# taz.de -- Biologe über Zimmerpflanzen: „Der Gummibaum ist ein Evergreen“ | |
> Junge Stadtmenschen haben Zimmerpflanzen neu für sich entdeckt. Biologe | |
> Nils Köster über die Gründe – und woher die Liebe zu Flamingoblume & Co | |
> kommt. | |
Bild: Grün sind alle seine Blätter: ein Gummibaum | |
taz: Herr Köster, die Zimmerpflanzen sind in unsere Wohnzimmer | |
zurückgekehrt, auch das Botanische Museum Berlin hat ihnen vor einiger Zeit | |
[1][eine Ausstellung gewidmet]. Wie erklärt sich dieser grüne Boom? | |
Nils Köster: Die gefühlte Entfremdung von der Natur, zu der man dann | |
dringend zurückwill, die gibt es ja schon lange. Das kommt immer wieder in | |
Wellen, und in so einer sind wir gerade drin, vor allem die klassischen | |
Hipster aus Berlin-Neukölln … | |
… also generell ein junges, urbanes Milieu, das viel Wert auf Ästhetik | |
legt? | |
Genau, Leute, für die es auch wichtig ist, dass sie möglichst irgendwie bio | |
einkaufen, die gleichzeitig oft viel digital unterwegs sind und deshalb das | |
Gefühl ersehnen, mehr mit der Natur verbunden zu sein. Ob man das mit | |
Zimmerpflanzen jetzt wirklich ist, ist natürlich die Frage. Dazu ist es ein | |
Style-Ding: Viele dieser tropischen Pflanzen sind ja wirklich extrem | |
schick, so eine elegante Monstera von ein paar Metern macht einfach was | |
her. Und wenn ich das dann noch bei Instagram posten kann – umso besser. | |
Dort hat sich inzwischen der Hashtag [2][#plantfluencer] etabliert, ein | |
Kofferwort aus Pflanze und Influencer. | |
Es gibt so eine kleine Bewegung von Leuten, die Pflanzen kultivieren und | |
ihre Fortschritte dann ständig online mit einem berechtigten | |
Züchter:innen-Stolz posten: Schaut mal, wie die aussieht! Wie schön die | |
sich entwickelt! Zu einer Community wird das Ganze, weil die Leute sich | |
auch gegenseitig inspirieren: Ach guck mal, was ist denn das Tolles? Und wo | |
hast du die denn her? | |
Verbinden sich so auch Leute, die sich sonst nicht getroffen hätten? | |
Also bei uns im Botanischen Garten macht die Berliner Ortsgruppe [3][der | |
Deutschen Kakteen-Gesellschaft] regelmäßig ihre Kakteentage. Vor einigen | |
Jahren wurde das zum ersten Mal als Event bei Facebook gepostet, und prompt | |
waren dreimal so viele Besucher:innen da – und zwar komplett andere als | |
vorher. | |
Gegründet wurde die Deutsche Kakteen-Gesellschaft schon 1892. Wirklich groß | |
scheinen sich unsere Vorlieben gar nicht verändert zu haben. | |
Es gibt schon so absolute Evergreens. Der Gummibaum ist so einer, der ist | |
schon Anfang des 19. Jahrhunderts nach Europa gekommen, und weil er recht | |
robust ist und sich gut vermehren lässt, ist er eigentlich immer mal wieder | |
modern geworden: um 1900 rum, aber auch in den 1950ern, 60ern, wo auch | |
Flamingoblumen, Monsteras und Bogenhanf sehr in waren. Die sind heute alle | |
wieder da. | |
Auch die Zimmerpflanzen kommen also in Wellen? | |
Es ist ein Auf und Ab. In den 1920ern und 30ern etwa, zu Zeiten des | |
Bauhauses, waren sie nicht so das Ding. Wahrscheinlich weil man es | |
schlichter haben wollte und tropische Pflanzen eine gewisse Opulenz | |
mitbringen. Aber auch da kommt’s total auf die Sorte an: Wenn ich so einen | |
