# taz.de -- Archäologie im Alltag: Es geht um die Wurst | |
> Goldene Masken und üppige Grabbeigaben, so stellen wir uns archäologische | |
> Entdeckungen häufig vor. Dabei liefern vor allem Müll und Kot | |
> Erkenntnisse. | |
Bild: Ein Glücksfund für Archäologen: die rund tausend Jahre alten Exkrement… | |
Von wegen hippe Metropole. Im Spätmittelalter war Berlin noch eine kleine, | |
unbedeutende Siedlung, weit entfernt von der Strahlkraft norddeutscher | |
Hansestädte. Auch auf Berliner Tellern landete eher Hausmannskost als | |
internationale Food-Trends. So ließen sich die Forschungsergebnisse von | |
Michèle Dinies, Botanikerin an der Freien Universität Berlin und dem | |
Deutschen Archäologischen Institut, etwas flapsig zusammenfassen. | |
Auf dem Labortisch der Botanikerin landen ganz besondere Spuren der | |
[1][Berliner Gründungsgeschichte], nämlich die Inhalte mittelalterlicher | |
Kloaken, Alltagsmüll, Essensreste, menschliche Exkremente. | |
Wer beim Lesen angeekelt das Gesicht verzieht, liegt falsch. „Da müffelt | |
nichts mehr. Die Hinterlassenschaften sind teilweise zersetzt und zeichnen | |
sich nach einigen hundert Jahren nur noch im Boden ab. Die Schicht ist | |
etwas brauner als der Rest“, sagt Dinies. | |
Holzplanken begrenzten die Abfallgruben, manchmal finden sich auch | |
Kalkschichten im Abfall, vermutlich um den Gestank zu mindern. Beides | |
finden die Archäologen oft noch gut erhalten, zusammen mit dem organischen | |
Müll. | |
Die Erdproben werden im Labor aufbereitet und dann unter dem Mikroskop | |
untersucht. Sie liefern spannende Einblicke, zum Beispiel zur [2][damaligen | |
Ernährung.] Rund um das spätmittelalterliche Berlin wurde viel Getreide wie | |
Roggen angebaut und gegessen, auch Spuren von Samen vieler Beeren, von | |
Äpfeln und Birnen fand Dinies im Sediment. Das ist ein deutlicher Kontrast | |
zu mittelalterlichen Handelsmetropolen wie Lübeck oder Hamburg. So finden | |
sich kaum Feigen, auch Reis oder Pfeffer fehlten völlig. | |
## Rückschlüsse auf Sozialstruktur | |
„Vermutlich gab es hier noch kaum reiches Bürgertum, auch Händler mit | |
exotischen Waren kamen selten vorbei. Stattdessen lassen unsere Funde auf | |
kleinbürgerliche Strukturen schließen“, sagt die Botanikerin. | |
Wahrscheinlich hatten einige der frühen Einwohner Berlins einen kleinen | |
Garten hinter dem Haus oder Parzellen am Rande der Siedlung, damals noch | |
zur Selbstversorgung und weniger zur Stadtflucht. | |
Bei Archäologie denken wir spontan an Pharaonengräber, versunkene | |
Maya-Tempel oder Wikingergräben. Aber Müll? Eva Becker kennt diese | |
Vorurteile gut, oft gelten sie noch heute. „Müllgruben und Kloaken haben | |
bei Grabungen immer noch einen eher untergeordneten Stellenwert. Dabei | |
verraten sie uns so viel über das alltägliche Leben – egal ob nun in der | |
Bronzezeit, der Antike oder heute“, sagt die Archäologin. | |
Sie selbst geht regelmäßig mit Schulklassen und Geschichtsinteressierten | |
auf Müllspaziergänge und zeigt ihnen die weggeworfenen Spuren unseres | |
Lebens. Essensverpackungen, To-go-Becher, Einkaufszettel, Preisschilder. | |
Ähnliches würde man auch in den Müllgruben alter Siedlungen finden und so | |
spannende Einblicke in den Alltag bekommen, sagt sie. | |
Immerhin finden sich in den Müllgruben oft noch mehr als nur Reste von | |
Getreide, Früchten und Knochen von geschlachteten Tieren, auch Rückschlüsse | |
über den Tellerrand hinaus sind möglich. | |
„Anhand der Lebensmittel können wir herausfinden, mit welchen anderen | |
Städten und Kulturen Handel getrieben wurde. Selbst zu Klimaveränderungen | |
geben Pollen oder Getreidesorten Hinweise“, sagt Becker. Außerdem finde man | |
in diesen Gruben auch Reste von kaputten Alltagsgegenständen – Werkzeuge, | |
Tonscherben und anderes. | |
Mülltrennung war damals noch ein Fremdwort. So konnte erst vor wenigen | |
Monaten ein britisches Forscherteam das Rätsel um römische Nachttöpfe | |
lösen. Die konischen und schön verzierten Gefäße fanden Archäologen | |
besonders häufig in oder in der Nähe von römischen Latrinen. Diese | |
