# taz.de -- Ausstellung zu besetztem Berlin: Reise in das Kreuzberg von gestern | |
> 40 Jahre Selbstorganisation feiert eine neue Ausstellung im | |
> Friedrichshain-Kreuzberg Museum. Im Mittelpunkt stehen vier ehemalige | |
> Hausbesetzungen. | |
Bild: Die Regenbogenfabrik an der Lausitzer Straße 1981, also im Jahr ihrer Be… | |
BERLIN taz | „Die Wohnungspolitik in Berlin ist unerträglich geworden und | |
muss sich dringend und gründlich ändern. Spekulanten und | |
Wohnungsbaugesellschaften betrachten den für uns alle nötigen, billigen | |
Altbauwohnraum als [1][Spekulationsmasse] […] Was Profitableres findet man | |
kaum.“ Beschreibt die aktuelle Situation in Berlin gar nicht so schlecht, | |
oder? | |
Nur den „billigen Altbauwohnraum“ gibt es kaum noch. Das verrät, dass das | |
Zitat schon ein paar Jahrzehnte alt ist. Es stammt aus den Achtzigern, aus | |
einer Ausgabe des Südost Express – einer Kreuzberger Zeitschrift, | |
herausgegeben von der [2][Bürgerinitiative SO36 und Chronistin der | |
damaligen Hausbesetzungsszene]. | |
Um jene Zeit geht es in einer neuen Ausstellung im Friedrichshain-Kreuzberg | |
Museum: 40 Jahre Selbstorganisation in Kreuzberg. Das wird anhand von vier | |
Initiativen erzählt, die es seit 1981 gibt, plus eine neue Initiative. | |
„[3][Dann machen wir's halt selbst!]“ heißt die Ausstellung. Im Mittelpunkt | |
stehen vor allem die Räume, die die Projekte schufen, weil sie ihnen | |
fehlten. Zunächst wortwörtlich geografische Räume, entwickelten sie sich zu | |
soziokulturellen Räumen in dem Maße, in dem dieser Begriff in den | |
Achtzigern erst geprägt wurde. | |
Die Ausstellung im ersten Stock des Museums ist klein, aber dicht. Zu jedem | |
der fünf Projekte gibt es einen Aufsteller, dazu jeweils einen zu | |
Organisationsstrukturen und eine heutige Perspektive auf Diversität | |
innerhalb der Hausbesetzerbewegung aus den Achtzigern. Die Aufsteller sind | |
dicht behangen mit Fotos, Texten und Transkripten von Interviews mit | |
Personen der einzelnen Initiativen. | |
## Zeitreise via Fotoalbum | |
So etwa die Schokofabrik in der Mariannenstraße. Ein [4][Raum nur für | |
Frauen], der 1981 mit einer Hausbesetzung entstand und seitdem stetig | |
wuchs. Die Schokofabrik gab sich eine Rechtsform als Verein, 2003 kam eine | |
Genossenschaft dazu, die das Haus kaufte. Ein weiter Weg. Vor allem wenn | |
man in der Ausstellung die Fotos aus der frühen Zeit sieht, wo Frauen an | |
Rohren rumwerkeln. Sie sanierten den ganzen Gebäudekomplex ohne einen | |
einzigen Mann. Ein Fotoalbum nimmt die Ausstellungsbesucher*innen | |
auf eine Zeitreise mit. | |
Dies ist denn auch eine der zentralen Stärken der Ausstellung: Sie | |
kommentiert anhand von Gesprächen und dokumentiert mit Originaldokumenten | |
und bleibt dadurch nah an den Projekten selbst. Nimmt man sich Zeit, um die | |
Flugblätter und Fotos durchzublättern, bekommen Zuspätgeborene ein Gefühl | |
dafür, wie es damals, in den sagenumwobenen Achtzigern in Kreuzberg, wohl | |
gewesen sein muss. Woher der wilde Ruf des Bezirks stammt, auch wenn davon | |
heute nur noch Polit-Folklore übrig ist. | |
Denn 2021 bedeutet das wilde Kreuzberg für Touris und junge | |
Berliner*innen vor allem: Kneipen, Imbisse, Spätis. Ein Projekt wie der | |
selbstorganisierte Kinderbauernhof hinter dem Bethanien liegt zurückhaltend | |