kleinen, ornamental gewachsenen Kaktus habe, passt der natürlich auch zu | |
einer ganz reduzierten Architekturvorstellung. | |
Wann ging es denn überhaupt los mit Zimmerpflanzen in Europa? | |
Das war Ende des 18. Jahrhunderts, frühes 19. Jahrhundert. Wobei wir hier | |
anfangs nur über den Adel sprechen, der hatte das Geld und die Muße für | |
solch ein botanisches Interesse. Da hat sich im Drinnen also quasi | |
wiederholt, was draußen schon in den englischen Landschaftsgärten passiert | |
ist: dass Pflanzen wachsen dürfen sollten, wie sie wuchsen. Und sie nicht, | |
wie vorher im Barock, in schöne, aber künstliche Formen geschnitten wurden. | |
In dem Zusammenhang muss man nur an die vielen niederländischen | |
Blumenstillleben aus dem Barock denken, denn Pflanzen zur Raumzierde hat | |
man schon damals verwendet, aber es waren immer Sträuße, | |
Schnittblumenarrangements. | |
Wann demokratisierte sich der Zimmerpflanzenbesitz? | |
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Es gibt da ein bekanntes | |
Gemälde des Geheimrats Goethe, da sieht man eine Königin der Nacht, also | |
einen Kaktus aus der Karibik, und ein Brutblatt aus Madagaskar auf seiner | |
Fensterbank. In den Salons der Biedermeierzeit gehörten Pflanzen dann schon | |
fest dazu. Dabei halfen auch technische Entwicklungen. | |
Welche waren das? | |
Zum Beispiel wurde es einfacher, größere Glasscheiben herzustellen. Und man | |
braucht schon halbwegs große Fenster, um Zimmerpflanzen halten zu können. | |
Auch die Glas-Stahl-Bauweise war eine wichtige Innovation, weil Stahlträger | |
mehr halten als eine Steinwand. | |
Also passend zu Goethe: mehr Licht. | |
Genau. Der andere wichtige Punkt ist die Verbreitung der Zentralheizung in | |
den bürgerlichen Wohnungen im Laufe des 19. Jahrhunderts. Als noch überall | |
Kohle- oder Holzöfen standen, die nicht so eine gleichmäßige Wärme | |
produzierten, da mussten es schon recht robuste Pflanzen sein, die eher | |
noch aus den Subtropen oder gar aus dem Mittelmeergebiet kamen, wie die | |
Myrte. Erst als man den Raum komfortabel auf halbwegs gleicher Temperatur | |
halten konnte, wurden tropische Pflanzen populärer. | |
Wenn man das grob zusammenfasst, waren tropische Zimmerpflanzen erst ein | |
Hobby von Adligen. Im 19. Jahrhundert wurde das auch vom höheren Bürgertum | |
betrieben und kam dann schließlich in der Nachkriegszeit bei allen an? | |
Genau, so wie letztendlich eben die Zentralheizung. Oder das fließende | |
Wasser. Schließlich kann ich eine Pflanze auch deutlich leichter | |
kultivieren, wenn ich mal eben den Hahn aufdrehe und nicht erst runter in | |
den Hof muss, um Wasser hochzuschleppen. Wobei die trockene Luft der | |
Zentralheizung einigen anderen Pflanzen den Garaus gemacht hat. | |
Nicht alle Pflanzen schaffen ein Comeback? | |
Früher hatten betuchte Bürger:innen Kameliensammlungen zu Hause, die im | |
Sommer draußen standen und im Winter drinnen überlebt haben, am Fenster, wo | |
sie es relativ kühl und nicht zu trocken hatten. Das ging mit der | |
Zentralheizung dann nicht mehr. Alpenveilchen gibt’s heute noch, sie sind | |
aber auch erheblich seltener geworden oder interessanterweise ins | |
