# taz.de -- Autor Boualem Sansal über Terror: „Eine islamistische Internatio… | |
> Nationalität spielt für den Islamismus eine untergeordnete Rolle. Der | |
> algerische Schriftsteller Boualem Sansal über anwachsenden Extremismus. | |
Bild: Demonstrantion in Algier gegen „Charlie Hebdo“ Mitte Januar. | |
taz: Herr Sansal, war das Attentat auf Charlie Hebdo ein isolierter | |
Gewaltakt, oder ist es der erste einer Serie von Anschlägen, gar der Beginn | |
eines langen Krieges radikaler Islamisten gegen den Westen und seine Werte? | |
Boualem Sansal: Es handelt sich weder um eine Einzelaktion noch um ein | |
völlig durchorganisiertes Verbrechen. Ich glaube, dass wir vor einem | |
längeren Prozess stehen. Der Islamismus ist mittlerweile überall auf der | |
Welt verankert. Er entwickelt sich mit seinen Höhen und Tiefen. Mal ist er | |
ruhiger, mal ist er sehr virulent. Was derzeit in Europa passiert, lässt | |
sich mit dem vergleichen, was wir in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren | |
in Algerien erlebten. Es ist eine lange, stetige Entwicklung. | |
Sie sehen also einen Zusammenhang zwischen der Terrorwelle der 1990er Jahre | |
in Algerien und dem, was heute in Frankreich passiert? | |
Egal ob es um Politik, Religion oder Kultur geht, alles was in Frankreich | |
geschieht, hat sofort Auswirkungen auf Algerien und umgekehrt. Die Algerier | |
stellen eine große Bevölkerungsgruppe in Frankreich. Es gibt ein ständiges | |
Kommen und Gehen zwischen beiden Ländern. Es bestehen unzählige | |
Verbindungen und Kontakte. | |
Das heißt, die Anschläge von Paris sind gewissermaßen das Erbe des | |
Kolonialismus oder Neokolonialismus? | |
Nein, die Erinnerung an den Konflikt zwischen Frankreich und Algerien | |
spielt nur eine untergeordnete Rolle. Auch wenn die Ressentiments sicher | |
dazu beitragen, dass die meisten großen Anschläge und auch viele der | |
kleineren in Frankreich von Attentätern mit algerischem Hintergrund | |
ausgeführt werden. Das war auch jetzt bei Charlie Hebdo wieder so. Aber | |
wenn wir heute von den Attentätern und den Islamisten reden, dann geht es | |
um die vierte Generation. Die radikalen Islamisten haben ihren globalen | |
Zusammenhang. Sie tauschen sich über das Internet aus. Die Nationalität | |
spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle. Wir stehen vor einer | |
regelrechten islamistischen Internationalen. Die Informationen, die | |
Propaganda, alles zirkuliert sehr schnell. | |
Wie erklären Sie sich die Gewalt dann? Ist sie das Ergebnis von sozialen | |
Konflikten? Die Folge mangelnder Integration? | |
Nein, nein. Die sozialen Probleme spielen auch nur eine Nebenrolle. Es gibt | |
ein politisches Projekt im Islam, mit dem Namen Ennahda, dem | |
Wiedererwachen. Der Islam ist nach jahrhundertelangem Schlaf wieder aktiv. | |
Es gibt zwei Strömungen. Die einen wollen einen offenen, modernen Islam. | |
Sie wollen aus dem traditionellen Islam ausbrechen. Die andere Strömung hat | |
eben diesen traditionellen Islam und das Projekt der Eroberung erneut | |
aufgenommen. So wie einst der Prophet immer neue Länder, immer neue Seelen | |
eroberte. Es geht ihnen darum, die ganze Welt zu islamisieren. | |
Sie reden vom Islamismus und nicht vom Islam als solchem? | |
Nein, ich rede sehr wohl vom Islam als solchem. Nach mehreren Jahrhunderten | |
