| # taz.de -- Anti-Wokeness-Kongress in Berlin: Nur rhetorische Fragezeichen | |
| > Die konservative Denkfabrik R21 trommelt gegen linke Identitätspolitik. | |
| > Es gibt rationale Kritik zu hören – aber vieles kippt ins Affekthafte. | |
| Bild: Historiker Rödder und Ex-Familienministerin Schröder beim Kongress der … | |
| Auf dem Veranstaltungsplakat prangt [1][ein Gesicht mit einem großen | |
| Pflaster] vor dem Mund. „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als | |
| Bedrohung unserer Freiheit?“ lautet der Titel der dazugehörigen ersten | |
| Veranstaltung der neuen liberal-konservativen Denkfabrik R 21 am Montag in | |
| Berlin. Man fühlt sich, soll das Pflaster heißen, von woken Linken mundtot | |
| gemacht. Das Fragezeichen im Titel ist Rhetorik. | |
| Die Denkfabrik ist kein reiner CDU-Club. Zu ihr gehören auch der Autor | |
| Ahmad Mansour und die Ethnologin Susanne Schröter. Aber CDU-Mitglied und | |
| Historiker Andreas Rödder und Ex-Familienministerin Kristina Schröder sind | |
| zwei prägende Figuren, die mit R 21 versuchen, das Sinnvakuum der Union | |
| nach 16 Jahren Angela Merkel konservativ zu füllen. | |
| Laut Rödder versteht man sich „als bürgerliche, demokratische Mitte“, die | |
| vor Rechtspopulismus ebenso warnt wie vor der woken Linken. Eine | |
| Schlüsselfrage aber lautet, ob die konservative Kritik an Identitätspolitik | |
| ausreichend Distanz zu rechtspopulistischer Feindbestimmung hält. | |
| Als eher linker Kritiker tritt am Montag der Theatermann Bernd Stegemann | |
| auf, einst Mitstreiter von Sahra Wagenknecht bei der gescheiterten | |
| Aufstehen-Bewegung. Er kritisiert den „progressiven Neoliberalismus“, der | |
| auf Gendersternchen statt auf Umverteilung setze. | |
| ## „Neue Ständegesellschaft“ | |
| „Amazon ist diskriminierungsfrei und ohne Gewerkschaften“, so Stegemann. | |
| Der woke Kapitalismus ersetze mehr Lohn durch mehr Anerkennung. Zudem | |
| hebele das Beharren auf der mit Opferattributen versehenen Sprecherposition | |
| den Kern der Demokratie, „den zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ | |
| (Habermas) unter Gleichen aus. All das ist nicht neu, aber eine rationale | |
| Kritik. | |
| FDP-Politikerin Linda Teuteberg hält die Praxis, „Menschen in unentrinnbare | |
| Gruppenzugehörigkeiten einzuteilen und nur Opfer und Privilegierte zu | |
| kennen“, für illiberal. Damit entstehe die Gefahr einer „neue | |
| Ständegesellschaft“, die um Opfergruppen zentriert sei. | |
| Wokeness liest die FDP-Frau als Ausdruck einer wachsenden „Sehnsucht nach | |
| Eindeutigkeit“ und der Unfähigkeit, Mehrdeutigkeiten auszuhalten. Letzteres | |
| ist irgendwie immer wahr. Teuteberg formuliert ihre Kritik erfreulich | |
| entspannt und ohne Schützengräben auszuheben. | |
| Ein anderen, viel schrilleren Ton schlägt die Ex-Bild-Redakteurin Judith | |
| Basad ab. Sie hatte [2][bei Springer gekündigt], weil sich der Verlag von | |
| einem Text in der Welt distanziert hatte. In diesem waren ARD und ZDF | |
| attackiert worden, weil sie angeblich „unsere Kinder indoktrinieren“ und | |
| von Aktivisten mit einer „’woken’ Trans-Ideologie“ unterwandert würden. | |
| ## Fast schon Nordkorea | |
| Das klang nach AfD. Basad, die inzwischen in der Firma von [3][Ex-Bild-Chef | |
| Julian Reichelt] arbeitet, deutet den Rückzieher des Springer-Verlags | |
| hingegen als Menetekel. Die woke Bewegung sei „die größte Gefahr für unsere | |
| Gesellschaft“ und „mächtiger, als es jede rechtsextreme Bewegung derzeit | |
| sein kann“, sagt sie. | |
