# taz.de -- Aufständische am Hindukusch: Afghanistans Parallelregierung | |
> Die Taliban haben sich gemäßigt, weil sie an die Macht wollen. Vielen | |
> Afghanen ist egal, wer Schulen und Kliniken betreibt – solange sie | |
> funktionieren. | |
Bild: Die afghanischen Taliban geben sich siegessicher (Archivbild) | |
BERLIN taz | Scher Muhammad Abbas Stanaksai, der Leiter des Taliban-Büros | |
in Katars Hauptstadt Doha und de facto Außenminister der Aufständischen, | |
triumphierte. „Heute ist der Tag des Sieges, der mit Allahs Hilfe gekommen | |
ist“, sagte er Ende Februar. Da unterzeichneten Vertreter seiner Bewegung | |
und der USA das [1][Abkommen], in dem Washington einen Truppenabzug aus | |
Afghanistan zusagt. | |
Die Unterzeichnung war der bisherige Höhepunkt einer politischen | |
Erfolgsgeschichte. Sie bringt die Taliban, die vor 18 Jahren angesichts der | |
US-geführten Militärintervention ihre Kapitulation angeboten hatten, der | |
Rückerlangung der Macht nahe. Damals rettete sie der Pentagon-Chef Donald | |
Rumsfeld, als er das an Hamid Karsai, Amerikas neuen Mann in Afghanistan, | |
gerichtete Kapitulationsangebot ablehnte. | |
Die Taliban zogen sich in entlegene Gebiete mit konservativer Bevölkerung | |
zurück. Die wurden vom US-Militär verächtlich Afghanistans „staubige | |
Distrikte“ genannt. Die Amerikaner sprachen ihnen jegliche strategische | |
Bedeutung ab. | |
Doch dort überlebten die Taliban und starteten von Rückzugsbasen in | |
Pakistan aus sowie mit Unterstützung von dessen Geheimdienst ein Comeback | |
als Guerillabewegung. Inzwischen kontrollieren sie etwa die Hälfte des | |
Landes. | |
## Der Lernprozess der Aufständischen | |
Ihr Comeback ging mit einem Lernprozess einher. Die Taliban begriffen, dass | |
sie nicht nur mit Gewalt und Verboten operieren können, wenn sie wieder an | |
die Macht kommen wollen. | |
Die Zeiten sind vorbei, in denen ihr Führungsrat („Quetta-Schura“) Schulen, | |
Kliniken und Hilfsorganisationen und deren Personal ausdrücklich zu | |
legitimen Angriffszielen erklärte. Schon 2009 widerriefen sie in der Layha, | |
einem Handbuch mit Verhaltensweisen für ihre Kämpfer, den Angriffsbefehl. | |
Über Dorfälteste und Stammesführer kam es zu ersten lokalen Absprachen mit | |
der Regierung, Schulen in Taliban-Gebieten weiter laufen zu lassen. Kabul | |
schickt Geld und Lehrmittel, die Taliban sorgen dafür, dass die Lehrer | |
tatsächlich ihren Job machen. | |
## Eigene Lehrer statt Schulschließung | |
Das hat einen Preis: Die Taliban sorgen dafür, dass auch ihre Anhänger | |
eingestellt werden, und erhöhen den Anteil religiöser Fächer im Lehrplan. | |
In manchem Gebieten untersagten sie den Englisch-Unterricht zugunsten des | |
Arabischen und in Persisch (Dari) sprechenden Gebieten der zweiten | |
Landessprache Pashto. | |
Übergriffe auf Schulen, Kliniken und deren Personal sind deshalb deutlich | |
zurückgegangen. Vom Spitzenjahr 2008 bis 2015 sank die Zahl der Angriffe | |
auf das Bildungssystem um neun Zehntel. Zwar gingen sie zuletzt wegen der | |
Eskalation des Krieges unter Trump wieder nach oben, aber nicht alle sind | |
den Taliban anzulasten. | |
In umkämpften ländlichen Gebieten nehmen die Kriegsparteien Kliniken oder | |
Schulen immer wieder in Beschlag, da sie dort oft die einzigen festen | |
Gebäude sind. | |
Der Autor der neuen Taliban-Bildungspolitik war der damalige Chef ihrer | |
Kultuskommission, [2][Hebatullah Achunsada], ein konservativer Geistlicher. | |
Er schrieb ausdrücklich fest, dass Jungen und Mädchen zur Schule gehen | |
sollen. Für Letztere ist häufig aber mit Klasse sechs, also der Pubertät, | |
Schluss. | |
Das ist nicht unbedingt talibantypisch, sondern deckt sich mit in der | |
Bevölkerung weit verbreiteten konservativen Ansichten. Ausnahmen werden vor | |
allem dort gemacht, wo die Bevölkerung sich entsprechend einsetzt. | |
## Taliban wollen Ärzte nicht vergraulen | |
Dass die Taliban auf solchen Druck reagieren, ist das Neue. Seit 2016 ist | |
Hebatullah oberster Talibanchef. Er konnte die nach dem 2015 bekannt | |
gewordenen Tod von Talibangründer Mullah Muhammad Omar von Spaltungen | |
bedrohte Bewegung wieder weitgehend einigen. | |
