Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wohnen im Ostberliner Randbezirk: Fremdeln in Friedrichshagen
> Vor 15 Jahren zog der Autor in ein Idyll am See. Seit den Wahlerfolgen
> der AfD im Osten fragt er sich, ob er da nicht etwas falschgemacht hat.
Bild: Manchmal sind die Dinge nicht, wie sie scheinen: Seebad Friedrichshagen
Ein Bier in der untergehenden Herbstsonne. Die Ausflügler verlassen die
Berliner Vorstadt und schwingen sich auf ihre Räder. Sie werfen einen
letzten Blick auf den Müggelsee, wo ein paar verbliebene Segler ihre
Liegeplätze ansteuern. Die Friedrichshagener sind wieder unter sich.
Diejenigen, die immer schon in diesem hübschen Örtchen bei Köpenick gewohnt
haben, und die zugezogenen. Sie haben es schön. Seit 15 Jahren bin ich auch
einer von ihnen. Und doch gehöre ich nicht dazu. Für einen aus dem Westen
ist es schwer, Ostberliner zu werden. Vielleicht geht es auch gar nicht. Am
Montag ist der 3. Oktober zum 27. Mal Feiertag. Die deutsche Einheit hat es
immer noch nicht bis nach Friedrichshagen geschafft.
Darüber, dass Berlin nicht so recht zusammenwachsen will, ist viel
geschrieben worden in den Tagen seit der Abgeordnetenhauswahl vor zwei
Wochen. Seither frage ich mich, ob wir mit unserem Umzug an das Idyll am
Wasser nicht doch etwas falsch gemacht haben. Der Osten jedenfalls ist
AfD-blau, der Westen weniger. Auch in meiner Nachbarschaft ist jede fünfte
Stimme an die AfD gegangen.
Auf Facebook wimmelt es von Einträgen meiner Bekannten aus der Innenstadt,
vor allem aus Kreuzberg. Die freuen sich, dass in ihrem Wahllokal sogar die
Antipartei „Die Partei“ stärker war als die Blauen. Sie werden wissen, dass
das nicht ihr Verdienst ist. Und doch kann ich verstehen, wie froh sie
sind. Ihre Westberliner Welt ist heil geblieben. Sie mögen bei ihrem
Feierabendbier über den finsteren Osten schimpfen, während ich mich bei
jedem, der mir in Friedsrichshagen über den Weg läuft, frage, ob er wohl
blau gewählt hat.
Der sehr blonde junge Mann, der seit Jahren in einschlägigen Klamotten mit
Runenschrift und militaristisch anmutenden Kreuzen über den Marktplatz
schlendert, hat es gewiss nicht getan. Den habe ich vor ein paar Jahren
gesehen, wie er seine Tochter im Kinderwagen auf den Hof der
NPD-Bundeszentrale geschoben hat, wo die Nazis zum Familienfest geladen
hatten.
Er wird seiner Partei treu geblieben sein, deren Zentrale keine zwei
Kilometer von Friedrichshagen entfernt liegt. An die hat man sich gewöhnt,
genauso wie an den jungen Vater, dem jeder ansehen kann, wo er politisch
steht und der schon mal „SS, SA, Germania“ brüllend durch die nächtliche
Vorstadt zieht. Nein, er ist kein Blauwähler.
## Windeln für die Flüchtlinge
Aber die Nachbarin mit dem süßen Jungen, der mich immer so nett anlacht,
die ist vielleicht eine Blaue. Vor beinahe einem Jahr wurde bei uns in der
Straße die Turnhalle einer Schule zur Notunterkunft für Flüchtlinge. Über
Nacht waren 150 Menschen darin untergebracht worden. Darunter waren viele
Familien mit Säuglingen. Es war Sonntagvormittag und es wurden dringend
Windeln in der Notunterkunft gebraucht. Als wir bei der Nachbarin
geklingelt haben, um sie um ein paar Windeln zu bitten, hat sie zunächst
gesagt, dass sie das mit den Flüchtlingen ganz anders sehe, dass sie da
ganz woanders stehe. Sie hat den Flüchtlingen dann doch ein paar Windeln
spendiert. Ist sie vielleicht doch nicht verkehrt?