der Ruhe und des Rückgangs ist der Islam wieder aktiv. Es geht darum, den | |
Islam wieder zur großen Religion zu machen, zur großen Zivilisation, der er | |
einst war. | |
Aber wenn wir von Gewalt reden, vom Terror, dann geht es doch um den | |
Islamismus und nicht um den Islam? | |
Moment. Es gibt zwei Projekte: das der Modernisierung und das der | |
Tradition. Diejenigen, die zur Tradition zurückwollen, sind | |
Fundamentalisten, meist Salafisten. Der Islam, wie sie ihn verstehen, ist | |
der des Propheten, der die Religion mit dem Schwert und nicht mit dem Wort | |
verbreitete. Es geht ihnen darum, die Welt zu erobern, die Menschen zu | |
islamisieren. Das hat zum radikalen Islamismus geführt. | |
Welche der zwei Strömungen wird sich durchsetzen? | |
Langfristig die Aufklärer, die Modernisierer. Aber wer auf die Intelligenz | |
setzt, braucht viel Zeit. Es geht darum, viele, viele Generationen zu | |
erziehen. Bis sich der moderne Islam durchsetzt, geht sicher ein weiteres | |
Jahrhundert ins Land. Bis dahin werden die Islamisten das Sagen haben. Sie | |
sind in Marokko, in Libyen, Iran, Irak, Syrien, Afghanistan hegemonial. Und | |
selbst dort, wo sie nicht an der Macht sind, haben sie die Gesellschaft | |
fest im Griff, wie zum Beispiel in Tunesien oder Algerien. Und jetzt haben | |
sie den Westen zum Ziel auserkoren. In Ländern wie Frankreich, Deutschland, | |
in Belgien, in Großbritannien – auch dort gewinnen sie an Einfluss. | |
Wie schaffen sie es, Anhänger unter jungen Menschen zu finden, die im | |
Westen aufgewachsen sind? Wie sehen die sozialen Mechanismen dieser | |
Rekrutierung aus? | |
Es gibt keinen sozialen Mechanismus. Es ist ein Irrtum, zu glauben, die | |
Islamisten seien alles arme Schlucker. Bei uns in Algerien waren viele der | |
Islamisten Akademiker, hatten studiert. Waren Beamte, Ingenieure, Ärzte, | |
Naturwissenschaftler. Fast die gesamte Führung der Islamischen Heilsfront | |
(FIS) bestand aus Wissenschaftlern, Ärzten, Medizinern oder Juristen. Viele | |
wurden in Frankreich oder den USA ausgebildet. Es ist eine Elite. | |
Das gilt aber nicht für diejenigen, die aus westlichen Ländern jetzt in den | |
Krieg nach Syrien oder Irak ziehen, um sich dort dem Islamischen Staat | |
anzuschließen. | |
Natürlich gibt es auch die einfachen Soldaten. Die machen dies oft nicht | |
wegen der Religion, sondern weil der Islamische Staat sie gut bezahlt. Und | |
es geht ums Abenteuer. Um Überfälle, Raubzüge, Vergewaltigungen. Das sind | |
Psychopathen. | |
Ist das nicht zu einfach? Gibt es nicht auch den Mythos vom guten | |
Dschihadisten, so wie einst unter Linken den vom Guerillero à la Che | |
Guevara? | |
Natürlich gibt es auch diejenigen, die fest an eine islamische Revolution | |
glauben und davon begeistert sind. Sie leben in ihrer eigenen Welt, mit | |
eigener Literatur, Poetik und Filmen. Aber ein Großteil sind einfache, | |
elende Gestalten. Kleine Kriminelle, Menschen mit Drogenproblemen und die | |
oft einem völlig zerrütteten Milieu entstammen. | |
Also doch diejenigen, die nicht integriert werden können? | |
Wenn ich von elenden Gestalten rede, meine ich damit nicht automatisch die | |
Vororte, die Hochburgen der Immigration. Es gibt unter ihnen auch | |
Franzosen, die zum Islam konvertiert sind. Leute, die einen guten Posten | |
