| # taz.de -- Aufwachsen in Ostdeutschland: Wir Wendekinder | |
| > Die Schriftstellerin Paula Irmschler ist 1989 in Dresden geboren. | |
| > Angesichts der Landtagswahlen reflektiert sie, wann sie zur Ostdeutschen | |
| > wurde. | |
| Bild: Ein Ostexport aus Magdeburg, nach Deutschland und in die Welt: die Band T… | |
| In meinem Kopf ist ein Podium. Darauf sitzen Dirk Oschmann, Ilko-Sascha | |
| Kowalczuk und der andere, jemand von der Zeit im Osten, jemand von der Zeit | |
| im Westen und eine Schriftstellerin, sie ist Wendekind. Eva Schulz | |
| moderiert. Sie diskutieren, was mit dem Osten los ist, mit unserer | |
| Demokratie, wie wir wieder miteinander reden können. Wieder. Miteinander. | |
| Reden. Das ist das Ziel. Auch das Publikum soll dazu mal was sagen. Das | |
| Podium in meinem Kopf soll nur ein Anfang sein, ein Gesprächsangebot. Wir | |
| müssen miteinander reden, und zwar wieder. Alle. Wie früher oder wie | |
| später. | |
| Ich bin total leer und voll, voll mit Ost, West, Ostwestostwest, aber | |
| eigentlich sind es nur diese beiden Wörter, die kleben bleiben, sie sind | |
| leer an Inhalten oder zu voll, sodass man nicht mehr durchsieht. Umso mehr | |
| ich mich mit dem Thema ([1][oder dem Mythos? oder dem Klischee? oder dem | |
| Problem?]) „Ost“ beschäftige, umso mehr zerfällt es zu Staub. Es wurde bis | |
| zur Unkenntlichkeit zerlabert. Was ist Osten, was ist Westen, wo ist oben | |
| und wo unten? Wer sind wir, und wer seid ihr, und warum? | |
| ## Wir hießen damals einfach nur Kinder | |
| Als wir Wendekinder aufgewachsen sind, hießen wir einfach nur Kinder, ganz | |
| langweilig. Vor unserer Geburt soll irgendwas gewesen sein, worüber keiner | |
| viel gesprochen hat: die DDR. Wir hatten noch ihre Eierbecher und ihre | |
| Liegen im Hort und ihren Gerhard Schöne – für uns waren es normale Becher | |
| und Liegen und Lieder, auch alles langweilig. Alles, was man über die DDR | |
| hörte, war raunen, irgendwas daran war traurig und schlecht, aber das war | |
| früher. Dabei war es ja eigentlich nur ein, zwei, drei, vier, fünf und dann | |
| 15 und schließlich 20 Jahre her. | |
| 2014 ist zum Beispiel zehn Jahre her, und ich weiß noch genau, welches | |
| Getränk ich in dem Jahr gern gesüppelt habe: Booster Energy. Die DDR aber | |
| war schon immer ewig lang her, und das war gut. Wie unsere Eltern drauf | |
| waren, ob besonders traurig, erleichtert, einsam, frei, arbeitslos, | |
| profitierend, dafür, dagegen, das sollen wir heute gewusst oder gespürt | |
| haben, aber hat es uns interessiert? Es war alles normal. | |
| In den Nullern war die DDR hundert Jahre her. Wir rasierten uns, | |
| schmierten Labellos auf unsere Münder, wollten berühmt werden, träumten | |
| von der Ferne. Der Ort, an dem unsere Eltern lebten: ein Witz. Viele | |
| Witze. | |
| Olli Geißen, Henry Maske, die Prinzen, Nena, alle sagten vor der Kamera was | |
| über diesen Tag, an dem die Mauer fiel. Plakate, Trabis, Jubeln, endlich | |
| war’s vorbei, küssende Pärchen in Jeans, immer wieder. Das Land, in dem wir | |
| jetzt lebten, war unseres, sollte, durfte unseres sein, wir mussten uns nur | |
