# taz.de -- Alternative Bestatter*innen: Die letzte Fähre | |
> Vier junge Kreuzbergerinnen mischen die alte Zunft der Totengräber auf. | |
> Die Umsorgung der Zugehörigen steht dabei im Vordergrund. | |
Bild: Sahra Ratgeber und Birgit Scheffler vom Kreuzberger Bestattungsunternehme… | |
Feuer oder Erde? Verbrennen oder verwesen? Das ist die Gretchenfrage der | |
Bestatter. Irgendwann sind wir alle dran. „Tage vor Deinem Tod, wenn noch | |
niemand Deine Sterbestunde kennt, hört Dein Herz auf, Blut bis in die | |
Spitzen Deiner Finger zu pumpen. Wird anderswo gebraucht. In Deinem Kopf. | |
Im Kern Deines Körpers, wo deine Lunge liegt, Dein Herz, Deine Leber. Auch | |
aus den Zehenspitzen zieht sich das Blut zurück. Deine Füße werden kalt. | |
Dein Atem verflacht. Die Sinne schwinden. Dein Körper leitet den Abschied | |
vom Leben ein“, schreibt Roland Schulz. „So sterben wir“ heißt sein Buch, | |
das die Kreuzberger Bestatterin Birgit Scheffler allen ans Herz legt, | |
[1][die mit dem Thema Sterben konfrontiert sind]. | |
In diesem Buch geht es auch um den sich unaufhaltsam vollziehenden Wandel | |
unserer westlichen Trauerkultur. Junge BestatterInnen stürmen den Markt und | |
befreien ihre Zunft von einem muffigen Image. Vergilbte Lamellen, | |
verstaubte Urnen, olle Engelchen und tote Fliegen – diesen Anblick bieten | |
weithin herkömmliche Schaufenster gewöhnlicher Beerdigungsunternehmen. | |
Gardinen zu und bloß nicht reinkucken. Tod tabu. Von diesem Bild will | |
Scheffler weg. Sie steht für die neue Bestattergeneration. Ein knappes | |
Dutzend moderner BestatterInnen haben die Branche in Berlin erobert. | |
Update, Vorhang auf: Den Tod zurück ins Leben holen! | |
Auf in die Dieffenbachstraße 19 im Gräfekiez: Ein China-Restaurant wirbt | |
mit dem Slogan „Ein Leben ohne unser Essen ist möglich, aber sinnlos.“ | |
Daneben geben zwei große Schaufenster den Blick frei in große, | |
minimalistisch dekorierte Räume. Was wirkt wie eine Galerie ohne Bilder, | |
[2][ist das neue Institut für individuelle Bestattungen]. In den | |
Fensterscheiben die Gravur „Das Fährhaus“ mit einem dänischen Kreis auf d… | |
a. | |
Helles Holz korrespondiert drinnen mit dem nordischen Namen. Kerzen | |
brennen, im Hinterzimmer steht beiläufig an einer Wand das Herzstück des | |
Fährhaus-Mobiliars: ein schlichter Sarg aus Fichtenholz, ausstaffiert mit | |
weißem Tuch. „Reine Baumwolle“, betont Birgit Schefflers Kollegin Sahra | |
Ratgeber, die jahrelange Erfahrungen bei Trauer- und Sterbebegleitungen in | |
Hospizen ins Fährhaus einbringt. | |
Scheffler wiederum ist Familienbegleiterin und erfahren im Umgang mit | |
trauernden Kindern. „Mit einer Siebenjährigen habe ich zusammen die | |
Fingernägel der verstorbenen Oma rot lackiert. Das machte ihr den Tod | |
begreifbar. Uns ist sehr wichtig, den Zugehörigen den Tod begreifbar zu | |
machen. ‚Be-Greifen‘ gleich ‚Anfassen‘. Die kalte Haut spüren. Das hil… | |
enorm beim Trauerprozess und der Verarbeitung“. | |
Zwar steht die Umsorgung der Zugehörigen im Vordergrund. Aber ebenso gehört | |
der physische Umgang mit den Verstorbenen zum Arbeitsalltag. Grundsätzlich | |
spricht die Bestatterin nie von „Leichen“, sondern stets von Verstorbenen. | |
„Beim Herrichten verzichten wir zum Beispiel auf zu viel Kosmetik. Ich nähe | |
