# taz.de -- AfD in Berlin-Marzahn: Wo Berlin schon blau ist | |
> Gunnar Lindemann zieht für die AfD ins Berliner Abgeordnetenhaus – mit | |
> einem Direktmandat. In seinem Stadtteil freut das längst nicht jeden. | |
Bild: Er spielt gern den Kümmerer in seinem Stadtteil: Gunnar Lindemann von de… | |
BERLIN taz | Gunnar Lindemann will keine Zeit verlieren: „Guten Tag, Sie | |
wollen also wissen, warum die AfD hier gewonnen hat?“ Der frisch gewählte | |
Direktkandidat steht auf dem Bahnsteig, die Straßenbahn ist eben abgefahren | |
und gibt den Blick wieder frei auf die weiße Fassade eines kleinen | |
Einkaufszentrums, das halb leer steht. Lindemann läuft los. Er will ihn | |
herzeigen, seinen Wahlbezirk Marzahn-Nord, wo 30,6 Prozent der Wähler für | |
ihn und seine AfD gestimmt haben. Mehr als überall sonst in Berlin. | |
Sein Hemdkragen sitzt, die Fleecejacke darüber war teuer. Lindemann hat | |
viel zu erzählen, seine sonore Bassstimme kreist um Wörter wie | |
„Akteneinsicht“, „Sachstand“ oder „Rechtsgrundlage“. Schon bald sch… | |
auf diesem Spaziergang, Lindemann ist kräftig gebaut. „Wenn Sie mit der | |
Kamera nah rangehen, ist das Bild schnell voll“, sagt er und lacht. | |
Das Herbstgrau verschont auch den Stadtrand Berlins nicht. Leichter | |
Nieselregen fällt an diesem Vormittag zwischen den Plattenbauten, die hier | |
seit den achtziger Jahren stehen. Nur wenige Autos sind unterwegs, auf den | |
holprigen Bürgersteigen führen Jogginghosenträger ihre Hunde aus. Wer hier | |
herwill, fährt mit der S7 bis zur Endstation Ahrensfelde. Erst nach der | |
Wende wurde Marzahn-Nord überhaupt ins Stadtgebiet eingegliedert. | |
In die Politik wollte Gunnar Lindemann eigentlich gar nicht. Als gelernter | |
Bankkaufmann und Sicherheitskraft arbeitet er mittlerweile in der | |
Personalplanung eines privaten Bahnunternehmens. Seine Frau, so erzählt er, | |
habe ihn zu seinem Engagement gedrängt. „Wenn im Fernseher die Nachrichten | |
liefen, habe ich mich immer aufgeregt. Sie meinte dann, der Fernseher könne | |
nichts dafür. Wenn ich etwas ändern wolle, solle ich in die Politik.“ | |
Lindemann landete vor einem Jahr schließlich bei der AfD. Weil das ganz | |
normale Leute seien und man nur dort frei sprechen könne. | |
## Er wohnt hier | |
Dass Lindemann demnächst im Abgeordnetenhaus sitzt, lässt er wie einen | |
Zufall aussehen: „Direktkandidat wollte niemand werden, also habe ich es | |
gemacht. Vor einem Jahr war ja nicht abzusehen, dass wir gewinnen könnten.“ | |
Allein sein Verdienst sei das natürlich nicht. Doch er habe eben bürgernahe | |
Politik gemacht, das habe die Leute überzeugt. Auf der Straße klingt | |
„bürgernah“ bei Lindemann nach Verstärkerfahrten für die Straßenbahn, n… | |
Jugendverkehrsschule und dem neuen Grillplatz in den Ahrensfelder Bergen. | |
Auf seiner Facebook-Seite klingt „bürgernah“ nach „Islamisierung“, | |
„Asyl-Irrsinn“ und „gesetzloser Merkel-Administration“. Mit Lindemann z… | |
der kleine Mann ins Parlament ein. | |
Er wohnt selbst im Stadtteil. Wenn Lindemann von den Anwohnern spricht, | |
sagt er trotzdem nicht „wir“. Er sagt „die Menschen hier“. Seine | |
Wahlplakate hingen wochenlang. Von „den Menschen hier“ grüßt ihn an diesem | |
Vormittag dennoch niemand. | |
Auch Nicole Jonas gehört zu den Menschen hier. „Tach, na wie machen wir’s | |
heute?“, begrüßt sie ihre Kundin. „Wie immer – plüschig“, lautet die | |