| mehr Mühe geben. Der Westen war das Geilste für uns, da wollten wir hin. | |
| Der Westen war: Comedy aus Köln, Musik aus London und Filme aus New York. | |
| Mühe geben! | |
| Aus dem Fernsehen erfuhren wir, dass unser Dialekt peinlich, unsexy und | |
| dumm ist, wir hässliche Frisuren und bescheuerte Namen haben, dass wir arm | |
| und dick, dass wir Müll sind, aber immerhin im Fernsehen. Mühe geben, es | |
| winkt die Einheit. [2][De Randfichten] aus dem Erzgebirge und Tokio Hotel | |
| aus Magdeburg waren gerade weit oben in den Charts, als Hartz IV anlief. | |
| In den Zehnern war die DDR dann aber gerade erst gewesen. Jetzt waren im | |
| Westen alle frustriert und traurig, mit der Geduld war es vorbei. Hat es | |
| immer noch nicht geklappt, sind wir immer noch nicht ein Land? Was ist denn | |
| jetzt noch? Ossibücher, Ossibücher, Ossibücher, Talkshows, Podien, Dokus, | |
| Konzerte. Es wurde sogar mal hingefahren. Was ist der Osten, was hat der | |
| Westen verpasst, ignoriert? Jetzt nach dem 20-jährigen Jubiläum, jetzt zum | |
| 25-jährigen, jetzt zum 30-jährigen noch mal die Jeans-Knutschenden. | |
| Die 2020er: Wir sind erwachsen und ab und an im Westen, wir kennen Menschen | |
| dort, es durchmischt sich. Leute haben Berufe hüben wie drüben, studieren, | |
| oder man kennt sich aus dem Internet. Wir fahren meistens hin, sie lassen | |
| sich besuchen, wir haben ja was aufzuholen. Wir stellen im Westen fest, | |
| dass wir Ossis sind. Dass was anders ist. Aber was? Dass die Menschen in | |
| der Heimat griesgrämiger sind. Aber wir sagen: ehrlicher. Und: Die | |
| Hamburger sind ja auch nicht gerade zugänglich. | |
| Du bist wie die Menschen bei mir zu Hause, sagen wir zu einer Liebe, die | |
| einfach macht, statt zu labern, und normal vulgär spricht – wie man selbst. | |
| Du wirst mich nie verstehen, zu einer anderen, die unfreundlich zu | |
| Dienstleister*innen ist und sich ständig Geld von den Eltern pumpt. Wir | |
| versuchen auszuloten, was wirklich als ostdeutsch und westdeutsch gelten | |
| kann, kommen immer wieder an Grenzen, treffen auf Widersprüche, verwerfen | |
| Gewissheiten. | |
| ## Wir erarbeiten uns das Land der Eltern | |
| Wir sind 30, 40 Jahre alt und erarbeiten uns das Land unserer Eltern, das | |
| es nicht mehr gibt, hören das meiste zum ersten Mal. Wir finden manches | |
| gut, Ostalgie nennt man das, anderes sehr schlecht. Es war schließlich ein | |
| Unrechtsstaat. Wir erfahren Sachen über den Rest Ostdeutschlands, den wir | |
| zum großen Teil genauso wenig kennen wie Westdeutsche. Wir staunen über | |
| Dörfer im Erzgebirge, über das Thüringer Hinterland, den Alltag in Rostock | |
| und Brandenburg. In den kultigen und sepiafarbenen Filmen über den Osten | |
| geht es immer um Ostberlin. | |
| Wir streiten mit Freunden und Genoss*innen. Wir sind mittlerweile links und | |
| wissen: So hätte es nie gewesen sein dürfen, aber so wie im Westen doch | |
| bitte auch nicht, im verschissenen Kapitalismus. So nicht und so nicht und | |
| so nicht. Aber wie denn? | |
| Mal wieder Wahlen, mal wieder Podien. Wie es sein soll, darum geht es | |
