| # taz.de -- Autor Gianni Jovanovic: „Was da passierte, waren Pogrome“ | |
| > Als Gianni Jovanovic vier war, wurde auf das Haus seiner Familie ein | |
| > Anschlag verübt. Ein Gespräch über Rassismus gegen Roma und zarte | |
| > Männlichkeit. | |
| Bild: Gianni Jovanovic hat die Gruppe „Queer Roma“ gegründet, ist Unterneh… | |
| taz: Herr Jovanovic, vor Kurzem saßen Sie vor Jugendlichen und ihren Eltern | |
| in der Aula des Reinhard-und-Max-Mannesmann-Gymnasiums in Duisburg. Auf die | |
| Frage, was Sie den jungen Menschen mitgeben möchten, haben Sie sich an die | |
| Jungen gewandt und gesagt: „Werdet zärtliche Männer!“ Warum ist das | |
| wichtig? | |
| Gianni Jovanovic: Es geht darum, Männlichsein in seinen vielen | |
| verschiedenen Facetten zu feiern. Es wird immer die Alpha-Männlichkeit | |
| geben, die aggressiv ist, die sich durchsetzen will und ihre Privilegien in | |
| der Gesellschaft nutzt, um Ressourcen abzugreifen. Aber in meinen Augen ist | |
| diese patriarchalische Männlichkeit obsolet. Ich kenne diese Art von | |
| Männlichkeit von mir selbst, aber ich komme nicht klar damit, was ich da | |
| reproduziere, weil ich es so gelernt habe. Damit möchte ich aufhören. Ein | |
| Mann soll durchaus ein stabiler Kerl sein, aber er sollte sich immer | |
| seiner Privilegien als Mann bewusst sein und deswegen Achtung zeigen vor | |
| anderen, die es in der Gesellschaft schwerer haben, insbesondere Frauen. | |
| Vor zwei Jahren ist Ihr Buch „Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit“ | |
| erschienen. Darin erzählen Sie radikal offen über Ihr Leben als Vater, | |
| Großvater, schwuler Mann und Rom. Sie wurden als Jugendlicher verheiratet, | |
| mögen das Wort „Zwangsheirat“ aber nicht. War diese Heirat Ausdruck | |
| besonders patriarchaler Strukturen in Ihrer Familie? | |
| Der Auslöser war nicht das patriarchale Gebaren meines Vaters und der | |
| Männer vor ihm. Das war nicht der Grund für diese Zwangsverheiratung – denn | |
| ich war 14, ich habe mich nicht freiwillig dafür entschieden. Diese | |
| Verheiratung gehört schlicht zu den Überlebensstrategien, die Sinti und | |
| Roma, Sintizze und Romnja entwickeln mussten. Warum? Weil ihnen in ihren | |
| Ländern Ressourcen verweigert wurden und werden, im Bildungssystem, im | |
| Arbeitsleben und in der Art und Weise, wie die Menschen wohnen müssen. Dazu | |
| kommen jahrhundertelange Verfolgung, die im Holocaust ihren Höhepunkt | |
| gefunden hat. Das sind die Gründe gewesen, warum meine Eltern mich | |
| verheiratet haben: Weil sie schlichtweg keine Rente von Deutschland zu | |
| erwarten hatten und weil dementsprechend Kinder und Enkel zu haben eine | |
| wichtige Ressource war. | |
| Das heißt aber nicht, dass patriarchale Strukturen in Ihrer Familie keine | |
| Rolle gespielt haben? | |
| Natürlich spielen sie eine Rolle, ist doch klar. Je marginalisierter, je | |
| verfolgter Gruppen sind, desto mehr wird in ihnen die patriarchale | |
| Entscheidungslegitimität vorangetrieben. Auch Frauen reproduzieren das, | |
| meist als Überlebensstrategie, aus einer Machtdimension, die von unten | |
| kommt. Auch ich, queere Menschen, Transmenschen reproduzieren patriarchale | |
| Strukturen – alle Menschen tun das, weil wir sie aufgesogen haben, genauso | |
