| # taz.de -- Blume gegen den Herbstblues: Das bisschen Trost | |
| > Was tun gegen Dunkelheit, Kälte und schlechte Nachrichten? Über das | |
| > Glück, sich vor dem Winter eine zu große Chrysantheme zu kaufen. | |
| Bild: Eigentlich ist das genug: Chrysantheme in einem botanischen Garten in Chi… | |
| Es war sofort Liebe. Keine Ahnung, was neben ihr stand. Vermutlich ein paar | |
| Eimer mit traurig-braunen Herbststräußen für 6,99 Euro oder ein paar | |
| einsame umdrahtete Gerberas, die immer an die hässliche Reagenzglasvase im | |
| VW New Beetle erinnern. Vielleicht ein paar Zimmerpflanzen, bestimmt auch | |
| Nelken, vielleicht alles davon. Im Hintergrund Fußgänger in Daunenjacken, | |
| meistens schwarz, marineblau, und eine vierspurige Hauptstraße, genauso | |
| grau wie der Himmel. Alles schrie nach Herbst, nur sie nicht. Eine | |
| Chrysantheme. Groß, pink und buschig. Am liebsten wäre ich | |
| zusammengeschrumpft, hätte Anlauf genommen und mich dann voller Wucht in | |
| sie reingeworfen, wie ich mich als Kind beim Blick aus dem Flugzeugfenster | |
| gern in die Wolken gestürzt hätte. | |
| Aber ich kann mich nicht schrumpfen, also tunkte ich nur kurz meine | |
| Nasenspitze zwischen die Blüten. Sie dufteten kaum, aber das Gefühl war | |
| gut, wie wenn man ganz nah am Gesicht eines geliebten Menschen liegt und | |
| dessen Wimpern in der Kuhle zwischen Nasenflügel und Wangenknochen fühlen | |
| kann. | |
| Ich hob den Pflanztopf an, leichter als gedacht. Im Laden bezahlte ich 8 | |
| Euro und fand das nicht zu viel für die Liebe, obwohl vergleichbare | |
| Pflanzen beim Discounter um die Ecke für die Hälfte im Angebot waren, | |
| obwohl Pflanzen in meinen Händen bisher nicht die besten Überlebenschancen | |
| haben, und obwohl mir der Kauf wie Überfluss vorkam, weil es sich eindeutig | |
| um eine L-Pflanze handelte, aber ich doch sonst eine M-Person bin – ich | |
| entscheide mich meist für die mittlere Größe: Popcorntüte, Kaffee, | |
| Prepaid-Tarif. Alles egal. Ich hatte viel zu lange nichts so Schönes mehr | |
| gesehen. Also trug ich sie nach Hause. | |
| ## Das Kurz-mal-alles-andere-Vergessen | |
| Ich habe erst später bemerkt, wie nötig ich das hatte. Den großen Topf | |
| nehmen. Das Auf-der-Straße-angelächelt-Werden von Unbekannten, weil ich | |
| eine Frau mit Schweiß auf der Stirn und einem für die Jahreszeit perfiden | |
| Dauerlächeln war, die bepackt mit einem viel zu schweren Jutebeutel einen | |
| blühenden Strauch vor sich hertrug. Das Kurz-mal-alles-andere-Vergessen. | |
| Das bisschen Schönheit, das bisschen Trost. Und Trotz, irgendwie. Trotz | |
| November. Trotz Sonnenuntergang um 16.13 Uhr. Trotz der schlechten | |
| Nachrichten. Eine Chrysantheme. | |
| Ich gebe zu, dass ich nicht sofort wusste, dass es sich um eine | |
| Chrysantheme handelt. Ich kenne mich mit Pflanzen nicht aus. Jahrelang | |
| habe ich mich fast ausschließlich für Schnittblumen interessiert, und auch | |
| das selten genug, um mir ihre Namen zu merken. Ich hätte gern von denen | |
| hier, habe ich immer gesagt, und manchmal nannte die Floristin dann den | |
| Namen besagter Blume, sie sagte: Ah, von der Anemone, oder: Sie meinen die | |
