einträglich. Denn die Regierung Mitsotakis hat die Dividendensteuer auf 5
Prozent gesenkt, in Deutschland beträgt der Steuersatz dafür 25 Prozent. So
würde sich der Kreis schließen, auch im Fall Larco.
Diese Steuerpolitik passt ganz zu Mitsotakis’ tiefer ökonomischen
Überzeugung der Trickle-down-Ökonomie („trickle down“ auf Deutsch: „nach
unten rieseln“). Sie beschreibt die Überzeugung, wonach der Wohlstand der
Reichsten einer Gesellschaft nach und nach durch Konsum und Investitionen
in die unteren Schichten der Gesellschaft durchrieseln und so zu
Wirtschaftswachstum führe, von dem letztlich alle profitieren. Die Anhänger
dieser Theorie fordern radikale Steuersenkungen für die Reichen. Genau das
praktiziert die Regierung Mitsotakis. Alle an der Athener Aktienbörse
gelisteten Unternehmen erzielten 2023 einen Reingewinn von insgesamt 10,5
Milliarden Euro, sie schütteten 3,8 Milliarden Euro an Dividenden aus. Der
deutsche Fiskus hätte davon 950 Millionen Euro eingestrichen, der chronisch
klamme hellenische Fiskus will nur 190 Millionen Euro haben.
Andere gucken in die Röhre. Nikos Rinnas, der ungewollt untätige
Schichtarbeiter in der stillgelegten Larco-Metallfabrik, lässt seinem Frust
freien Lauf. Er empfinde Zorn und Wut, poltert er. Er bekomme zwar, so wie
die etwa 850 verbliebenen Larco-Mitarbeiter, noch sein Gehalt ausbezahlt.
Er erhalte 1.800 Euro im Monat, mit 36 Arbeitsjahren auf dem Buckel. Die
meisten seiner Kollegen müssten sich mit etwa 1.000 Euro im Monat begnügen.
Der Haken dabei ist, dass ihre zuvor unbefristeten Arbeitsverträge nach
ihrer Entlassung Ende Juli 2022 in befristete Verträge umgewandelt worden
sind. Immer wenn sie ablaufen, müssen sie vor Gericht für deren
Verlängerung kämpfen, eine Fortsetzung ihrer Lohnzahlungen inklusive. Das
geht seit fast zwei Jahren so. Der nächste Gerichtstermin ist für den 18.
Juni anberaumt, neun Tage nach den Europawahlen.
Apropos EU: Rinnas rechnet knallhart mit ihr ab. Für ihn haben alle
proeuropäischen Parteien in Athen Hand in Hand mit Brüssel Larco an den
Abgrund manövriert. Dass die EU in der Causa Larco Kapitalspritzen in Höhe
von 135 Millionen Euro als unerlaubte Staatssubvention einstufte, die
zurückzuerstatten sei, und das ohnehin angeschlagene Unternehmen somit noch
mehr in die Bredouille brachte, befeuert Rinnas’ tiefe Abneigung gegen die
EU. Seine Sorge sei, dass im Zuge des Einstiegs eines Privatinvestors bei
Larco die Vertretung der Arbeitnehmer zerschlagen werde. Doch die
Larco-Mitarbeiter haben noch Hoffnung: aber diese liegt für sie nicht
rechts, sondern links. Ganz links. Standen lange die meisten in der
Larco-Arbeitnehmervertretung den bürgerlichen Parteien ND (konservativ)
oder Pasok (sozialdemokratisch) nahe, sind es derweil die Gewerkschaft
Pame der Kommunistischen Partei (KKE) sowie andere Linke.
Die EU sei bloß „eine Allianz der Monopole, eine transnationale
imperialistische Union, ein Gegner der Völker“, ätzt die KKE vor den
Europawahlen. „Die EU kann nicht zum Besseren verändert werden! Sie wird
nur noch schlimmer!“ Erklärtes Ziel der KKE ist daher Griechenlands
Austritt aus der EU. Dennoch ruft sie zur Teilnahme an den Europawahlen
auf. Die Wähler sollen mehr als wie bisher zwei Kommunisten nach Brüssel
und Straßburg entsenden.
