| # taz.de -- Ausgangsbeschränkungen wegen Corona: Das härteste Mittel | |
| > Am Wochenende könnte eine bundesweite Ausgangssperre kommen. Ein tiefer | |
| > Einschnitt, dessen Nutzen nicht mal Wissenschaftler*innen klar ist. | |
| Bild: Gerade noch erlaubt: Zwei Studentinnen genießen in Freiburg den Frühling | |
| Freiburg/Berlin taz | Es ist sonnig in Freiburg, etwas dunstig zwar, aber | |
| die Temperaturen sind angenehm: 20 Grad, einer der wärmsten Tage dieses | |
| Jahres. Normalerweise wäre die Stadt jetzt voller Einkaufsbummler*innen und | |
| Flaneur*innen. Und an diesem Freitag, am Tag vor der „Ausgangssperre“? | |
| Gehen alle noch mal raus und genießen den „letzten Tag in Freiheit“? Oder | |
| nehmen Sie die Anordnung bereits vorweg? | |
| Auf der Haupteinkaufsstraße „Kajo“ ist wenig los. Aber das kann auch andere | |
| Gründe haben, schließlich sind Kaufhäuser und Einzelhandel schon seit zwei | |
| Tagen zu. Doch auch sonst ist es außergewöhnlich ruhig. Auf den Treppen des | |
| Augustinerplatzes sitzen nur zwei Paare. Am Ufer der Dreisam verlieren sich | |
| einige wenige Sonnenbadende, sie liegen allein oder zu zweit, maximal zu | |
| dritt. Die Stimmung ist nicht gespenstisch. Es ist ja sonnig. | |
| Auch der große Platz vor dem Theater ist ziemlich leer, fünf Punks sind da. | |
| Was sie morgen machen? Blöde Frage an Punks, das wissen sie noch nicht. Am | |
| geschäftigsten ist es noch auf dem Stühlinger Kirchplatz, ein Treffpunkt | |
| für Geflüchtete und Migrant*innen aus Afrika. Wenn es in den Tagen vorher | |
| schon so ruhig gewesen wäre, hätte die Stadt wohl keine Ausgangssperre | |
| verhängt. | |
| Am Donnerstag hat die Stadt Freiburg angeordnet, dass sich die Menschen ab | |
| Samstag nur noch eingeschränkt in der Stadt bewegen dürfen. In drei | |
| nordbayerischen Gemeinden gelten bereits Auflagen, die noch strenger sind | |
| als die am Fuße des Schwarzwalds. Nach und nach [1][ziehen jetzt ganze | |
| Bundesländer nach]: Sowohl Bayern als auch das Saarland haben am Freitag | |
| generelle Ausgangsbeschränkungen beschlossen, auch Baden-Württemberg | |
| verschärfte landesweit die Regeln. Alle Maßnahmen sind auf das | |
| Infektionsschutzgesetz gestützt. | |
| ## Letzte Warnung | |
| Und das ist wohl noch nicht alles. Spätestens am Sonntagabend wird | |
| Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Telefonschalte mit den | |
| Ministerpräsident*innen über weitere Maßnahmen gegen die Ausbreitung des | |
| Coronavirus sprechen. Regierungssprecher Steffen Seibert kündigte an, dass | |
| sie besprechen werden, wie weit die bisher geltenden Auflagen und | |
| Ratschläge „umgesetzt und eingehalten“ werden. „Dabei wird sicher auch | |
| entscheidend sein, wie sich das am Wochenende im öffentlichen Bild | |
| darstellt.“ | |
| Im Klartext: Versammeln sich zu viele Menschen in Parks, Cafés oder auf | |
| Spielplätzen, ohne ausreichend Abstand zueinander zu halten, könnten | |
| bundesweite Ausgangssperren kommen. | |
| Unumstritten ist so ein Schritt natürlich nicht. Die Regierungschefs von | |
| Berlin, Hessen und Schleswig-Holstein äußerten sich am Freitag | |
| zurückhaltend zu möglichen Ausgangssperren in ihren Ländern. SPD-Chefin | |
| Saskia Esken lehnte eine so drastische Maßnahme sogar ganz ab. „Ich bin | |
| überzeugt: Als freiheitliche Gesellschaft brauchen wir keine | |
| #Ausgangssperre“, twitterte sie. „Die meisten Menschen verhalten sich | |
| vernünftig, verantwortungsvoll und solidarisch. Das sollten wir nicht | |
| gefährden!“ | |
| ## Eingriff in Grundrechte | |
| Tatsächlich greifen Ausgangssperren und Ähnliches tief in Grundrechte ein, | |
| zum Beispiel in das Recht, sich in Deutschland frei zu bewegen. Allerdings | |
| sind Eingriffe in Grundrechte durchaus möglich, wenn es dafür legitime | |