Antwort. „Okay. Na, wir sehen aber begeistert aus“, sagt Jonas, packt den | |
schwarz-weißen Terrier und hebt ihn über die Theke auf den Frisiertisch. | |
Sie legt ihm ein Halsband um, hält seine Vorderpfoten hoch und beginnt, mit | |
dem elektrischen Haarschneider den Bauch zu rasieren. Seit elf Jahren schon | |
betreibt Jonas ihren Hundefrisörsalon in Marzahn-Nord, nur wenige Meter vom | |
S-Bahnhof. | |
## Was den Leuten Angst macht | |
Ihr roter Pony verdeckt fast ihren schüchternen Blick, der lange Zopf hängt | |
vorne über die Schulter. Nicole Jonas hat eine Ahnung, womit das | |
Wahlergebnis zusammenhängen könnte. „Na, viele Kunden sagen: Die wollen wir | |
nicht bei uns haben“, erzählt sie. Die, das sind Geflüchtete. Jonas wohnt | |
selbst in der Nähe einer Unterkunft. „Wir haben die ja auch“, sagt sie. Und | |
erst nach kurzem Zögern schiebt sie hinterher – „als Nachbarn“. Auf der | |
Bürgerversammlung vor dem Einzug der Geflüchteten habe man ihnen erzählt, | |
es kämen Menschen aus allen Schichten. „Das heißt, da sind Leute dabei, die | |
wissen nicht, wie man eine Toilette benutzt“, schließt sie daraus. Und: | |
„Das macht den Leuten Angst!“ | |
Sie hält den Kopf schräg. Ihr Tonfall klingt überrascht, nicht aggressiv. | |
Während der Hund vor ihr immer mehr Haare verliert, grübelt sie weiter über | |
den Wahlausgang. Nach einer Weile schaltet Jonas den elektrischen | |
Haarschneider aus und sagt in die plötzliche Stille hinein: „Aber das | |
Problem sind die Menschen. Denen geht’s zu gut. Die schauen nicht nach | |
rechts und nicht nach links, nur geradeaus. Wenn ich dem Busfahrer Guten | |
Tag sage, fragt der mich: Sie sind sicher, dass Sie mich meinen?“ Wen sie | |
gewählt hat, verrät Nicole Jonas nicht. | |
Die Plattenbauten gegenüber ihrem Laden sind Bauwerk gewordene Konformität. | |
Wer hier lebt, wird nicht gerade inspiriert, dem Leben große Fragen zu | |
stellen. Die Platte lädt ein, das Leben zu verwalten. Ein | |
Stadtteilorchester oder Programmkino im Hinterhof – man kann es sich nicht | |
wirklich vorstellen zwischen den Waschbetonfassaden der Hochhäuser am | |
Barnimplatz. | |
Dahinter aber wird kräftig geschraubt. Im örtlichen Jugendzentrum müssen | |
die Jungs die Seifenkiste bis zum nächsten Tag fertig haben, am Wochenende | |
steht in Köpenick ein Rennen an. Eine Flex dröhnt über den Hof, drinnen | |
prüft Justin Hupe und Beleuchtung. Alles selbst gebaut. | |
## Im Jugendzentrum | |
Drinnen steht Christiane Weber hinter der Theke. Vor sechseinhalb Jahren | |
hat die Sozialpädagogin, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung | |
lesen will, das Zentrum mit aufgebaut. Mit Hakenkreuzen geschmückte | |
Gipsverbände, hochgereckte rechte Arme, das sind die Provokationen, mit | |
denen sie umzugehen hat. Als die rechtsextreme Gruppe „Bürgerbewegung | |
Marzahn“ im vergangenen Jahr wöchentlich gegen eine Geflüchtetenunterkunft | |
im Bezirk demonstrierte, waren auch ein paar Jungs aus dem Jugendzentrum | |
dabei. Die MitarbeiterInnen rund um Weber schlossen sich dem Gegenprotest | |
an und demonstrierten gegen ihre eigenen Schützlinge. | |
Meistens aber geht es dort ruhiger zu. „Viele Jugendliche haben es zu Hause | |
schwer. Hier finden sie Anschluss“, erzählt Weber. Der Alltag in vielen | |
Familien sei gekennzeichnet von Arbeits- und Antriebslosigkeit. Verlust und | |