auch keine Münder zu, wie das hin und wieder üblich ist. Gegebenenfalls | |
bereite ich die Zugehörigen vor dem Beschauen der Verstorbenen darauf vor, | |
dass der Mund halt leicht geöffnet ist. Damit sie sich nicht erschrecken.“ | |
Auch die ganz Harten kommen ins Fährhaus. Eine Rockerbraut etwa, die ihren | |
Mann bestatten musste. Sie befürchtete ein Orgelrequiem und war | |
erleichtert, als Scheffler ihren Wunsch erfüllen konnte: AC/DC donnerte | |
durchs Gotteshaus, und die Tränen schossen den harten Kerlen nur so raus. | |
Zum Abschied von ihrem Kumpel gaben sie im Leerlauf vor dem Gotteshaus noch | |
einmal kräftig Gas. So heulten auch ihre schweren Maschinen. | |
„Vorige Woche hatten wir unsere erste Coronabestattung“, erzählt Birgit | |
Scheffler, „eine herzkranke Frau Anfang 70 wurde in der Charité von einer | |
Patientin aus dem Nachbarzimmer angesteckt und verstarb kurz darauf an | |
Covid-19.“ Sie erläutert, wie die Pandemie auch ihre Arbeit verändert hat. | |
„Viele Angebote wie das gemeinsame Waschen und Ankleiden oder die | |
Abschiednahme am offenen Sarg dürfen wir bei an oder mit Covid-19 | |
Verstorbenen nicht anbieten. Aber wir sind kreativ geworden und finden | |
andere Möglichkeiten eines guten Abschieds.“ | |
Schefflers Protokoll der Coronabestattung: | |
– Zugehörige (Tochter und Sohn, Ende 40) nehmen Kontakt zu uns auf. | |
– Nächster Vormittag Erstgespräch mit Kindern im Fährhaus. | |
– Tags drauf Verstorbene in der Charité abholen. In einem Bodybag | |
(verschlossene Ganzkörperhülle) mit Schild: „Warnhinweis Infektiös | |
Risikogruppe 3, gem. BioStoffV“. Bodybag wird nicht mehr geöffnet. | |
– Ankommen auf dem Hof Gustav Schöne (Fuhrunternehmen und Kühlung am | |
Neuköllner Richardplatz). Verstorbene im Bodybag in einen Sarg betten. Sarg | |
wird nicht mehr geöffnet. Warnhinweis gut sichtbar außen am Sarg anbringen. | |
– Waschen und Ankleiden (Totenfürsorge), Abschiednahme am offenen Sarg | |
entfällt weil Coronafall. Verstorbene ins Krematorium überführen. | |
– Zweite Leichenschau im Krematorium durch den Amtsarzt. | |
– Einäschern. Zugehörige müssen draußen bleiben. Gilt aktuell für alle | |
Zugehörigen als Teil des Lockdowns, unabhängig woran jemand gestorben ist. | |
– Die Asche der Verstorbenen in einer Aschekapsel abholen. | |
– Beisetzung gemäß der aktuell geltenden Beschränkungen. | |
Die Pandemie verändert aber derzeit nicht nur den praktischen Umgang mit | |
den Toten und die Umstände ihrer Beisetzung, sondern auch das Denken derer, | |
die sich mit dem Sterben auseinandersetzen. | |
Detlef Wittenberg, ein 78 Jahre alter Jurist, hat sich mit Ausbruch der | |
Pandemie in die Uckermark zurückgezogen. Er befürchtet, dass die | |
Intensivstationen der Patienten nicht mehr Herr werden. „Dann werden die | |
entscheiden müssen, wen sie behandeln und wen nicht.“ Wittenberg vermisst | |
eine Diskussion darüber, ob Corona nicht eine neue Sicht auf die | |
Sterbehilfe erzwingt. „Wenn die Ärzte mich, wenn ich keine Luft mehr | |
kriege, nicht mehr behandeln, sondern Jüngeren den Vorrang geben, was | |
geschieht mit mir? Schicken sie mich dann nach Hause und lassen mich | |
qualvoll ersticken? Oder machen sie mir das Sterben so angenehm wie | |
möglich, mit allen Mitteln und Drogen, welche die Medizin zur Verfügung | |
hat. Natürlich nur, wenn ich es will. Ich habe keinen Zweifel, wie ich mich | |