Fundstelle legt nahe, dass es sich um Nachttöpfe handeln könnte. Allerdings | |
fehlten bisher dafür die nötigen Beweise. | |
Weil ihre Form und Optik im [3][Römischen Reich] recht weit verbreitet | |
waren, wurden sie oft als Vorratsgefäße bezeichnet. Damit ist nun | |
vermutlich Schluss, die britischen Forschenden konnten nämlich | |
Darmparasiten in den Töpfen nachweisen und lieferten damit die Bestätigung, | |
dass die römischen Bürger zu Hause am liebsten in wohl verzierte Nachttöpfe | |
machten und sie dann zum Entleeren zu den öffentlichen Toiletten brachten | |
oder bringen ließen. Das eigene Badezimmer war ein Privileg der | |
Superreichen. | |
Doch die Erkenntnisse aus Klärgruben beschränken sich nicht nur auf | |
Lebensumstände oder Ernährung vergangener Tage. Die Hinterlassenschaften | |
lassen auch Rückschlüsse auf die Gesundheit zu. „Im Labor können wir das | |
Erbgut alter Bakterien aus archäologischen Funden bestimmen und erfahren so | |
mehr über die Darmflora unserer Vorfahren. Auch die Spuren von Parasiten | |
und Krankheiten können wir so nachweisen“, erklärt Alexander Hübner vom | |
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. | |
## Konservierte Hinterlassenschaft | |
Das geht am besten, wenn die Kackwürste nicht in Klärgruben verrottet sind, | |
sondern durch schnellen Feuchtigkeitsentzug konserviert wurden. Leider ist | |
das eher die Ausnahme. Weltweit habe man bisher nur 40 bis 60 solch gut | |
erhaltene Kotreste gefunden, schätzt Hübner, zum Beispiel in alten | |
Salzbergwerken, Torflandschaften oder in der Wüste. | |
Spannende Erkenntnisse lassen die Momentaufnahmen aus dem Darm trotzdem zu. | |
So verdanken wir ihnen die frühsten Hinweise auf den Genuss von Bier und | |
Blauschimmelkäse im eisenzeitlichen Europa, also vor rund 2.700 Jahren. | |
Noch spannender: In der Antike oder dem Mittelalter sah es bakteriell im | |
menschlichen Darm noch ganz anders aus. „Sicher waren die Menschen vor | |
1.000 oder 2.000 Jahren nicht gesünder als die Menschen heute. Trotzdem | |
gibt es im Vergleich der Darmflora deutliche Unterschiede“, sagt Hübner. | |
So hatten Menschen früher eine weit größere Mikrobenvielfalt als heute. Zum | |
Beispiel fand sich im frühzeitlichen Kot eine höhere Konzentration an | |
Bakterien, die im Darm pflanzliche Nahrung verwerten. Mit der | |
Industrialisierung verändert sich die Darmflora, und neue Volkskrankheiten | |
treten auf den Plan, Allergien, Übergewicht oder entzündliche | |
Darmerkrankungen. Sie werden oft als Produkt moderner Lebenshaltung | |
gesehen. Der Vergleich zwischen historischer und moderner Darmgesundheit | |
könnte sicher weitere Erkenntnisse über die Entstehung dieser | |
Zivilisationskrankheiten bringen. | |
Dass die Menschen früher mit anderen Problemen zu kämpfen hatten als | |
Bewegungsmangel, langem Sitzen oder Fast Food, zeigt ein Fund aus York. | |
1972 fanden Archäologen auf dem Grundstück der Yorker Filiale der Lloyds | |
Bank die prächtige Kackwurst eines Wikingers, mit 20 Zentimter Länge und 5 | |
Zetnimeter Breite ein Rekordhalter in Sachen Größe. Im Torf hatte sie mehr | |
als tausend Jahre fast unversehrt überstanden. | |
Heute gibt sie genaue Einblicke in Ernährung und Gesundheitszustand des | |
Erzeugers. Kurz vor dem großen Geschäft bestanden die Mahlzeiten des | |
Wikingers vor allem aus Brot und Fleisch, vermutlich saisonbedingt fehlte | |
das Gemüse. | |
Das Problem: Auch der Rest der Speisen hatte offensichtlich schon die | |
Haltbarkeitsgrenze überschritten. So fanden sich in den | |
Hinterlassenschaften eine große Menge von Eiern des Peitschenwurms | |
(Trichuris) und des Spulwurms (Ascaris) – parasitische Fadenwürmer, die im | |
Dickdarm leben. Vermutlich litt der Nordmann an ziemlichen Bauchschmerzen, | |
Durchfall und starken Entzündungen des Darms – andere | |
Bakterienzusammensetzung hin oder her. Die Eier des Peitschenwurms fanden | |
sich übrigens auch in den spätmittelalterlichen Berliner Latrinen. | |
19 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Birk Grüling | |
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