Passivität prägen die Jugendlichen. Man sehe das beispielsweise an den | |
Liebesbeziehungen, die hielten meist nicht lange, meint Weber. „Intimität | |
ist wenig wert. Der Verlust ist nah, und das Vertrauen in die Liebe nicht | |
groß. Nähe wird konsumiert.“ Auch Materielles oder Medien würden die | |
Jugendlichen vor allem konsumieren. Dass fördere im Vergleich mit dem | |
bessergestellten Teil der Gesellschaft das Gefühl, unter den Verlierern zu | |
sein. Und unter dem Konsum als Lebenshaltung leide schließlich das | |
Reflexionsvermögen. Weber kommt ins Reden, sie gestikuliert, ihre Wörter | |
scheinen sich gegenseitig zu überholen. | |
Armut ist in Marzahn-Nord tatsächlich ein Problem. Laut Sozialbericht des | |
Bezirks von 2014 leben 38 Prozent der BewohnerInnen bis 65 Jahre von | |
Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Das ist selbst innerhalb des gesamten | |
Bezirks Marzahn-Hellersdorf Spitze. Migrationshintergrund haben in | |
Marzahn-Nord 22 Prozent, nur 9 Prozent sind AusländerInnen. Halb so viele | |
wie in Gesamtberlin. Die meisten davon sind Russlanddeutsche oder | |
Vietnamesen. Einen Hidschab sieht man selten auf der Straße. | |
## „Das sind Überspitzungen“ | |
Im Jugendzentrum ist das Abschneiden der AfD für viele eine Katastrophe. | |
Wie sie der Partei begegnen sollen, jetzt, wo sie die Mehrheit im Stadtteil | |
stellt, wissen sie noch nicht. Einige MitarbeiterInnen wollen der Partei | |
Hausverbot erteilen. Im Flur des Zentrums hängen Zeitungsartikel über die | |
AfD, damit die Jugendlichen sich mit dem Thema auseinandersetzen können. | |
Wie es dem Zentrum ergehen könnte, zeigt ein Vorfall in einem anderen | |
Verein. Die Spielplatzinitiative betreibt zwei Abenteuerspielplätze für | |
Kinder in Marzahn-Nord. Sie veranstaltete für geflüchtete Familien aus | |
Hohenschönhausen zum Ende des Ramadan ein Zuckerfest. Gunnar Lindemann | |
teilte die Veranstaltung auf Facebook und schrieb dazu: „Die Islamisierung | |
macht auch vor Marzahn nicht halt.“ Seitdem droht Bernd Lau, demnächst | |
Bezirksverordneter für die AfD, den Verein „genauer zu beobachten“. | |
Folgerichtig beschreibt er den Islam im Internet schließlich als | |
„Krebsgeschwür“. | |
Kommentieren möchte Lindemann das nicht. Er schlendert zwischen den | |
Wohnblöcken entlang, etwas unbeholfen vom linken auf den rechten Fuß | |
wippend. Zu seinen eigenen Posts meint er: „Na, das sind doch | |
Überspitzungen. Nur so kommt eine Diskussion in Gang.“ Er bleibt stehen und | |
deutet auf einen bunt angesprühten Bauzaun, hinter dem zwei graue | |
Betonblöcke errichtet werden – die erste Unterkunft für Geflüchtete im | |
Stadtteil. Hier sollen Anfang nächsten Jahres 500 Menschen einziehen: „Die | |
Bewohner hat man überrannt, über Nacht ist die Baustelle entstanden.“ Eine | |
bessere Kommunikation hätte sicher zu mehr Akzeptanz geführt, meint | |
Lindemann. | |
## Flüchtlingshilfe von der AfD? | |
Er spricht, als wäre Akzeptanz sein Ziel. Dass seine Überspitzungen von | |
seinen Wählern für voll genommen werden und die Ablehnung erst erzeugen, | |
hört er nicht gerne. Abstreiten aber will er es nicht. Er verbucht sie als | |
Kollateralschaden auf dem Weg zur demokratischen Auseinandersetzung. Ob er | |
die Unterkunft unterstützt, sagt er, hänge vor allem davon ab, wer | |
einziehe. 500 junge Männer könne er schwer dulden, wegen der angrenzenden | |