Die Notunterkunft in der Turnhalle gibt es seit ein paar Wochen nicht mehr.
Ich kann mir vorstellen, dass etliche Geflüchtete das bedauern, auch wenn
sie in den temporären Unterkünften, in die sie verlegt worden sind,
vielleicht mehr Privatsphäre haben als in der mit Stockbetten
vollgestellten Halle. In Friedrichshagen wurden sie mit Hilfe regelrecht
überschüttet. Die Kleiderkammer war nach jedem Spendenaufruf rappelvoll.
Freiwillige, gewiss auch keine Blauwähler, organisierten Sprachunterricht.
Jugendliche spielten mit den Kleinsten, an den Wochenenden wurde mit den
Jungs und jungen Männern Fußball gespielt. Ein Hauch von kultureller
Vielfalt wehte durch das Kaff. Vorbei. Die Geflüchteten sind weg.
Ein Erbe gibt es vielleicht. Das Gymnasium am Ort darf sich bald „Schule
ohne Rassismus – Schule mit Courage“ nennen. Das war kein leichter Weg. Die
Schüler, die sich schon länger dafür einsetzen, sind lange Zeit vom
Direktor ihres Gymnasiums belächelt worden. Er habe gesagt, das brauche man
nicht in Friedrichshagen, es gebe es ja gar keine Ausländer am Ort,
berichteten die Schüler.
19.000 Ausländer hat das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg im Bezirk
Treptow-Köpenick, zu dem Friedrichshagen gehört, im Juni gezählt – und
239.000 Deutsche. In diesem Ort hat nun jeder fünfte Wähler die Partei
gewählt, die von der Angst vor allem Nichtdeutschen lebt. Es ist dies ein
im Osten häufig zu beobachtendes Phänomen.
## Heute kommt noch Westbesuch
Wie an vielen Orten im Osten wird oft die DDR ins Spiel gebracht, wenn man
der Frage nachgeht, warum hier fast alles ein wenig anders ist als im
Westen. Das ist nur manchmal witzig und taugt nur selten zur Anekdote. Über
die Bekannte, die ich im Strandbad getroffen habe und die mir gesagt hat,
sie müsse schnell nach Hause und die Wohnung aufräumen, heute komme noch
Besuch aus Westberlin, haben schon viele gelacht, denen ich von der
Begegnung erzählte. Meist hinterlassen mich die Ost-West-Geschichten, die
ich in Friedrichshagen höre und aus denen oft ein Gefühl des
Herabgesetztseins spricht, indes ratlos.
Ein gutes Hörgerät? Da müsse ich schon nach Westberlin fahren, so etwas
gebe es im Osten nicht, sagt einer. Warum er das glaubt, weiß ich nicht.
Aber es passt in die Dauererzählung der Ur-Einheimischen am Ort, nach der
alles plattgemacht worden sei nach der Wende. Ich bin mir sicher, dass es
auch in Friedrichshagen echte Wendeverlierer gibt, und doch klingen die
meisten Opfergeschichten merkwürdig an einem Ort, in dem einen von den
Villen am See und auf dem Einkaufsboulevard Bölschestraße der Wohlstand
regelrecht anschreit; in dem selbst die Plattenbauten aus DDR-Zeiten so
schön aussehen, dass ich mir vorstellen kann, dort einzuziehen, wenn die
Miete im sanierten Altbau mal zu teuer für mich wird.
Sollte ich das wirklich in Erwägung ziehen? Wohnen da nicht die Nachbarn,
die der AfD ihre Stimme gegeben haben? Ich weiß es nicht. Ich bin mir aber
sicher, dass ich keine besondere Lust mehr verspüre, mir weitere
Verlustgeschichten anzuhören, die von der Schwierigkeit des Lebens in einer
Transformationsgesellschaft handeln. Mir ist in den 15 Jahren, in denen ich
nun im Südosten Berlins wohne, viel erzählt worden darüber, wie das Leben
in der DDR war, wie schwierig es in der Wendezeit war und dass es nicht
leichter geworden ist. Das hat mich lange interessiert.