In Grevena gibt es weder Tourismus noch Industrie. Die nordgriechische
Stadt, 20.000 Einwohner, von über 2.000 Meter hohen Bergen umrahmt, 530
Meter über dem Meeresspiegel im Tal des Oberlaufs des Flusses Aliakmonas
und einiger Nebenflüsse gelegen, liegt in Westmakedonien, in einer der
ärmsten Regionen Griechenlands. Im Herzen von Grevena, auf dem
„Emilianou“-Platz, wartet Nancy Liantsi auf das Gespräch. Die 18-jährige
hat gerade die Schule abgeschlossen. Sie sieht Griechenland weiter in der
Krise. „Die Preise steigen, die Kaufkraft sinkt. Die Krise ist nicht
vorbei“, sagt sie.
Die Zahlen geben ihr recht. Griechenland ist in puncto Kaufkraft pro Kopf
auf den vorletzten Platz in der EU 27 gerutscht. Nur das Schlusslicht
Bulgarien liegt noch knapp hinter Hellas, holt aber auf. Kein Wunder: das
griechische Jahresgehalt belief sich 2023 im Schnitt auf 17.707 Euro netto.
Das ist so viel wie 2006 und satte 10.510 Euro weniger als im Schnitt in
der EU 27. Dabei arbeiten die Griechen von allen Europäern am längsten.
Laut Eurostat waren es 2023 genau 39,8 Stunden pro Woche. In der EU 27
waren es im Schnitt 36 Stunden, in Deutschland 34 Stunden.
Zugleich verharrte die Inflation im April bei 3,1 Prozent. Seit April 2020
legten die Preise um kumuliert 18 Prozent zu, Lebensmittel und Getränke
sogar um 30 Prozent. Besonders hart trifft das die einkommensschwächeren
Haushalte. „Ich merke das total, wenn ich in den Supermarkt gehe. Alles
wird teurer und teurer“, sagt Nancy Liantsi.
Laut Eurobarometer gaben 74 Prozent der Griechen an, ihr Lebensstandard
habe sich in den letzten fünf Jahren verschlechtert. Das ist der höchste
Wert in der EU. Obendrein sind die Griechen pessimistisch, was die nächsten
fünf Jahre bringen. 48 Prozent der Griechen (32 Prozent in der EU!)
glauben, ihr Lebensniveau werde weiter sinken. Demgegenüber glauben 13
Prozent der Griechen, es werde fortan aufwärts gehen. Nancy Liantsi: „Meine
Mutter sagt mir: ‚Deine Mitgift wird dein Hochschulabschluss sein.‘“
Nancy Liantsi hat ihre Entscheidung getroffen. Im Oktober geht sie nach
Zypern, um dort Medizin zu studieren. Sie wolle Genetikerin werden, die
Gerichtsmedizin gefalle ihr sehr. „Eigentlich würde ich gerne meinem Land
helfen“, beteuert sie. „Ich frage mich aber schon jetzt: Was kommt nach dem
Studium?“ Die Sache sei simpel, sagt sie. „Draußen sind die Berufschancen
besser. Um einen Job zu finden, in der Forschung.“ So dächten viele ihrer
Altersgenossen, nicht nur in ihrer Heimatstadt Grevena. Ihre Schwester,
drei Jahre älter als sie, ist schon weg. Sie studiert Jura in Den Haag.
„Geduld zu üben und beharrlich zu sein“ sei das Motto, das ihre Mutter
ihnen auf den Weg gebe, sagt Nancy Liantsi. Sie werde am 9. Juni wählen
gehen. Sie lächelt, als sie das sagt. Sie sucht noch ihr blaues Gold.
4 Jun 2024
## LINKS
[1] /Finanzkrise-vor-15-Jahren/!5960161
[2] /Merkel-und-Griechenland/!5808720
[3] https://www.economist.com/europe/2023/04/19/greece-is-a-european-success-st…
[4] /Wirtschaftsranking-von-Laendern/!5981378
[5] /Misstrauensvotum-in-Griechenland/!6001209
[6] /China-Besuch-von-Kongos-Praesident/!5933434
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
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