# taz.de -- Abtreibungen in Deutschland: Ein ideologisches Kampffeld | |
> Abtreibungsverbote wirken aus der Zeit gefallen, doch sie bestehen | |
> weiterhin, nicht nur in Polen. Selbst wenn sie das Leben der Schwangeren | |
> gefährden. | |
Bild: Öffentliche Trauer um die 30-Jährige, die in Pszczyna nach einer Fehlge… | |
Seit Tagen muss ich an dieses Demoschild denken mit der Aufschrift: „I | |
can’t believe I’m still protesting this shit.“ Eine Freundin von mir wurde | |
ungewollt schwanger. Sie ging zur Schwangerschaftskonfliktberatung und | |
bekam dort ihren Beratungsschein. Den braucht man, um in Deutschland eine | |
Schwangerschaft abzubrechen, ohne sich strafbar zu machen. Sie wartete die | |
gesetzlich vorgeschriebenen 72 Stunden Bedenkzeit ab und konnte dann erst | |
mit ihrem Schein zu ihrer Gynäkologin gehen. | |
Meine Freundin wusste nicht, ob ihre Gynäkologin überhaupt Abbrüche | |
durchführt. Seit der [1][Reform des Paragrafen 219a] dürfen Ärzt_innen zwar | |
auf ihrer Website schreiben, ob sie Abtreibungen durchführen, jedoch keine | |
weiteren Informationen bereitstellen. Doch nicht alle Gynäkolog_innen | |
informieren darüber, ob sie Abbrüche vornehmen. | |
Also fragte meine Freundin in der Praxis persönlich nach. Sie bekam keine | |
eindeutige Antwort. Die Gynäkologin druckste herum, bis sie ihre Patientin | |
schließlich per Unterschall untersuchte. Manchmal führe sie Abbrüche durch, | |
erklärte die Ärztin, doch in diesem konkreten Fall wolle sie es nicht tun: | |
„Es gibt schon einen Herzschlag. Ich persönlich finde, es ist zu spät.“ | |
Mit eine Freundin war in der achten Woche schwanger. Und zwar nicht im | |
US-amerikanischen Bundesstaat Texas, sondern in Berlin-Kreuzberg. Abbrüche | |
stehen in Deutschland bis zur 12. Schwangerschaftswoche nicht unter Strafe. | |
Aber die Einschätzung ihrer Ärztin hatte nichts mit dem Gesetz zu tun. Es | |
war auch keine medizinische Einschätzung. Es war eine persönliche. Eine, | |
nach der niemand gefragt hatte. | |
## Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung betrifft alle | |
Abtreibung ist und bleibt ein ideologisches Kampffeld. Selbst wenn Menschen | |
mit Uterus hierzulande deutlich mehr Optionen haben, eine ungewollte | |
Schwangerschaft abzubrechen als in vielen anderen Ländern, wird es ihnen | |
dennoch unnötig schwer gemacht. Wer beispielsweise die | |
Schwangerschaftskonfliktberatung googelt, kriegt unter den ersten Treffern | |
das Angebot der Caritas angezeigt – den für den Abbruch nötigen Schein | |
stellt der katholische Verband am Ende des Gesprächs natürlich niemandem | |
aus. | |
Wer wiederum schwer krank im Krankenhaus landet, darf damit rechnen, dass | |
lebensrettende Maßnahmen nicht durchgeführt werden, falls sie den Embryo | |
gefährden könnten. | |
Sowie kürzlich in Polen. Eine 30-Jährige in Pszczyna starb nach einer | |
Fehlgeburt, da Ärzt_innen sich geweigert hatten, den schwer geschädigten | |
Fötus abzutreiben. Die Journalistin [2][Sibel Schick erzählt in ihrer | |
aktuellen nd-Kolumne] von einer ähnlichen Erfahrung – allerdings in einem | |
deutschen Krankenhaus. Ärzt_innen durften ihre beidseitige | |
Lungenarterienembolie nicht per Strahlung untersuchen, weil sie schwanger | |
war. Dass Schick sowieso abtreiben würde, änderte nichts daran. Sie wurde | |
tagelang nicht behandelt, obwohl die Krankheit eine Sterberate von 30 | |
Prozent hat – sie hätte sterben können, weil die Aufrechterhaltung ihrer | |
ungewollten Schwangerschaft Priorität für die Ärzt_innen hatte. | |
Solche Geschichten sollten uns zu denken geben. Das Abtreibungsverbot in | |
Polen oder das [3][Herzschlag-Gesetz in Texas] mögen weit weg und aus der | |
Zeit gefallen wirken. Doch sie sind es nicht. Diese Verbote sind ein | |
Merkmal unserer Zeit, und die Motivationen, aus denen sie entstehen, sind | |
weiter verbreitet als viele glauben wollen. Trotz De-facto-Straffreiheit | |
sind Abtreibungen nach dem Strafgesetzbuch immer noch rechtswidrig. Ein | |
Skandal, der immer wieder benannt werden muss. | |
Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung betrifft uns am Ende alle, weil | |
es ein Grundpfeiler der Gleichberechtigung ist. Wir müssen es immer wieder | |
aufs Neue verteidigen, wenn auch mit dem inneren Mantra: I can’t believe | |
I’m still protesting this shit. | |
5 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Juristin-ueber-die-Neuregelung-von--219a/!5599084 | |
[2] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158034.schwangerschaftsabbrueche-ein-wor… | |
[3] /Neues-Abtreibungsgesetz-in-Texas/!5805745 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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