## Verprügelt von Glatzen
Als mein Sohn bei uns im Bezirk von ein paar Glatzen zusammengeschlagen
worden ist, nur weil er einen Kapuzenpulli mit dem Totenkopf von St. Pauli
angehabt hat, habe ich angefangen wegzuhören, wenn mir jemand weismachen
wollte, dass das auch irgendwie mit dem Untergang der DDR zu hat. Am Ort
des Niederschlagens, ein paar Straßenbahnstationen von Friedrichshagen
entfernt, ist die AfD stärkste Partei geworden. Mein Bezirk.
Es ist schwer, den Erklärungen auszuweichen, die all das mit
Wendeverlierererfahrungen zu begründen versuchen. Der ein wenig
heruntergekommene Schlucki in der Eckkneipe hört sich da nicht viel anders
an als der ehemalige Nachbar, der seinen riesigen Audi streichelt, wenn er
über die arroganten Westler herzieht. Dabei hatte ich es immer gefälligst
als Privileg zu betrachten, dass man mir überhaupt etwas erzählt hat. Der
komme zwar aus dem Westen, sei aber trotzdem ganz in Ordnung. So wurde ich
nicht selten vorgestellt. Ich habe lange nicht gemerkt, wie beleidigend das
eigentlich ist.
Auch daran denke ich, seit ich mich frage, wer von meinen Nachbarn AfD
gewählt hat. Und ich frage mich, warum ich so selten gefragt werde, wie es
eigentlich im alten Westen war, wie meine Jugend war, wie es da ist, wo
viele meiner Freunde in München oder Berlin wohnen. Es ist eine Mauer an
Desinteresse, die die meisten in meiner Ostumgebung partout nicht
überwinden wollen.
Die Mauer ist spürbar. Wenn mir türkische Bekannte erzählt haben, sie
führen nicht gerne an den Müggelsee, dort würden sie immer so komisch
angeschaut, dann habe ich mich immer für meine Nachbarn geniert. Mit der
jüngsten Berlinwahl ist diese Scham zum alltäglichen Gefühl geworden. Und
es hilft mir gar nichts, wenn ich mir und allen anderen sage: Ich habe es
nicht getan, ich war’s nicht.
2 Oct 2016
## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
## TAGS
Schwerpunkt AfD
Wohnen
Deutsche Einheit
Tag der Deutschen Einheit
Schwerpunkt AfD in Berlin
Deutsche Einheit
Götz George
Schwerpunkt Pegida
## ARTIKEL ZUM THEMA
AfD in Berlin-Marzahn: Wo Berlin schon blau ist
Gunnar Lindemann zieht für die AfD ins Berliner Abgeordnetenhaus – mit
einem Direktmandat. In seinem Stadtteil freut das längst nicht jeden.
Rätsel zum 3. Oktober: 4 x 50 Zeilen Deutschland
Zum Tag der Deutschen Einheit eine Frage: Kennen Sie Ihr Land? Hier werden
vier Orte in vier Städten beschrieben. Wissen Sie welche? Es winkt ein
Gewinn.
Götz Georges Abschied im TV: Ein letztes Mal unter Bergmännern
Es ist der 3. Oktober und die ARD zeigt einen belanglosen Film zur
deutschen Einheit – mit Götz George in seiner letzten Rolle.
Kommentar Einheitsfeier in Dresden: Mach es, Gauck!
Eine Absage wäre der größtmögliche Erfolg für die Täter. Unbeteiligte
könnten sich verurteilt und Linke alleingelassen fühlen.
Kommentar Einheitsfeier in Dresden: Sagt das ab!
In einer Stadt, in der Pegida marschiert und der Galgen für Merkel und
Gabriel reserviert ist, soll gefeiert werden? Nein danke.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.