| wie rassistische Strukturen übrigens. Patriarchale, rassistische und | |
| kapitalistische Strukturen prägen auch unsere Vorstellungen von | |
| Männlichkeit. | |
| Zum patriarchalen Denken gehört die Behauptung, dass alle Menschen | |
| selbstverständlich hetero sind – oder sein sollen. Sie wurden mit 16 zum | |
| ersten Mal Vater, wussten damals aber schon, dass Sie schwul sind – ein | |
| Konflikt, der in diesem Alter wohl kaum lösbar erscheint und daher extrem | |
| belastend für Sie gewesen sein muss? | |
| Ja, das stimmt, und es kommt hinzu, dass ich Einzelkind bin. Das ist sehr | |
| ungewöhnlich für Roma-Familien. Meine Mutter konnte keine Kinder mehr | |
| bekommen, und deshalb war es wichtig, dass die Familie in meiner Generation | |
| Ressourcen schafft. Da galt es, früh Vater zu werden, am besten viele | |
| Kinder zu bekommen, um das System aufrechtzuerhalten, das ein Überleben der | |
| Familie garantiert. Das ist etwas, was mein Vater und meine Mutter, weil | |
| sie aus einer Struktur der Unterdrückung kommen, kennen und kultiviert | |
| haben. | |
| Sie haben entschieden, es anders zu machen. | |
| Ja, ich habe mich entschieden, das mit meinen Kindern anders zu machen. Ich | |
| selbst musste – auch das war strukturell bedingt – eine Schule für | |
| Lernbehinderte, so hat man das damals genannt, quasi eine Sonderschule, | |
| besuchen, aber bin damit in der Mehrheitsgesellschaft erzogen und geprägt | |
| worden. Ich habe Wünsche und Perspektiven entwickelt, weil ich Menschen in | |
| meinem Umfeld hatte, die mich empowert haben und die mir gesagt haben: Du | |
| musst das nicht leben, was du vorfindest. Meine Homosexualität war dann | |
| aber der entscheidende Grund, zu sagen, ich durchbreche jetzt diese | |
| Struktur, ich werde selbstbestimmt und gehe in den Widerstand auch zu | |
| meiner Familie und versuche zu erfahren: Was kann ich, wer bin ich, und was | |
| will ich – unabhängig von dem, was mir aufgezwungen worden ist? Wenn ich | |
| die Schale abschäle, was steckt drunter? Das war die Frage, die für mich | |
| lebensnotwendig war. Wenn ich sie mir nicht gestellt hätte und nicht mein | |
| Outing durchzogen hätte, nicht zur Therapie gegangen wäre, hätte ich es | |
| wahrscheinlich nicht geschafft. Und auch meine Familie nicht. | |
| Dass Sie auf diese Schule geschickt wurde, hatte wenig mit Ihren Talenten, | |
| Fähigkeiten oder spezifischen Herausfoderungen zu tun, sondern in erster | |
| Linie, weil Sie aus der Community der Roma kommen. | |
| Ob man heute noch solche Förderzentren braucht, ist die Frage. Ich kann mir | |
| nur erlauben, aus meiner eigenen Erfahrung zu sagen, dass Inklusion das | |
| entscheidende Element ist, nicht nur für Kinder mit Behinderungen, sondern | |
| für alle Menschen. Ich habe dort Inklusion erfahren, es gab Kinder mit | |
| verschiedenen Körperformen, Kinder mit geistigen oder körperlichen | |
| Behinderungen, Kinder, die autistisch waren oder neurodivergent. Deswegen | |
| habe ich mit Menschen, die solche Lebensrealitäten haben, keine | |
| Berührungsängste. Im Gegenteil, ich fühle mich ihnen sehr verbunden. Aber | |
| ich wäre trotzdem gern in einer Grundschule gewesen. | |