als Beamter hatten, in der Armee gedient hatten. Diese haben das Elend | |
eines verarmten Kopfes, nicht unbedingt aber ein elendes materielles | |
Dasein. | |
Aber was ist es, was diese Menschen anzieht? Wenn es nicht die soziale | |
Frage ist, dann gibt es vielleicht so etwas wie einen psychologischen | |
Mechanismus? | |
Das ist ein großes Rätsel. Als der Islamismus in Algerien Fuß fasste, hat | |
niemand so richtig verstanden, was da vor sich ging. Die Erklärung liegt in | |
der modernen Welt an sich. Es gibt nichts mehr, von dem man träumen kann. | |
Alles reduziert sich auf eine gute Arbeit, eine Wohnung, ein Auto. Es | |
passiert nichts, was begeistern könnte. Vielen Menschen fehlt etwas. Vor | |
allem junge Menschen brauchen Träume, wollen, dass etwas passiert. Das | |
finden sie nirgends, absolut nirgends. | |
Islamismus, um ein leeres Leben zu füllen? | |
Die Religion, der Islam bietet tatsächlich so etwas wie einen Sinn in | |
alldem. Träume, Freundschaft, Abenteuer. In der Moschee ist vom Leben die | |
Rede, von Gott, vom Paradies, von den heldenhaften Schlachten des | |
Propheten. Es geht um die große arabische Zivilisation, mit ihrer | |
glorreichen Vergangenheit, den vielen großen Erfindungen. Das begeistert. | |
Der radikale Islamismus ist damit vielmehr die Folge einer moralischen | |
Krise als einer sozialen Krise. In Algerien waren es nicht die jungen | |
Arbeitslosen. In Algerien zog es vielmehr Intellektuelle und gebildete | |
Menschen in die Moschee. Produzieren, konsumieren, produzieren – vielen ist | |
das nicht genug. Die Religion gibt ihnen scheinbar eine Antwort. | |
Was kann der Westen tun, um den modernen Islam zu unterstützen und den | |
traditionellen Islam und damit den Islamismus zu bekämpfen? | |
Man kann den traditionellen Islam nicht einfach so „bekämpfen“. Es geht um | |
Ideen, Gedanken. Wir bekämpfen ja auch nicht die traditionellen, orthodoxen | |
Christen. Sie haben ein Recht darauf, ihre Religion zu leben. Es geht | |
darum, die Auswüchse zu bekämpfen. | |
Und wie bekämpfen wir die Auswüchse, die Gewalt, den Terrorismus? | |
Indem wir unsere humanistischen Ideen, Prinzipien verteidigen. Aber genau | |
da liegt das Problem. Europa scheint keine Prinzipien, keine Ideen mehr zu | |
haben. Für was und für wen sollen wir kämpfen? Für den Profit der Banken? | |
Und wen verteidigen wir? Die alteingesessenen Franzosen oder alle, egal | |
welcher Abstammung und welcher Glaubensrichtungen sie sind? Europa hat nach | |
und nach viele Ideen des großen, aufgeklärten Europas vergessen. Das Europa | |
der Zivilisation wird doch immer wieder aufgegeben. | |
Europa handelt keineswegs immer demokratisch. Europa unterstützt | |
Diktaturen, damit es seine Waffen- oder Atomtechnik verkaufen kann. Vieles | |
ist dem Kommerz untergeordnet. Ohne Ideale und Prinzipien ist es schwer zu | |
kämpfen, unmöglich zu gewinnen. Denn die Gegner haben Prinzipien und eine | |
Erzählung. Und sie haben den Mut, diese zu verteidigen. Das ist das | |
Problem. Europa muss wieder die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und | |
Brüderlichkeit in den Vordergrund rücken. Europa muss so nach vorne schauen | |
und die Zukunft, die Jugend, für sich gewinnen. | |
25 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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