im Windschatten der Ausgehmeilen. Besetzung und Revolution? Na ja. Kriegt | |
man höchstens ein bisschen am 1. Mai mit. | |
Warum sich das so entwickelt hat, erklärt „Dann machen wir's halt selbst!“ | |
nicht. Das macht stattdessen die Dauerausstellung, die sich im selben Raum | |
befindet. Glücklicherweise, sonst würde wichtiger Kontext fehlen. Im Mai | |
1981 (das Jubiläumsjahr) zum Beispiel waren in Kreuzberg 80 Häuser besetzt. | |
## Instandbesetzen statt verwahrlosen lassen | |
Warum gerade damals und dort? Die Welle an Hausbesetzungen um 1981 wurde | |
vor allem dadurch ausgelöst, dass der Berliner Senat die Altbaugebiete rund | |
um die Oranienstraße abreißen und stattdessen Neubauten wie heute am | |
Kottbusser Tor bauen wollte. Die Altbauten ließ man deswegen leer und | |
verwahrlosen – Raum, den die Besetzer*innen einnahmen und selbst | |
instandsetzten – „instandbesetzten“, wie sie es nannten. | |
Und wie. Die Regenbogenfabrik in der Lausitzer Straße ist heute nicht mehr | |
nur Wohnprojekt, sondern ein regelrechter Organisationskoloss: Hostel, | |
Kantine, Kindergarten, Fahrradwerkstatt. Sie ist ein normaler Bestandteil | |
des Bezirks geworden. | |
Sie war es auch, die die Idee für die Ausstellung hatte und auf das | |
[5][Friedrichshain-Kreuzberg Museum] zuging, erzählt Andy Wolff von der | |
Regenbogenfabrik bei der Eröffnung: „Wir wollten 40 Jahre Regenbogenfabrik | |
nicht alleine feiern.“ Da hätten sie überlegt: „Wen kann man ins Boot | |
holen?“ | |
Neben Regenbogen- und Schokofabrik sind das HeileHaus und der | |
„[6][Kinderbauernhof Am Mauerplatz]“ an Bord. Abgesehen davon, dass es alle | |
seit 40 Jahren gibt, sei ausschlaggebend gewesen, dass sie noch öffentlich | |
wahrnehmbar sind. | |
## Ein zeitgenössisches Projekt schlägt die Brücke ins Jetzt | |
Als neueres Gegenstück ist außerdem die Casa Kuà dabei, 2020 gegründet und | |
in Räumlichkeiten der Schokofabrik untergebracht. Ähnlich wie das HeileHaus | |
ist die Casa Kuà ein Gesundheitszentrum mit ganzheitlichem Ansatz, wird | |
aber ausdrücklich von und für trans- oder non-binäre Personen und BIPoC | |
gemacht. Im regulären Gesundheitssystem fänden sich deren Bedürfnisse oft | |
nicht wieder, so das Team dahinter. | |
Damit schlägt die Ausstellung eine Brücke von den Achtzigern ins Jetzt. | |
Denn das bringt Diskurse in die Ausstellung, die vor 40 Jahren weniger als | |
heute Thema waren, Rassismus und Transphobie etwa. Das liegt auch daran, | |
dass die Hausbesetzungsszene der achtziger Jahre in Kreuzberg vor allem | |
weiß und westdeutsch geprägt war. Die Spannung dazwischen thematisiert die | |
Ausstellung sehr offen. Dadurch wird sie mehr als nur ein Blick ins | |
Fotoalbum der früheren Hausbesetzer*innen. | |
Auch wenn es alle vier Projekte noch gibt und sogar ein neues dabei ist: | |
Tritt man aus dem Hof des Friedrichshain-Kreuzberg Museums auf die | |
Adalbertstraße, fühlt es sich an, als sei man aus einer Zeitkapsel | |
gestiegen. Regenbogenfabrik und Co. haben sich ihre Freiräume zwar | |
erhalten. Aber dass heute neue Projekte mit so viel Platz – ein ganzes | |
Gebäude – mitten in der Stadt entstehen? Schwer vorstellbar. | |
15 Sep 2021 | |
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[6] /Kinderbauernhof-in-Kreuzberg/!5045935 | |
## AUTOREN | |
Cristina Plett | |
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