| Zwecke gibt. So sieht das Grundgesetz in Artikel 11, der das Grundrecht der | |
| Freizügigkeit garantiert, ausdrücklich die Möglichkeit vor, „zur Bekämpfu… | |
| der Seuchengefahr“ die Rechte Einzelner einzuschränken. | |
| Wie immer muss staatliches Handeln aber das Prinzip der Verhältnismäßigkeit | |
| beachten. Das heißt: Auch eine Ausgangssperre muss geeignet, erforderlich | |
| und angemessen sein. Dabei kommt es auf die Nuancen an. | |
| Die ab Samstag geltende Allgemeinverfügung der Stadt Freiburg verzichtet | |
| auf den Begriff der „Ausgangssperre“, sondern spricht von einem | |
| „Betretungsverbot für öffentliche Orte“, wozu Straßen, Gehwege, Plätze … | |
| öffentliche Grünflächen gehören. Einzelpersonen, Zweiergruppen und | |
| Personen, die zusammenwohnen, können sich weiterhin an öffentlichen Orten | |
| aufhalten. Sie müssen nur 1,5 Meter Abstand zu anderen wahren und sie | |
| dürfen den öffentlichen Nahverkehr nicht benutzen. Dass es in Freiburg | |
| weitere Ausnahmen gibt, etwa für Arztbesuche und Einkäufe, spielt da nur | |
| eine Rolle, wenn man mit Bus oder Straßenbahn zum Arzt oder zum Einkaufen | |
| fahren will. | |
| ## Bayern ist strenger | |
| Die Verfügung in Freiburg genügt sicher eher den Anforderungen der | |
| Verhältnismäßigkeit als die strengeren Regelungen in den drei | |
| nordbayerischen Kommunen. Sie wurden von den jeweils zuständigen | |
| Landratsämtern in Tirschenreuth und Wunsiedel beschlossen und auch | |
| ausdrücklich als „Ausgangssperre“ benannt. Ausnahmsweise erlaubt sind dort | |
| zum Beispiel Einkäufe, Arztbesuche, Geldabheben, Tanken und die Versorgung | |
| von Haustieren. | |
| Zu weit könnte beispielsweise gehen, dass es [2][in der Gemeinde | |
| Mitterteich bereits verboten ist], allein zu joggen oder dass Geschwister | |
| nicht gemeinsam im Park spielen dürfen. Hier wird es in den kommenden Tagen | |
| sicher erste Gerichtsurteile geben. | |
| Die Allgemeinverfügung der bayerischen Regierung, die Gesundheitsministerin | |
| Melanie Huml (CSU) am Freitag für das ganze Bundesland erlassen hat, | |
| verwendet den Begriff „vorläufige Ausgangsbeschränkung“. Wie immer kommt … | |
| aber nicht auf den Begriff an, sondern auf die konkrete Anordnung. Die | |
| Regelung liegt in der Strenge zwischen Mitterteich und Freiburg. Zwar | |
| dürfen sich Einzelpersonen und Familien nicht generell im Freien aufhalten, | |
| allerdings ist auch „Sport und Bewegung an der frischen Luft“ erlaubt. Man | |
| darf also joggen, radfahren und spazierengehen. | |
| Das alles ist aber nur erlaubt, wenn man allein oder mit dem „eigenen | |
| Hausstand“ unterwegs ist. Jede „sonstige Gruppenbildung“ bei der Bewegung | |
| im Freien ist verboten. Wer sich nicht an die Ausgangsbeschränkung hält, | |
| muss in Bayern mit Bußgeldern bis zu 25.000 Euro rechnen. Die | |
| Rechtsgrundlage passt allerdings nicht so recht, so dass es bei der Drohung | |
| bleiben dürfte. | |
| ## Wissenschaft an ihren Grenzen | |
| Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit geht es aber nicht nur darum, wie | |
| hart die Maßnahmen sind – sondern auch, was sie bringen. Und das ist im | |
| Fall der Ausgangssperren selbst Expert*innen zufolge noch ungewiss. | |
| Aus Sicht der Wissenschaft ist nur eines klar: Nicht einzugreifen, | |
| abzuwarten und die Dinge einfach laufen zu lassen, ist, Stand Freitag, | |
| keine Option. Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) | |
| und damit Deutschlands oberster Seuchenschützer, gibt am Morgen in Berlin | |
| ein knappes Pressebriefing. Er referiert erst die Daten mit der unter | |
| Naturwissenschaftlern üblichen Nüchternheit. | |
| Dann, plötzlich, lässt er doch seiner Anspannung freien Lauf: Er bittet | |
| alle, wirklich alle Menschen im Land, „endlich die Augen zu öffnen vor der | |
