# taz.de -- Architekten über Stadtplanung: „Ein Marshallplan für Brüssel“ | |
> Der Brüsseler Stadtteil Molenbeek gilt als ökonomisch abgehängt. Drei | |
> ArchitektInnen wollen die Lage verbessern und das Image aufpolieren. | |
Bild: Molenbeek gilt als Terrornest – doch es gibt Versuche, das zu ändern | |
taz: Wer die Berichte europäischer Medien über Brüssel verfolgt, könnte | |
denken, die Hauptstadt der EU hätte ein Problem. Stimmen Sie dem zu? | |
Joachim Declerck (J. D.): Zu den größten Problemen in Brüssel gehört der | |
enorme Bedarf an Wohnraum, verursacht durch zwei Bevölkerungsgruppen. Zum | |
einen durch die politisch-wirtschaftlichen Eliten, zum anderen durch die | |
hohe Zahl der Immigranten, die mittlerweile 30 Prozent der Stadtbevölkerung | |
ausmacht. Schließlich kommt hinzu, dass wir zwar in der drittstärksten | |
Wirtschaftszone Europas leben, aber dennoch eine Arbeitslosigkeit von 20 | |
Prozent haben. In bestimmten, von der Stadtentwicklung abgehängten Vierteln | |
gibt es unter den 18- bis 25-Jährigen sogar eine Arbeitslosigkeit von 55 | |
Prozent. Diese Kluft zwischen der politisch-wirtschaftlichen | |
Führungsschicht und den Arbeitslosen ist unser drängendstes Problem. Wenn | |
wir weitermachen wie bisher, wird unsere Fähigkeit zunichte gemacht, dass | |
diese Stadt ihre Probleme zu lösen imstande ist. | |
Wie sollte die Wirtschaft umgebaut werden, damit auch die unteren Schichten | |
davon profitieren? | |
J. D.: Der wirtschaftliche Produktionsfaktor Brüssel wird beschädigt, wenn | |
wir nicht verstärkt in neue Produktionsweisen investieren. Wir benötigen | |
neue Formen von Mobilität in der medizinischen Versorgung, Schwerpunkte | |
könnten auch in der Herstellung von E-Bikes oder im Müllrecyceln liegen. | |
Allein wenn wir diesen Schritt schaffen, kann es uns gelingen, die große | |
Kluft zwischen dem dominierenden Wirtschaftssektor und den prekären Formen | |
in den randständigen Vierteln zu überwinden. | |
Wie sehen die sozialen Bedingungen im Brüsseler Stadtteil Molenbeek aus? Es | |
wird ja in Deutschland geradezu als Terroristennest angesehen. | |
Petra Pferdmenges (P. P.): Molenbeek ist bestimmt von Immigranten, | |
Arbeitslosigkeit und Armut. Um Veränderungen voranzutreiben, ist es | |
wichtig, Kontakte zu lokalen Entscheidungsträgern zu knüpfen. Uns | |
Architekten von Alive Architecture gelang es vor zwei Jahren, auf dem | |
einstigen Müllberg von Molenbeek „Parckfarm“ zu starten, ein | |
subventioniertes Urban- Gardening-Projekt, für das wir 2015 den Public | |
Space Prize erhielten. Wir konnten etliche Anwohner für die Idee engagieren | |
und ihnen innerhalb des Projekts Aufgaben anvertrauen. Es war also kein | |
Architektenplan, sondern ein Gemeinschaftsprojekt zusammen mit den Leuten | |
des Viertels. Es gelang uns dabei, nicht nur das Verhalten dieser Menschen | |
zu ändern, sondern auch das von Angst geprägte Verhalten der Politiker. | |
Parckfarm hätte also die Chance, das gewaltige Imageproblem von Molenbeek | |
zu lösen. Wie geht es mit dem Projekt weiter? | |
P. P.: Das Projekt kam bei den Lokalpolitikern gut an. Schließlich konnten | |
wir die Zukunft von Parckfarm sichern. Ursprünglich war die Laufzeit auf | |
vier Monate beschränkt, mittlerweile besteht das Projekt seit über zwei | |
Jahren und es ist in die Eigenregie der vormals arbeitslosen Anwohner | |
übergegangen. | |
Thierry Kandjee (T. K.): In dem Projekt haben wir ausdrücklich Molenbeeker | |
angesprochen, die in sozial schwachen Verhältnissen leben und gleichzeitig | |
von der Gentrifizierung des Viertels betroffen sind. In dieser Zeit waren | |
die politischen Autoritäten nicht sonderlich daran interessiert, den | |
Menschen mehr Verantwortung zu übertragen. Dennoch wurde Parckfarm ein | |
großer Erfolg. | |
Gab es unter den Anwohnern Probleme mit der von Ihnen erwähnten | |
Gentrifizierung? | |
T. K.: Viele Bewohner von Molenbeek fühlten sich übergangen, als sie vom | |
Bau der Luxuswohnungen erfuhren. Niemand ging auf diese Menschen zu. | |
Daraufhin gab es wöchentlich Brandanschläge auf die Neubauten, die an | |
unseren Park grenzen. Anfangs reagierten viele Verantwortliche | |
verständnislos. Doch während des Prozesses waren die Projektentwickler tief | |
beeindruckt von der plötzlich einsetzenden Dynamik und Lebensqualität, die | |
