# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Die Zollbeamtin wühlt in der Erde | |
> Die erstaunlichsten Sexszenen liefert „Gräns“ von Ali Abbasi. Außerdem: | |
> Rock in der Sowjetunion und ein rührendes ägyptisches Roadmovie. | |
Bild: Regisseur Ali Abbasi posiert beim Fotocall in Cannes mit Eva Melander and… | |
Beim Nachhausegehen nachts nach dem letzten Film bemerkt: In einer der | |
Wohnstraßen auf dem Weg stehen in regelmäßigen Abständen Pfähle wie von | |
Laternen. Lichtquellen sind bei denen aber oben nicht zu sehen, dafür | |
durchsichtige Halbkugeln, innen schwarz – Kameras, ganz abseits vom | |
Festival. Überwachungskameras. | |
Eine andere Art von Überwachung inszeniert der russische, unter Hausarrest | |
stehende Regisseur Kirill Serebrennikow im Wettbewerbsbeitrag „Leto“ | |
(Sommer). Die Zeit der Perestroika in den achtziger Jahren dient ihm zur | |
Erinnerung an Rock und New Wave in der Sowjetunion, namentlich den Musiker | |
Wiktor Zoi (Teo Yoo) und seine Band Kino. | |
Serebrennikow konzentriert sich auf die Frühphase der Band, als sie noch | |
keinen richtigen Namen hatte und mit Mühe und Not ihre Texte von der Zensur | |
genehmigt bekam. In Schwarzweiß gehalten, durch kurze Super-8-Sequenzen von | |
nachgestellten Originalszenen ergänzt, schildert er die Mühen | |
künstlerischer Selbstbehauptung in einem lähmenden allgemeinen Stillstand, | |
in dem die Leningrader Auftritte von russischen Bands wie Zoopark die | |
mitreißendsten Ereignisse sind. Dazu hat Serebrennikow mit dem | |
charismatischen angehenden Star Zoi, der 1990 bei einem Autounfall starb, | |
und seinem Mentor, dem Rockmusiker Mike (Roman Bilyk), zwei starke Figuren, | |
die von ihren Darstellern so unaufgeregt wie eingehend verkörpert werden. | |
Weniger lebhaft hingegen ist die Rolle der Natascha, die vorübergehend | |
zwischen die beiden Künstler gerät. Irina Starschenbaum darf für die meiste | |
Zeit vor allem schön sein, ein wenig mehr Konturen ihrerseits hätten dem | |
Film nicht geschadet. Doch „Leto“ hat ansonsten genügend starke, ungemein | |
dynamische Konzertszenen und einige gekonnt albern in Bild und Ton gesetzte | |
Coverversionen von westlichen Hits wie Iggy Pops „The Passenger“ oder | |
„Psycho Killer“ der Talking Heads, um darüber hinwegzutrösten. | |
## Ein Märchenfilm der anderen Art | |
Der bemerkenswerteste Film des Festivals bisher kommt aber aus Schweden und | |
läuft in der Reihe „Un Certain Regard“. „Gräns“ (Border) von Ali Abba… | |
trotz seines Titels vordergründig nichts mit Migranten zu tun, sondern | |
folgt dem Alltag der Zollbeamtin Tina, die eine äußerst feine Nase für | |
Schmuggler und Kriminelle aller Art hat. | |
Ihr wie geschwollen wirkendes Gesicht macht Tina, gespielt von Eva | |
Melander, die für diesen Part mit einer täuschend echten Maske ausgestattet | |
wurde, zur Außenseiterin. Privat geriert sich diese Frau zudem irgendwie | |
animalisch, wühlt gern in der Erde und hat auch sonst sehr viel für den | |
schwedischen Wald übrig. | |
„Gräns“ bietet neben einem herben Zauber eine der erstaunlichsten Sexszenen | |
seit Langem, überhaupt geht es bei dieser Grenze weniger um Territorien als | |
um Geschlechtergrenzen oder den Unterschied zwischen Mensch und Tier oder | |
noch einmal anderen Lebewesen. Zu viel darf man nicht verraten, sonst | |
gehen einige wunderbare Pointen verloren. Man könnte ihn einen Märchenfilm | |
der anderen Art nennen. Einen ziemlich tollen. | |
Körperlichkeit spielt auch eine Rolle in „Yomeddine“, dem Spielfilmdebüt | |
des Ägypters Abu Bakr Shawky. Er erzählt über den Leprakranken Beshay (ohne | |
Maske: Rady Gamal), der seine Leprakolonie verlässt, um sich auf die Suche | |
nach seiner Familie zu machen. | |
Ihm zur Seite steht das Waisenkind Obama (Ahmed Abdelhafiz), die beiden | |
ergeben ein anrührendes Team für dieses nicht ganz kitschfreie Roadmovie, | |
das in kräftigen Farben für Respekt vor „anderen“ plädiert. Wobei es | |
schwerfällt, von der Zärtlichkeit, die zwischen Beshay und Obama entsteht, | |
gar nicht gerührt zu sein. Selbst wenn das mit etwas plumpen Mitteln | |
erreicht wurde. | |
12 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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