| Dahlien?, und ich nickte, aber hatte die Namen meist wieder vergessen, wenn | |
| ich die Blumen zu Hause in die Vase stellte. | |
| Jahrelang fand ich diese Teile meines Ichs sehr schwer zu vereinbaren: Die | |
| Frau, die Blumen liebt, und die Frau, die kein wirkliches Interesse | |
| entwickelt, ebenjene Blumen zu pflegen, außer ab und zu mal das Wasser zu | |
| wechseln. Ethisch müsste das ja zusammengehören, oder nicht? Wenn ich nicht | |
| erhalten lernen will, was ich so liebe – liebe ich es dann überhaupt? | |
| ## Möglicherweise das Todesurteil meiner neuen Geliebten | |
| Die Frau im Blumenladen meinte: Nicht direkt in die Sonne. Und nicht von | |
| oben gießen, sondern das Wasser in die Schale unter dem Pflanztopf geben. | |
| Reicht das, oder muss ich mehr wissen? Ich google „Chrysanthemen Balkon“ | |
| und werde vom Internet der Botanikexpert*innen verschluckt. Ich lese | |
| Artikel namens „Chrysanthemen auf dem Balkon überwintern“ (die erste große | |
| Herausforderung für mich und meine neue Geliebte), „Chrysanthemen reichlich | |
| gießen“ (möglicherweise das Todesurteil meiner neuen Geliebten) und „Nicht | |
| alle Chrysanthemen sind winterhart und mehrjährig“ (möglicherweise meine | |
| Ausrede, falls meine neue Geliebte bei mir verfrüht ums Leben kommt). | |
| Ich merke mir, dass Chrysanthemen zu den Korbblütlern gehören, dass es | |
| sogenannte Zungen- und Röhrenblüten gibt, und dass Adjektive namens | |
| „drüsenhaarig“ und „ungeflügelt“ existieren. Ich erinnere mich an | |
| chinesischen Chrysanthementee, der die Leber reinigen und die Augen klarer | |
| machen soll, ich lese von Chrysanthemenöl und -badezusatz. Ich hefte mir | |
| eine Website an den Browser, die Jutesäcke als Frostschutz verkauft, und | |
| bestelle eine Gartenschere, natürlich aus dem Mittelklassepreissegment. | |
| Zwischendurch sehe ich die Chrysantheme auf dem Balkon, pink und leuchtend, | |
| neben den kleinen Töpfen, in denen schon alles vertrocknet ist. Eigentlich, | |
| denke ich, brauche ich gar nicht mehr. Eigentlich ist das genug. | |
| 20 Nov 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
| ## TAGS | |
| Herbst | |
| Blumen | |
| Melancholie | |
| Hoffnung | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Kolumne Poetical Correctness | |
| China | |
| Pflanzen | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Nachhaltiges Gärtnern: Langsam mit den Blumen | |
| Das Essen auf dem Tisch soll bio sein. Was aber ist mit den Blumen dazu? | |
| Claudia Werner setzt mit der Slowflower-Bewegung auf nachhaltige | |
| Schnittblumen. | |
| Verbundenheit in Krisenzeiten: Ein Herbst mit Wärme und Licht | |
| Müdigkeit ist zu einer permanenten Erkenntnis geworden. Wir alle sehnen uns | |
| bei den vielen Krisen nach einer Ruhe, die bleibt. | |
| Chinesische Küche und Kultur: Von Kuchen und Mythen | |
| Zum chinesischen Mondfest verschenkt man Mondkuchen. Dabei kommen Fragen | |
| auf: Wie schmeckt Mondstaub? Und wer ist die Frau im Mond? | |
| Biologe über Zimmerpflanzen: „Der Gummibaum ist ein Evergreen“ | |
| Junge Stadtmenschen haben Zimmerpflanzen neu für sich entdeckt. Biologe | |
| Nils Köster über die Gründe – und woher die Liebe zu Flamingoblume & Co | |
| kommt. |