| Die Woke-Bewegung habe die Mainstreammedien gekapert und „eine Tyrannei“ | |
| errichtet. Folgt man diesem Bild, leben wir in einer Art | |
| identitätspolitischem Nordkorea. Der vorsichtige Einwand des Moderators und | |
| NZZ-Redakteurs Alexander Kissler, dass die Bild eigentlich kein | |
| Zentralorgan von Wokeness sei, prallt an ihr ab. | |
| Basads Auftritt, viel beklatscht, zaghaft infrage gestellt, erhellt einen | |
| erstaunlichen Zug der Antiwokeness: Sie wiederholt spiegelbildlich die | |
| Opferinszenierung ihrer Gegner. Die Fantasie, in einem totalitären System | |
| zu leben, das jede Freiheit stranguliert und in der „die Macht des Mobs“ | |
| (Basad) auch konservative Medienhäuser niederringt, ist eine Art Echo | |
| mancher identitätspolitischen Konstruktionen eines umfassenden | |
| rassistischen oder kolonialistischen Systems. | |
| Zu den Seltsamkeiten des Antiwoken gehört zudem die rituelle Bekundung, | |
| dass Identitätspolitik im wahren Leben niemand interessiere. Das steht in | |
| einem unvermittelten Widerspruch zu der felsenfesten Überzeugung, es mit | |
| einem übermächtigen Gegner zu tun zu haben. | |
| ## Von Blase zu Blase | |
| Die Historikerin Sandra Kostner attestiert einen machtvollen Trend zur | |
| „Moralisierung der Wissenschaft“. Als Beleg für den Einfluss linkswoker | |
| Irrationalität führt sie die Zeitschrift Nature an, die kürzlich | |
| proklamierte: [4][„Research must do no harm“], Forschung solle einen Bogen | |
| um Rassismus, Sexismus, Homophobie und Hassrede machen. Warum das eine | |
| gravierende Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit sein soll, bleibt | |
| unklar. | |
| So hört man bei dieser Veranstaltung durchaus kühl-rationale Verteidigungen | |
| republikanischer Prinzipien gegen den Anspruch von identitätspolitischen | |
| Sonderrechten. Doch manches kippt ins Affekthafte. Kritische Gegenstimmen | |
| hatte man vorsichtshalber gar nicht erst eingeladen. Das führt mitunter zu | |
| dem bizarren Effekt, dass mit viel Verve woke Blasen attackiert werden – | |
| und man das faktisch in einer antiwoken Blase tut. | |
| Diffus bleibt, ob man die Eskalation und die schroffe Feindseligkeit, wie | |
| es sie in den USA gibt, als Kraft der „demokratischen Mitte“ (Rödder) | |
| verhindern will – oder sich heimlich danach sehnt. Ex-Bild-Redakteurin | |
| Basad glaubt, dass sich auch in Deutschland eine schlagkräftige | |
| Anti-Woke-Bewegung entwickeln wird, inklusive Leitfiguren wie dem | |
| kanadischen Professor Jordan Peterson. | |
| ## Von Obama lernen | |
| Kristina Schröder hält den Erfolg der Identitätspolitik für ein Versagen | |
| der Union. „Viele haben gedacht: Das ist so bekloppt, das wird sich selbst | |
| erledigen.“ Nun komme auf die Freiheit „eine harte Zeit“ zu. Andreas Röd… | |
| kündigt am Ende an, man werde einen Kulturkampf gegen „moralisierende | |
| Überwältigung“ führen. Es klingt wie eine Drohung. | |
| Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hat die linken Bewegungen in den | |
| USA einst ermahnt: „Don't be too woke.“ Für die politische Kultur in | |
| Deutschland wäre es günstig, wenn Liberal-Konservative den Satz „Don't be | |
| too antiwoke“ beherzigen würden. Mehr jedenfalls, als es bei R 21 der Fall | |
| ist. | |
| 8 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://denkfabrik-r21.de/ | |
| [2] /Schlesinger-Bild-Zeitung-Lindner/!5871688 | |
| [3] /Neues-von-Julian-Reichelt/!5817057 | |
| [4] https://www.nature.com/articles/d41586-022-01607-0 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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