| Ungleiche Bildungschancen sind noch heute besonders für Roma und Romnja ein | |
| großes Problem in Deutschland. | |
| Das fängt bei der Schuleingangsuntersuchung an. Da entscheidet man ja | |
| schon, ob dieses Kind fit für die Grundschule ist oder ob das Kind eine | |
| andere Förderung oder eine Vorförderung braucht. Oft ist es tatsächlich so, | |
| dass Kinder aus der Community Traumata haben und auch eine Art von | |
| Förderung brauchen. Aber das gilt nicht für alle Kinder, insbesonders für | |
| Sinti oder auch für Roma, die in Deutschland geboren worden sind, deren | |
| Familien seit Dekaden in Deutschland leben und die sich als Deutsche | |
| verstehen. Wir haben ein Versprechen abgegeben, dass wir Sinti und Roma als | |
| geschützte Minderheit in Deutschland anerkennen, und dieser Schutz sollte | |
| sich in allen Bereichen einer demokratischen Gesellschaft zeigen. Das ist | |
| aber nicht der Fall, und das ist sehr dramatisch, leider. | |
| Sie hatten das Glück, eine Lehrerin zu haben, die erkannt hat, dass sie ein | |
| kluges Kind vor sich hat. | |
| Ja, ich habe ihr viel Raum in meinem Buch gegeben, weil sie eine Künstlerin | |
| der Lehre war, eine Pädagogin durch und durch und ein guter Mensch. | |
| Letzteres kommt, glaube ich, an erster Stelle. Sie hat sich immer gefragt: | |
| Kann dieses Kind auf dem regulären Bildungsweg die Schulkarriere anfangen? | |
| Das hat Frau Bernecker damals gesehen, weil sie eine kluge und großartige | |
| Erzieherin, Pädagogin, Lehrerin, Mutter war. Sie hat dann dafür gesorgt, | |
| dass ich mit meinen Leistungen, die ja sehr gut waren, die Schule wechseln | |
| konnte. | |
| Sie haben rassistische Anfeindungen am eigenen Leib erfahren. Auf das Haus | |
| Ihrer Familie in Darmstadt wurde 1982 ein Brandanschlag verübt, Sie waren | |
| vier Jahre alt. Durch einen Pflasterstein, der auf Sie geworfen wurde, | |
| wurden Sie schwer verletzt. | |
| Ja, das war ich. Dieser Anschlag steht in einer Kontinuität, die es nach | |
| dem Holocaust gab und die über [1][Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen], | |
| Mölln, Solingen bis nach Hanau reicht. Wie bei diesen Anschlägen auf | |
| Menschen mit Migrationsgeschichte ging es auch bei uns darum: Man wollte | |
| uns nicht da haben, man wollte uns im wahrsten Sinne des Worts ausbrennen. | |
| Der Hass auf Roma wurde in der Stadt weiter tradiert, und der damalige | |
| Oberbürgermeister Günther Metzger von der SPD hat von oberster Stelle | |
| mitgemobbt. Das unmenschliche Bild des Kriminellen wurde auf uns | |
| projiziert. Das hatte zur Folge, dass sich Menschen berechtigt gefühlt | |
| haben, uns Molotowcocktails ins Haus zu werfen, um uns umzubringen. Deshalb | |
| ist es wichtig, dass man der rechtsextremen Gewalt, der rassistisch | |
| motivierten Gewalt, die von Parteien, die im Bundestag sitzen, unterstützt | |
| wird, einen Riegel vorschiebt und sagt, in einer pluralen demokratischen | |
| Gesellschaft, wo jeder und jede das Recht auf Menschenwürde hat, dürfen wir | |
| so was nicht zulassen. Wir haben als Gemeinschaft die Verpflichtung, | |
| gegenseitig auf uns aufzupassen, insbesondere auf jene, denen es schlechter | |
| geht als einem selber. Das macht Solidarität aus. | |
| Bleiben wir noch kurz in Darmstadt, Anfang der 1980er. Als Ihre Großfamilie | |