Im Gesundheitswesen ist es ähnlich wie an den Schulen, aber hier kommt es | |
zu weniger Eingriffen der Taliban. Denn sie wollen das rare medizinische | |
Personal nicht vergraulen, das überhaupt noch wagt, außerhalb der großen | |
Städte zu arbeiten. Allerdings sorgen sie immer wieder dafür, dass nach | |
Kämpfen ihre eigenen Verwundeten zuerst behandelt werden. | |
Die Talibanjustiz gilt in der Bevölkerung schon länger als effektiver und | |
weit weniger korrupt als die der Regierung. Es gibt sogar | |
Einspruchsmöglichkeiten. Wer mit einem Urteil nicht einverstanden ist, kann | |
sich an das oberste Talibangericht wenden, dessen Mitglieder in Pakistan | |
sitzen. Allerdings berichten Afghanen, die das versucht haben, sei es | |
besser, dort jemanden zu kennen, der einem eine Audienz verschafft. Ohne | |
Vitamin B geht es auch im Taliban-„Rechtsstaat“ nicht. | |
Die Aufständigen haben inzwischen ein paralleles Regierungssystem | |
entwickelt. Ein Bericht des US Institute of Peace von 2019 zitiert ein | |
früheres Taliban-Führungsmitglied mit den Worten: „Wir mussten zeigen, dass | |
wir eine verantwortungsvolle Regierung bilden können, die jeder akzeptieren | |
kann.“ | |
## Taliban machen auf „Dein Freund und Helfer“ | |
Einwohner des Distrikts Surmat im Südosten des Landes berichten, dass dort | |
Taliban-Offizielle „regelmäßig der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, | |
damit diese ihre Probleme anbringen kann“. | |
Der Zugriff der Parallelregierung reicht bis in nominell | |
regierungskontrollierte Gebiete – vor allem über Besteuerung. Ein Bauer, | |
der in einer Südprovinz lebt, zeigte der taz eine Mitteilung auf | |
Taliban-Briefpapier, dass er soundsoviel Land und Obstbäume besitze und | |
deshalb soundsoviel Steuern zu entrichten habe. | |
Lkw-Fahrer erhalten an Taliban-Kontrollposten Quittungen über den | |
entrichteten Wegezoll, damit sie woanders nicht noch einmal zahlen müssen. | |
Afghanische Medien berichteten, dass selbst die Familie von Staatspräsident | |
Aschraf Ghani Steuern für ihren Landsitz in Surchab südlich von Kabul | |
zahlen muss. | |
Bis auf die Gerichte und ihre militärischen Fronten investieren die Taliban | |
kaum in Infrastruktur. Ausnahmen sind Koranschulen und einige | |
Straßenprojekte, die vor allem höheren Eigeneinnahmen dienen. So ließen sie | |
in der Provinz Ghasni eine Überlandstraße aufreißen und mobilisierten | |
Dorfbewohner, eine neue Umgehungsstrecke zu bauen. Die führt nun durch | |
Taliban-Gebiet und kann so leichter besteuert werden. | |
## Taliban sind zielgerichteter und erfahrener | |
In vielen Gebieten ist die Bevölkerung aber zufrieden, wenn nach all den | |
Kriegsjahren überhaupt etwas funktioniert, unabhängig davon, ob Regierung | |
oder die Taliban das organisieren. In Dascht-e Artschi in der Provinz | |
Kundus, dem früheren Verantwortungsbereich der Bundeswehr, sagten | |
Einwohner, die Taliban-Regierungsführung sei besser als die Kabuls. | |
Dass die Taliban heute offener für die Bedürfnisse der Bevölkerung sind, | |
unterscheidet sie deutlich von ihrer Herrschaft vor 2001. Damals machten | |
sie vor allem durch den systematischen [3][Ausschluss von Frauen und | |
Mädchen aus dem öffentlichen Leben], öffentliche Hinrichtungen und die | |
Beschlagnahmung von Fernsehgeräten von sich reden. | |
Die Bewegung ist heute politisch zielgerichteter. Und ihre Führung, die | |
immer noch vor allem aus Getreuen Mullah Omars besteht, ist erfahrener. Ihr | |
Wandel wird deshalb von politischen Zielen bestimmt und bleibt selektiv. Er | |
soll nach ihrer Rückkehr an die Macht über ein innerafghanisches | |
Friedensabkommen eine soziale Basis schaffen. | |
Eine bessere Bildungspolitik bedeute noch nicht „gleiche Chancen für alle“, | |
meint Schaharsad Akbar, Chefin der afghanischen Menschenrechtskommission. | |
Auch würden die Taliban nicht auf Gewalt als Mittel ihrer Machtausübung | |
verzichten. Aber auch Akbar spricht sich für Kompromisse mit den Taliban | |
aus. Eine Rückkehr des Bürgerkriegs, sagt sie, wäre das „schlimmstmögliche | |
Szenario“. | |
24 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Ruttig | |
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