mit Parckfarm einsetzte. Ich denke, viele legten ihre lange vorherrschende | |
Wut ab. | |
P. P.: Es ist entscheidend, diesen Leuten Verantwortung zu übertragen. | |
Deswegen respektierten die Leute die Glashäuser von Parckfarm, denn | |
innerhalb der Nachbarschaften kennt man sich und achtet einander. | |
J.D.: Angesichts dieser Prozesse wird klar, welche Richtung unsere | |
Wirtschaft einschlagen muss: Es geht nicht mehr um die allseits gepriesene | |
technologische Revolution, sondern um ganz unterschiedliche wirtschaftliche | |
Akteure mit unterschiedlicher Macht. Große Unternehmen und lokale Akteure | |
können auf ihre Weise zur Stadtentwicklung beitragen. Dazu benötigen wir | |
eine soziale Agenda, die weit über die Logik von Investition und | |
Grundstücksspekulation hinausgeht. | |
Welche Bedürfnisse hat denn die Gesellschaft? | |
J. D.: Es liefe auf eine Repolitisierung hinaus, den öffentlichen Sektor zu | |
befähigen, gesellschaftliche Bedürfnisse mit der wirtschaftlichen Elite und | |
den lokalen Wirtschaftsgruppen auszubalancieren. Vertreter von | |
Stadtteilgruppen wissen oft sehr genau, was vordringlich ist, | |
beispielsweise in Utrecht, wo die Lebenserwartung in schwach entwickelten | |
Vierteln weit unterhalb des Durchschnitts liegt. Die Logik der | |
Immobilienspekulation macht ein gedeihliches Zusammenleben dieser Menschen | |
zunichte, da sie ihre Träume zusehends begraben sehen. Stattdessen müsste | |
Stadtentwicklung zuallererst in den unterentwickelten Vierteln ansetzen. | |
Brauchen wir einfach nur mehr Wohnraum? | |
J. D: Wenn der Fokus allein auf Wohnraumbeschaffung und nicht zugleich auf | |
dem Müllrecyceln liegt, wird die Stadt irgendwann zu einem riesigen Suburb. | |
Nicht Google, nicht Tesla, nicht die Smart City setzen die notwendigen | |
wirtschaftlichen Impulse. Es muss eine Stadt entwickelt werden, die einer | |
Wirtschaftsform Raum gibt, derer wir alle bedürfen, einer Wirtschaft, die | |
Jobs schafft und lokale Aktivitäten unterstützt. | |
Was wären die vornehmlichsten Maßnahmen, um das Image von Brüssel und | |
Molenbeek zu verbessern? | |
J. D.: Brüssel ist die Hauptstadt von Europa, hier gibt es die zweithöchste | |
Anzahl von NGOs. Das ist der Kurs, auf den Brüssel in den letzten | |
Jahrzehnten zusteuerte. Viele Verkehrswege sollten die Stadt gut erreichbar | |
machen. Kurz und gut: Brüssel hat sich zum internationalen Machtzentrum | |
entwickelt, während sich das Stadtleben diesem Ziel unterordnete. Mit der | |
Konsequenz, dass für Belgier oder Ausländer das Stadtleben völlig | |
unbedeutend geworden ist. Gleichzeitig entstanden in Molenbeek, Anderlecht | |
und Schaerbeek fantastische Projekte, die von lokalen Gruppen organisiert | |
wurden. Es ist an der Zeit, den Prozess umzukehren: Brüssel darf nicht mehr | |
länger eine Hauptstadt mit ausgedünntem Alltagsleben sein. | |
Was verändert sich auf politischer Ebene durch die Einwanderung? | |
J. D.:Eine neue Lokalpolitik ist erforderlich, um sich besser auf die | |
zunehmende Zahl der hier lebenden Migranten einzustellen. | |
Verkehrsinfrastruktur und Sicherheit dürfen nicht an erster Stelle stehen, | |
denn heute steht ein sozial-urbanes Projekt auf der Tagesordnung. Wir | |
müssen die Europa-Hauptstadt Brüssel als Experimentierfeld für Inklusivität | |
entwickeln, das dem Image, das die Medien Molenbeek verpasste, etwas | |
entgegenhält. In sozialen Stadtteilprojekten sind weit mehr Menschen | |
beteiligt als an den Bombenanschlägen von Paris oder Brüssel. Wir brauchen | |
mehr Raum für Initiativen, die für den Zusammenhalt in den Vierteln wichtig | |
sind. Doch dieser Weg verlangt nach einem neuen Narrativ für Brüssel. Es | |
geht nicht einfach um kleine, unbedeutende Projekte. Die Parckfarm-Gruppen | |
sind für die Zukunft ebenso unerlässlich wie die Eliten. | |
Und wie wollen Sie diese Herkulesaufgabe anpacken? | |
J. D.: Wir sehen unsere Aufgabe darin, Koalitionen zwischen den schwachen | |
Stadtteilgruppen, großen Unternehmen, Angestellten, Gewerkschaften und | |
Verbänden zu schmieden. Unser Ziel ist ein Marshallplan für eine neue | |
Stadtentwicklung. Wenn wir gemeinsam ein Narrativ erfinden, bin ich sicher, | |
dass diesem auch die Politiker folgen werden. | |
20 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus Englert | |
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