| nicht. Es geht um Mentalität, Freiheit, Meinung, all die großen Begriffe. | |
| Dann wieder das Kleine. Klöße, Simson, Frauen durften arbeiten. In Dokus | |
| werden Städte erklärt, als lägen sie in einem fernen Land: Jena liegt dort | |
| rechts, in Chemnitz steht der Nischel, Görlitz ist an der Grenze. Wann sind | |
| wir endlich geeint? Wenn wir wissen, wo was liegt? Ein Volk, ob Eisenach | |
| oder Wuppertal. | |
| Die Mauer dazwischen, die in den Köpfen, muss weg. Debattenwahnsinn. | |
| Ostdeutsche können mit der Freiheit nicht umgehen, Ostdeutsche sehnen sich | |
| nach Autorität, Ostdeutsche werden „geothert“, Ostdeutsche sind wieder | |
| stolz, noch ein Aspekt und noch einer. Redaktionen aus Westdeutschland | |
| suchen händeringend nach Ostdeutschen, die die rechte Wahl der Ostdeutschen | |
| kommentieren. Kennt ihr einen?, fragen sie in der Redaktionschatgruppe – | |
| Ja, ich kenne einen, ich schick dir den Kontakt. | |
| Alles soll ein großes Geheimnis, ein Gefühl und ganz kompliziert bleiben – | |
| um sich ja nicht mit dem Wesentlichen beschäftigen zu müssen. Am Rande, | |
| aber nur da, geht es mal darum: um Ungleichheiten in Bezug auf Wohnen, | |
| Arbeit, Einkommen, Gesundheit, Verkehr, Teilhabe – sprich um die im Osten | |
| stärker, aber nicht nur exklusiv dort vorhandene Strukturarmut, in der | |
| rechte Ideologien am besten gedeihen können | |
| Themen, über die Westdeutsche und Londoner und New Yorker auch reden | |
| können, über die man Verbindungen herstellen und solidarisch sein kann, | |
| über die man gemeinsame Kämpfe ableiten kann. Gerade mit Menschen, denen | |
| viel zu lange jeder Organisationsversuch kaputt gemacht wurde. Das geht | |
| alles ohne das aufgeblasene Gerede, das sich nur noch um sich selbst dreht. | |
| Und natürlich muss man die Sorgen armer Leute ernst nehmen. Aber Leute, die | |
| rechts wählen, ebenso – und zwar als das, was sie sind: rechts. Der dumme | |
| Ossi rafft’s nur wieder nicht, ihm muss irgendwas beigebracht werden? Nein. | |
| Es ist völlig klar, wofür die AfD steht und dass sie nicht an der Seite von | |
| Ausgebeuteten steht. Wer sie wählt, will auf ihrer Seite sein und nach | |
| unten treten. | |
| Das ist eine Entscheidung, die man trifft (und beim nächsten Mal auch | |
| wieder anders treffen kann). Es ist einfach so: Menschen sind arm und | |
| abgehängt, und manche von ihnen sind rechts. Gegen beides hilft linke, | |
| antikapitalistische, antifaschistische Politik. | |
| Das aber wie gesagt nur mal so am Rande. In der Mitte geht es weiter mit | |
| den Podien, den großen Begriffen und Köpfen, den Reportagen in den | |
| Mediatheken und den Erklärtexten, schließlich gibt es eine neue Generation | |
| – sie fährt gern Simse, hört Techno und steht auf ostdeutsche Rezepte. Wie | |
| ticken die denn nun wieder? | |
| Wir sind noch lange nicht fertig, es ist noch lange nicht alles erzählt, | |
| und der Westen kann nur versuchen zu verstehen. Viel Glück dabei. Im | |
| Anschluss spielen noch BAP und Krumbiegel ein Konzert für die Demokratie. | |
| 8 Sep 2024 | |
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