Kita und der Grundschule. Familien aber will er helfen, vielleicht eine | |
eigene Initiative starten. Flüchtlingshilfe von der AfD? Auf seinen | |
Wahlplakaten sah das noch anders aus. Da versprach er, dafür zu sorgen, | |
dass aus der Baustelle erst gar keine Unterkunft werde und stattdessen | |
„Wohnraum für Berliner“. | |
Kurz vor dem S-Bahnhof ist der Spaziergang zu Ende. Lindemann bleibt | |
stehen. Am 27. Oktober wird es so weit sein. Dann nimmt er seine Arbeit im | |
Abgeordnetenhaus auf. Seine Augen glänzen, wenn er von diesem Tag spricht, | |
als breche er zu einer Reise auf. Es wäre nicht seine erste. Sogar im | |
Nordirak war Lindemann schon. Und in Syrien, mehrfach. Zuletzt 2012. Weil | |
er gerne dorthin reist, wo nicht alle hinfahren, meint er. Und fügt hinzu: | |
„Ich habe ja gar nichts gegen den Orient – im Orient.“ | |
26 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Kristof Botka | |
## TAGS | |
Schwerpunkt AfD in Berlin | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Berlinwahl 2016 | |
Berlin Marzahn-Hellersdorf | |
Reiseland China | |
Schwerpunkt AfD in Berlin | |
Schwerpunkt AfD in Berlin | |
Bundesverfassungsgericht | |
Schwerpunkt AfD in Berlin | |
Bettina Kudla | |
Schwerpunkt AfD in Berlin | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Schwerpunkt AfD in Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Im chinesischen Restaurant in Hellersdorf: Chop Suey und ein Hauch von Luxus | |
Rundherum ist wenig los in der Hellersdorfer Promenade, das Hui Feng aber | |
hält durch. Zhang Hua ist Chef des Chinarestaurants in prekären Lage. Sein | |
Rezept: Zuhören. | |
AfD in den Bezirken: Unbedarft und ungepflegt | |
Wer sind die Neuen von der AfD, und was bedeutet ihr Einzug in die | |
Bezirksparlamente und Rathäuser? Eine Spurensuche in Treptow-Köpenick | |
Premiere im Berliner Abgeordnetenhaus: Alle Augen auf die AfD | |
Das Berliner Abgeordnetenhaus tagt nach der Wahl im September zum ersten | |
Mal. Ganz rechtsaußen sitzen nun die 24 Abgeordneten der AfD. | |
Hartz-IV-Klagen beim Verfassungsgericht: Karlsruhe lässt nur Betroffene zu | |
Die Richter wiesen eine Verfassungsbeschwerde zu den jüngsten | |
Hartz-IV-Änderungen ab. Der Kläger habe die eigene Betroffenheit nicht | |
dargelegt. | |
AfD Berlin mit Regierungsverantwortung: Die mit der AfD tanzen | |
In Spandau lässt die CDU ein Bündnis mit der SPD platzen – profitieren | |
könnte die AfD. In sieben Bezirken erhält die Partei zudem Ämter. | |
AfD-Sympathisanten in der CDU: Durchgefallen und zurückgezogen | |
Nazi-Jargon und Likes für die AfD kosteten zwei umstrittene CDU-Politiker | |
nun ihren Posten. Ihren Hauptgegner sieht die CDU aber dennoch links. | |
Das war die Woche in Berlin II: Gute Hetzer, schlechte Hetzer | |
Die Berliner AfD wirft einen ungeliebten Rechtsradikalen aus der Partei und | |
nimmt einen prominenten Islamhasser auf. Wie passt das zusammen? | |
Wohnen im Ostberliner Randbezirk: Fremdeln in Friedrichshagen | |
Vor 15 Jahren zog der Autor in ein Idyll am See. Seit den Wahlerfolgen der | |
AfD im Osten fragt er sich, ob er da nicht etwas falschgemacht hat. | |
AfD-Fraktion in Berlin: Der erste geht schon von Bord | |
Der wegen seiner rechtsextremen Vergangenheit umstrittene Abgeordnete Kay | |
Nerstheimer verzichtet auf die Mitgliedschaft in der AfD-Fraktion. |