| Realität“. Abstand zu halten, auch innerhalb der Familie, soziale Kontakte | |
| zu vermeiden, darauf komme es wirklich an. Aber die Journalist*innen wollen | |
| mehr wissen, sie wollen, dass der RKI-Chef Stellung bezieht, Ausgangssperre | |
| ja oder nein, er soll das jetzt sagen. Wieler windet sich, schließlich | |
| teilt er mit: „Meine Rolle ist die eines unabhängigen Wissenschaftlers. Wir | |
| können nichts weiter tun, als die Annahmen zu vermitteln.“ | |
| Es stimmt ja: Schlussfolgerungen für richtiges Handeln muss immer die | |
| Politik ziehen. Wissenschaft kann präzises, überprüfbares Wissen schaffen. | |
| Sie kann dieses Wissen transparent darstellen. Wissenschaft kann, wenn es | |
| gut läuft, Wenn-dann-Aussagen treffen. Was aber, wenn diese | |
| Wenn-dann-Aussagen gar nicht existent sind? Wenn gar nicht bekannt ist, wie | |
| viel und welchen Zusatznutzen eine Ausgangssperre überhaupt hätte im | |
| Vergleich zu den bisherigen, bereits sehr drastischen Einschränkungen? | |
| ## Abwägung muss sein | |
| E-Mail an Andreas Stang, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für | |
| Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie und Chef-Epidemiologe | |
| der Uniklinik Essen. Wenn einer im Land über den Forschungsstand zum | |
| etwaigen Zusatznutzen einer Ausgangssperre Bescheid wissen müsste, dann er. | |
| Stangs Antwort ist ernüchternd: „Der zu erwartende Zusatznutzen kann hier | |
| nicht wirklich quantifiziert werden.“ Es bestehe „die Annahme“, dass die | |
| Zahl der Menschen, die ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt, durch eine | |
| Sperre weiter gesenkt werden könne. Allerdings, mahnt Stang, sei auch hier | |
| eine Abwägung unerlässlich: „Ausgangssperren können auch bezüglich anderer | |
| Dinge negative Folgen haben.“ | |
| Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hat einige dieser | |
| möglichen negativen Folgen bereits benannt: extreme Ängste, die eine solche | |
| gespenstische Atmosphäre bei vielen Menschen auslösen könnte; | |
| Auseinanderbrechen der gesellschaftlichen Solidarität. | |
| Und, auch das ist klar: Egal, welche Maßnahme der Staat ergreift – solange | |
| kein Impfstoff da ist, wird sich das Virus nach einer Lockerung dieser | |
| Maßnahmen wieder ausbreiten. Die Frage ist, in welcher Geschwindigkeit. | |
| Eine „rein infektionsepidemiologische Sicht“, warnt denn auch die | |
| Epidemiologin Irene Schmidtmann von der Uni Mainz gegenüber der taz, lasse | |
| „Kollateralschäden“, wirtschaftliche Folgen etwa, unberücksichtigt. | |
| ## Der Vergleich fehlt | |
| Bevor man sich also dazu entschließt, 82 Millionen Menschen in ihre eigenen | |
| vier Wände einzuschließen, könnte man zumindest erwarten, dass Nutzen und | |
| Wirken der Maßnahme begleitend erforscht werden. | |
| Doch danach sieht es derzeit nicht aus: Theoretisch, erklären die | |
| Epidemiologen Schmidtmann und Stang, seien Studien zum Zusatznutzen von | |
| Ausgangssperren zwar möglich, „wenn man ansonsten vergleichbare Regionen | |
| mit unterschiedlicher ‚policy‘ vergleicht“. Zu messen sei dann, ob und wie | |
| stark das Fallaufkommen nach Einführung der Ausgangssperre tatsächlich ist | |
| – im Vergleich zu vorher oder zu Regionen ohne Sperre. | |
| In der Praxis gebe es entsprechende Forschungsansätze noch nicht: „Weltweit | |
| steht die Scientific Community wegen des Erregers und seinen Pandemiefolgen | |
| ziemlich unter Druck, da uns viele wichtige Daten der Pandemie noch nicht | |
| zur Verfügung stehen“, sagt Stang. „Wir tun, was wir können.“ | |
| 20 Mar 2020 | |
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| Luisa Kuhn | |
| Heike Haarhoff | |
| Tobias Schulze | |
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