# taz.de -- Angriffe gegen Obdachlose: Und, schauen Sie hin? | |
> Innerhalb weniger Tage kam es in Dortmund zu drei Tötungsversuchen an | |
> Obdachlosen. Was die Gleichgültigkeit der Gesellschaft damit zu tun hat. | |
Bild: Es ist dieses Unsichtbarmachen, das das Leben von obdachlosen Menschen �… | |
Wenn ich mit der U-Bahn zur Arbeit fahre, muss ich auf dem Weg über | |
Menschen steigen. Fast jeden Tag sitzen oder liegen in der U-Bahn-Station | |
[1][obdachlose Menschen] im Vorraum oder auf dem Treppenabsatz. Manchmal | |
sind sie zugedeckt mit Schlafsäcken oder Folien, sodass auf den ersten | |
Blick nicht zu erkennen ist, ob es sich um einen Stoffhaufen oder doch | |
einen Menschen handelt. Wenn ich am Morgen an ihnen vorbeimuss, gucke ich | |
nicht nach, ob unter dem Haufen jemand atmet, sondern steige einfach über | |
ihre Körper. | |
An manchen Tagen sind diese Menschen nicht da, die U-Bahn-Station wirkt | |
dann wie leer gefegt. Lediglich Reste von Alufolie und Zigarettenstummel | |
erinnern daran, dass sich hier kürzlich noch jemand aufgehalten hat. Wohin | |
die Menschen verschwunden sind, weiß ich nicht. Wurden sie von der Polizei, | |
der Security oder Putzkräften vertrieben? Sind sie in einen anderen | |
U-Bahnhof gegangen oder gar aus der Innenstadt vertrieben worden? | |
Das Leben von obdach- und wohnungslosen Menschen ist mir nicht egal. Im | |
Gegenteil: [2][Ich habe sowohl journalistisch] dazu gearbeitet und war auch | |
wiederholt ehrenamtlich in der Obdachlosenhilfe tätig. Doch im Alltag | |
werden die Menschen für mich unsichtbar, verschwimmen zu einer Masse, die | |
mich meistens nicht tangiert und manchmal nervt. An manchen Tagen so stark, | |
dass ich lieber mit dem Fahrstuhl aufs Gleis fahre, um den Menschen auf der | |
Treppe nicht begegnen zu müssen. Ich schäme mich dann, aber nicht genug, um | |
an meinem Verhalten etwas zu ändern. Und damit bin ich nicht allein, mir | |
tut es ein Großteil der Gesellschaft gleich. | |
Doch diese Gleichgültigkeit, diese Ignoranz, können wir uns nicht erlauben. | |
Denn es ist dieses Unsichtbarmachen, das das Leben von obdachlosen Menschen | |
– neben Drogenmissbrauch, Krankheit, Hitze und Kälte – gefährdet. Wohnung… | |
und obdachlose Menschen werden in der Öffentlichkeit bespuckt, beschimpft | |
und mit Gegenständen beworfen, ihre Zelte und Schlafplätze werden | |
angezündet, sie werden ausgeraubt, mit Messern bedroht oder zu Boden | |
getreten. [3][Und im schlimmsten Fall werden sie getötet – in | |
Obdachlosenunterkünften, bei Polizeieinsätzen oder auf der Straße.] | |
## Mordversuche in Dortmund | |
Diese Gewalt gehört für sie zum Alltag, ihr Leben ist nicht sicher. Aktuell | |
gab es allein in Dortmund drei Tötungsversuche an obdachlosen Menschen, | |
zwei davon mit tödlichem Ausgang. Vor gut einer Woche erschoss ein Polizist | |
einen 52-jährigen Mann bei einem Einsatz. Nur einen Tag später soll ein | |
13-jähriger Junge einen 31-Jährigen am Dortmunder Hafen erstochen haben. | |
Und nun ist bekannt geworden, dass am Osterwochenende der Unterschlupf | |
einer Frau angezündet wurde. Die 72-Jährige konnte sich verletzt aus ihrem | |
brennenden Nachtlager retten. Die Staatsanwaltschaft bewertet die Tat als | |
versuchten Mord aus Heimtücke. Die Polizei geht nicht davon aus, dass es | |
Zusammenhänge zwischen den einzelnen Taten gibt. | |
Gewalt gegen obdach- und wohnungslose Menschen eint immer ein Hass, der auf | |
Vorurteilen beruht. Nämlich, dass Menschen nichts zur Gesellschaft | |
beitragen und damit minderwertig seien. Deswegen wollen Menschen mit Obdach | |
darüber verfügen, wo Menschen ohne Obdach sich aufhalten dürfen – nämlich | |
am besten außerhalb ihres Blickfeldes. Sie werden als Menschen zweiter | |
Klasse angesehen, als einfache Opfer, mit denen man machen könne, was man | |
will. | |
Dass dieser Hass der Menschen sich in Gewalt niederschlagen kann, liegt | |
auch an der Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Um die Menschen aus der | |
Unsichtbarkeit zu holen, braucht es ein Hingucken von allen. Auch damit die | |
Politik in die Verantwortung gezwungen wird. | |
## Wohnungskrise verschärft sich | |
Die Bundesregierung will Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 überwinden, | |
so steht es im Koalitionsvertrag. Hinweise darauf, dass dieses Vorhaben | |
gelingt, gibt es wenige. An bezahlbarem Wohnraum fehlt es in Deutschland an | |
allen Ecken und Enden, und durch politische Fehlentscheidungen wird sich | |
die Wohnungskrise in den nächsten Jahren noch einmal verschärfen. | |
Besonders gefährlich ist das für alle Menschen ohne Obdach. Denn selbst | |
wenn wir als Gesellschaft kollektiv anfangen hinzugucken und einzugreifen, | |
bleibt der beste Schutz vor Gewalt für die Betroffenen noch immer die | |
eigene Wohnung. | |
11 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Carolina Schwarz | |
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