| für zwei Wochen gemeinsam in den Urlaub fuhr, wurde kurzerhand das Haus | |
| abgerissen, in denen Ihre Tanten und Onkel mit ihren Familien lebten. Die | |
| Begründung lautete „Seuchengefahr“, ein Begriff, den auch die NS-Bürokrat… | |
| bei der Verfolgung von Minderheiten benutzt hat. | |
| Was da passiert ist, waren Pogrome. Bis Mitte der 1980er gab es in | |
| deutschen Behörden, etwa im Justizministerium, bekanntlich weiterhin alte | |
| Nazis, die fest in den Strukturen verankert waren. Die haben nach 1945 ihre | |
| Uniform abgelegt und standen in Anzug und Krawatte wieder vor den Menschen | |
| und haben dann entschieden, ob jemand bleiben darf oder nicht. So war es | |
| auch bei uns. | |
| 1980 haben Aktivisten der Sinti und Roma den Keller eines Instituts der Uni | |
| Tübingen besetzt, in dem die Akten der NS-Rassenforschung lagen, die weiter | |
| für die „Forschung“ benutzt wurden. Haben Sie das Gefühl, dass die | |
| Gesellschaft heute aufgeklärter darüber ist, was Sinti und Roma vom | |
| NS-Regime angetan worden ist? | |
| Die Frage ist in der Tat, wie viel [2][Wissen wir über die zweitgrößte | |
| verfolgte Gruppe im Holocaust besitzen.] Man weiß über den Porajmos – auf | |
| Romani „das Verschlingen“, also die planmäßige Vernichtung von Sinti und | |
| Roma – in Deutschland immer noch sehr wenig. Bezüglich des Rassismus gegen | |
| Sinti und Roma kam es nie zu einer ernstzunehmenden Aufarbeitung, weder was | |
| die Reparationszahlungen betraf noch die Anerkennung als Verfolgte wegen | |
| der NS-Rassentheorie. Man hat uns ja als „delinquent“ und „deviant“, al… | |
| als nicht gesellschaftsfähig eingestuft. | |
| Das Wort, das die NS-Bürokratie auch bei der Verfolgung von Sinti und Roma | |
| benutzt hat, war „asozial“. | |
| Dadurch sind wir zu Kriminellen stigmatisiert worden, und aus diesem Grund | |
| heraus wurden in der Nachkriegszeit auch kaum Reparationszahlungen | |
| geleistet. In den Bildungsinstitutionen war das bestenfalls eine Randnotiz | |
| oder wurde gar nicht erwähnt. Im Bereich der Kultur, in der Musik, im | |
| Theater, in der Literatur, aber auch im familiär weitergegeben Wissen | |
| wurden auch nach dem Krieg extrem rassistisch konnotierte Bilder | |
| überliefert. Sinti und Roma haben darin den Charakter des Antagonisten im | |
| Sinne von: Die dürfen wir angreifen, alle anderen nicht, aber die sind so, | |
| mit denen darf man das machen. Also bevor du irgendjemand anders | |
| rassistisch beleidigst, beleidige lieber einen Rom, dann wird sich keiner | |
| darüber aufregen. | |
| Die Berliner Roma Parade am 8. April beginnt am Denkmal für die | |
| [3][ermordeten Sinti und Roma Europas, das man wegen des Baus einer | |
| S-Bahnlinie] vorübergehend womöglich nur eingeschränkt besuchen können | |
| wird. | |
| Die Frage ist, ob dieses Denkmal weichen muss, beziehungsweise, ob es | |
| Menschen während der Bauarbeiten überhaupt noch besuchen können und wie | |
| lang diese dauern sollen. Ich hoffe, dass dieses Projekt gestoppt wird und | |
| dass alles so bleibt, wie es ist. Das ist die große Hoffnung von allen, die | |
| an diesem Ort aufrichtig gedenken. | |
| 8 Apr 2024 | |
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