Schlafzimmer gewandert, weil das gewöhnlich relativ kühl gehalten wird. | |
Dort fristen sie dann hinter der weißen Gardine so ein Eckendasein. | |
Stattdessen wollte man lieber Pflanzen aus den Tropen haben. Wie kamen die | |
denn eigentlich nach Europa? | |
Es gab im 19. Jahrhundert schon Firmen wie „Veitch and Sons“, die Dutzende | |
von Pflanzenjägern in der Welt rumlaufen hatten, vor allem auf der Suche | |
nach Orchideen. Mit der Erfindung des Wardschen Kastens 1835, einer Art | |
mobiles Gewächshaus, ließen sich dann auch lebende Pflanzen auf Schiffen | |
transportieren, die hier dann aufgepäppelt und verkauft wurden. Für sehr, | |
sehr viel Geld logischerweise – klar, das war ein Repräsentationsding. Sie | |
waren ja selten. | |
Pflanzenjäger war ein richtiger Beruf? | |
Kein Ausbildungsberuf, aber es gab wirklich Leute, die ihr Geld damit | |
verdienten, mit einer ordentlichen Portion Abenteuerlust durch tropische | |
Wälder zu ziehen und einfach nach allem Ausschau zu halten, was attraktiv | |
aussieht. Teilweise unter haarsträubenden Bedingungen. Viele sind auch | |
dabei draufgegangen. | |
Und haben die da auch irgendwas ausgerottet bei der Gelegenheit? | |
Bekannte Fälle, dass Pflanzen wirklich komplett verschwunden sind, gibt es | |
nicht so viele. Aber definitiv gibt es Arten, die durch die Sammelei für | |
Hobbyisten an den Rand des Aussterbens gebracht wurden. Etwa der | |
Schwiegermuttersessel, auch Goldkugelkaktus genannt, so ein sehr | |
attraktiver, großer Kaktus. Mittlerweile wird der auch gärtnerisch | |
produziert, aber damals war es natürlich günstiger, wenn man ihn mit der | |
Brechstange ausbuddelt. | |
Das heißt, es ist wie koloniale Raubkunst, nur eben mit Pflanzen? Der | |
Zimmerpflanzenboom begann schließlich zur Hoch-Zeit des Kolonialismus. | |
Klar, das alles ist im kolonialen Kontext zu sehen: Die europäische | |
Oberschicht erhebt Anspruch auf Schätze von anderen Kontinenten, hier eben | |
auf botanische. In Mittel- und Südamerika allerdings, wo die Länder schon | |
im frühen 19. Jahrhundert unabhängig wurden, wurde das Ganze von den | |
Regierungen und Einheimischen nicht unbedingt als problematisch betrachtet, | |
denn die Pflanzen – nun ja, die wachsen da halt buchstäblich auf Bäumen und | |
wurden wahrscheinlich nicht als endliche Ressource betrachtet. | |
Und es gibt noch einen großen Unterschied zur Raubkunst: Wenn ich [4][eine | |
Benin-Bronze hier im Museum stehen habe], dann kann ich nicht zwei draus | |
machen. Eine Pflanze kann ich vermehren, und wenn man sie restituieren | |
möchte, kann man sie zurückgeben und gleichzeitig behalten. | |
Warum eigentlich in die Ferne schweifen? Könnten wir uns nicht heimische | |
Pflanzen ins Zimmer stellen? | |
Pflanzen, die die Saisonalität unserer Jahreszeiten gewöhnt sind, kann ich | |
nicht im Zimmer halten. Sie brauchen von ihrem Rhythmus her einfach eine | |
Pause im Winter. Tropische Pflanzen leben ja mehr oder weniger in einem | |
Temperaturspektrum, das auch auf der Fensterbank herrscht – und das auch | |
noch ziemlich einheitlich das gesamte Jahr über, es gibt da kaum | |
jahreszeitliche Schwankungen. | |
Eignen sich im Umkehrschluss denn alle Pflanzen aus den Tropen auch fürs | |
Zimmer? | |