entscheiden würde.“ | |
Wittenberg war einst Fritz Teufels Anwalt, dessen Beisetzung bei 39 Grad im | |
Hitzesommer 2010 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der | |
Chausseestraße [3][wahrlich „alternativ“ und großes Kino war]: „Des Teu… | |
Begräbnis“ überschrieb seinerzeit das Lettre-Magazin das Ereignis mit | |
Hunderten ergrauter Protagonisten der 68er-Bewegung samt | |
2.-Juni-Überlebenden. Zur Totenglocke der Kapelle pfiff das Kreuzberger | |
Nasenflötenorchester „Ruby Tuesday“. Wohl nie zuvor haben | |
berührend-schrägere Klänge eine Beisetzung untermalt. | |
## Wie der Name einer Indie-Band | |
„Es lebe der Zentralfriedhof! Die Szene wirkt makaber. Die Pfarrer tanz'n | |
mit die Hur’n. Und Juden mit Araber“, sang schon 1975 der Simmeringer | |
Wolfgang Ambros. Aus dem Wiener Simmering und der | |
Zentralfriedhofs-Tristesse flüchtete Barbara Till an das Kreuzberger | |
Paul-Lincke-Ufer 18. Dort arbeitet sie gemeinsam mit ihrer | |
Trauercoach-Kollegin Alexandra Kossowski in ihrem Office. „Wir sind | |
Koffer-Bestatter“, erklärt Till in Anspielung darauf, dass die Frauen erst | |
Anfang Dezember in Schöneberg ihr Bestattungshaus eröffnen werden. [4][„The | |
Funeralists“ soll dann neonblau in den Himmel leuchten]. | |
[email protected] lautet ihre Email-Adresse. „The Funeralists“ klingt | |
wie der Name einer Independent-Band. Die beiden Frauen werben mit einem | |
schmelzenden Eis am Stil und der Botschaft „Die Wärme des Todes“ auf | |
stylischer Postkarte. | |
„Mag sein, dass manche uns als Hipster-Bestatterinnen wahrnehmen. Selber | |
definieren wir uns nicht so.“ Überhaupt wollen sich die neuen | |
Bestatterinnen ungern das Label „alternativ“ an die Brust heften. Till: | |
„Letztens hatte uns jemand als New-Age-Bestatter betitelt. Ich mag Humor | |
und auch ein Augenzwinkern und wir ziehen das zu uns passende Klientel an. | |
Berlin ist multikulturell und viele sind konfessionslos. So kommt oft die | |
Frage auf: ‚Was sind Deine eigenen Werte? Was ist Dir wichtig?‘ Wir ziehen | |
vor allem Leute an, die selbst eine sehr offene und lockere Art haben, mit | |
dem Thema Tod umzugehen, denen Individualität, Transparenz und | |
Nachhaltigkeit wichtig sind. Und ja, da sind schon Hipster dabei, aber oft | |
auch ihre Eltern.“ | |
## Emotionale Abschiedslieder | |
Für die gibt es auch gerne emotionale Abschiedslieder: „Blackstar“ von | |
David Bowie. „Wayfaring Stranger“ von Johnny Cash. Und Leonard Cohen, „I�… | |
ready my Lord“. Barbara Till, die Komparatistik studiert hat, verehrt ihren | |
Landsmann Thomas Bernhard und seinen Satz: „Es ist vieles lächerlich, es | |
ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ | |
In einem Friedwald in Weißensee hängt ein Schild an einem Baum: „Wanderer, | |
steh still und weine! Denn hier liegen meine Gebeine. Und ich wollt’, es | |
wären deine“. Bei Führungen erklärt der Friedhofswärter gerne: „So was | |
haben wir hier nicht so gerne.“ Birgit Scheffler amüsiert das. | |
8 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Coronahotspot-Sachsen/!5744927 | |
[2] https://faehrhaus-bestattungen.de/ | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=hlumT4UYSjI | |
[4] https://thefuneralists.com | |
## AUTOREN | |
Guido Schirmeyer | |
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