Pflanzen aus wirklich dauerfeuchten Gegenden wie Regenwäldern haben meist | |
Probleme, weil sie im Zimmer dann eben nicht mit der trockenen Heizungsluft | |
klarkommen. Aber es gibt ja viele tropische Gebiete, wo es eine klare | |
Regenzeit und eine klare Trockenzeit gibt – Pflanzen von dort sind viel | |
besser angepasst an unsere Raumluft und an die Tatsache, dass viele | |
Zimmergärtner:innen dann doch nicht unbedingt den grünsten Daumen | |
haben und vielleicht doch mal das Gießen vergessen. | |
Gibt es noch andere Ausschlusskriterien? | |
Pflanzen, die sehr hoch wachsen, landen selten im Zimmer, weil die einfach | |
irgendwann nicht mehr reinpassen. Uns im Botanischen Garten werden auch | |
immer mal wieder Gummibäume angeboten. Erst vor ein paar Tagen schrieb mir | |
eine Dame, deren Baum schon vier Meter Durchmesser hat und im Grunde schon | |
das ganze Zimmer ausfüllt. Ich möchte nicht wissen, wie sie den da | |
rauskriegen will … | |
Wahrscheinlich nicht am Stück. | |
Ja, ich habe ihr geraten, ihn zu stutzen und Stecklinge zu schneiden. Wenn | |
man es richtig macht, dann treibt der wieder aus. | |
Wie alt ist denn so ein Baum? | |
Das hat sie nicht gesagt, aber das können schon Jahrzehnte sein. | |
Ähneln die Zimmerpflanzen eigentlich ihren Geschwistern in der Wildnis sehr | |
oder sind die inzwischen ganz anders? | |
Viele sind durchaus genau so, wie sie auch in der Natur vorkommen. Viele | |
wurden aber auch züchterisch bearbeitet. So sind Orchideen zum allergrößten | |
Teil Hybriden, also Kreuzungen von ursprünglichen Wildarten, wobei | |
mittlerweile sogar Hybriden mit Hybriden gekreuzt werden. Für | |
Züchter:innen hat das den großen Vorteil, dass man sich das als Sorte | |
schützen lassen und allein vermarkten kann. Denn ich kann ja eine | |
Wildpflanze – Gott sei Dank! – nicht patentieren lassen. Und klar, solche | |
Hybriden sind natürlich optimiert auf die Zimmerbedingungen und auf Optik. | |
Wie kann das konkret aussehen? | |
Nehmen wir die Flamingoblume: Ihre Wildform hat relativ lange Triebe, sie | |
wächst eher kletternd und würde relativ bald aus dem Blumentopf | |
rauswuchern. Als Züchter möchte ich die aber schön kompakt und buschig | |
haben. Außerdem soll möglichst immer ein Blütenstand herausgucken, der auch | |
noch maximal lange blüht. | |
Sind Zimmerpflanzen eigentlich so gut fürs Raumklima, wie man immer hört? | |
Es gibt ja Untersuchungen, dass sie zum Beispiel Formaldehyd aufnehmen. Ich | |
sag mal so: Wenn ich ein paar Pflanzen im Raum habe und sie dann auch noch | |
regelmäßig gieße, erhöht das die Luftfeuchtigkeit, und das ist gerade im | |
Winter sicherlich nicht schlecht. Aber was den Reinigungseffekt angeht, wie | |
groß der wirklich ist … Gerade in der Coronakrise haben wir ja jetzt | |
gelernt: Lüften, lüften, lüften! Ich glaube, das bringt mehr. | |
10 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bgbm.org/de/pr/geliebt-gegossen-vergessen-phaenomen-zimmerpflan… | |
[2] https://www.instagram.com/explore/tags/plantfluencer/?hl=de | |
[3] https://www.dkg.eu/ | |
[4] /Benin-Kunstwerke-in-Berlin/!5769604 | |
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Michael Brake | |
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