# taz.de -- 50 Jahre Türkinnen in Deutschland: Çok yaşa, CDU! | |
> Zum 50. Jahrestag des Einwanderungsabkommens mit der Türkei hier mal ein | |
> überfälliges Lob: Danke, CDU! | |
Bild: Nicht zu viel verlangen: Deutsche Konservative sind eben auch nur Deutsch… | |
BERLIN taz | Die meisten Deutschtürken sind erwiesenermaßen | |
stockkonservative Knochen. Dennoch halten es gut 90 Prozent der 700.000 | |
wahlberechtigten Deutschtürken mit der SPD, den Grünen oder der | |
Linkspartei. Nicht von ungefähr, darf die westdeutsche Linke - von den | |
Gewerkschaften, die von Anfang darauf bestanden, dass die Neuankömmlinge in | |
arbeits-, sozial- und tarifpolitischer Hinsicht den Einheimischen | |
gleichgestellt wurden, bis zu den Revolutionären Zellen, die auf ihre Weise | |
Kritik an Ausländer- und Asylpolitik vortrugen - doch beanspruchen, sich | |
der Sache der Einwanderer halbwegs angenommen zu haben. | |
Doch 50 Jahre nach dem Anwerbevertrag mit der Türkei ist es Zeit, jene | |
Partei zu würdigen, die ebenfalls manches Verdienst erworben hat, ohne je | |
viel Tamtam zu machen - zuweilen sogar ohne sich der Tragweite des eigenen | |
Tuns bewusst zu sein. | |
Es war die CDU, die die Einwanderer ins Land holte. Dabei gab es 1954, ein | |
Jahr bevor die Adenauer-Regierung das erste Abkommen mit Italien | |
unterzeichnete, 7,6 Prozent Arbeitslose. Die Quote aber sank, trotz des | |
Zustroms von Arbeitskräften aus der DDR; mit den Gastarbeitern sollten das | |
Arbeitskräftereservoir vergrößert, Lohnzugeständnisse verhindert werden. | |
Auch wegen dieses präventiven Lohndumpings lehnten SPD, Gewerkschaften | |
sowie der Arbeitnehmer- und der Vertriebenenflügel der Union die Anwerbung | |
ab. | |
Die Alternative wäre gewesen, in strukturschwache Gebiete zu investieren | |
und einen neuen Rationalisierungsschub einzuleiten. Beides aber scheute das | |
deutsche Kapital, weshalb dessen Gewährsleute in der Bundesregierung, allen | |
voran Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, die Anwerbung durchsetzten. Ob | |
sich das Ganze für jene, die kamen und blieben, deren Kinder und | |
Kindeskinder gelohnt hat, kann nicht einmal jeder Betroffene für sich mit | |
Gewissheit beantworten. Gelohnt hat es sich allemal für die Entsendeländer | |
- und für Deutschland. Nicht nur in der volkswirtschaftlichen | |
Gesamtrechnung, sondern auch, weil die Gastarbeiter jedem Deutschen den | |
sozialen Aufstieg ermöglichten. Bedeutender war, dass die Gastarbeiter dazu | |
beitrugen, Deutschland undeutscher zu machen - eingedenk dessen, wofür | |
Deutschsein in den vorangegangen Jahrzehnten gestanden hatte, eine | |
zivilisatorische Großtat. | |
Anfang 1973, es lebten bereits 3,5 Millionen Ausländer im Land, sprach | |
SPD-Kanzler Willy Brandt davon, dass "die Aufnahmefähigkeit unserer | |
Gesellschaft erschöpft" sei. Ähnliches hatte Erhard schon 1965 gesagt und | |
danach trotzdem noch ein letztes Abkommen mit Jugoslawien unterzeichnet. | |
Die sozialliberale Regierung hingegen handelte: Sie verhängte im November | |
1973 einen Anwerbestopp. | |
## Freundlich war die "Rausschmisspolitik" nicht | |
Dennoch stieg die Zahl der Einwanderer stetig; die Gastarbeiter holten ihre | |
Familien nach, und immer mehr Mensch kamen als Asylbewerber. Eine Idee der | |
Schmidt-Regierung wurde erst unter Helmut Kohl verwirklicht: 1983 beschloss | |
man, Rückkehrwilligen die Arbeitnehmerbeiträge in die Rentenversicherung | |
auszahlen, und lobte zusätzlich für arbeitslose Ausländer eine | |
Rückkehrprämie von 10.500 D-Mark aus. 140.000 Menschen, darunter 120.000 | |
Türken, nahmen das Angebot an. Freundlich war dieses als | |
"Rausschmisspolitik" kritisierte Gesetz nicht. Aber immerhin unterzog die | |
Kohl-Regierung die Annahme über den temporären Charakter der Einwanderung | |
einem Praxistest. Nur wollte sie nicht begreifen, dass die Übrigen bleiben | |
würden. | |
Immerhin ahnte man, dass etwas passieren musste: "Es ist auf Dauer mit dem | |
Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaates unvereinbar, dass ein | |
bedeutender Teil der Bevölkerung über Generationen von der politischen | |
Mitgestaltung und der vollständigen Gleichstellung mit den anderen Bürgern | |
ausgeschlossen ist", erklärte die Bundesregierung 1984. Die Konsequenz | |
daraus zog sie nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1990, das | |
das in Schleswig-Holstein und Hamburg eingeführte kommunale | |
Ausländer-Wahlrecht kassiert, aber eine Reform des | |
Staatsbürgerschaftsrechts angemahnt hatte. | |
Einbürgerung war seit dem Kaiserreich ein Ausnahmefall, der nur in Betracht | |
kam, wenn "öffentliches Interesse" vorlag. Es war die Kohl-Regierung, die | |
damit aufräumte und unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf | |
Einbürgerung gewährte. Das Gesetz von 1991 war eine Zäsur. Die CDU war | |
endlich dem dritten Teil ihres Credos ("Zuzug verhindern, Rückkehr fördern, | |
Integration") nachgekommen, war sich aber, wie schon bei der Unterzeichnung | |
der Anwerbeverträge, wohl abermals nicht bewusst, was sie da eigentlich | |
beschlossen hatte. Das würde jedenfalls erklären, warum Rot-Grün | |
unwidersprochen das alleinige Copyright auf die Reform des | |
Staatsbürgerschaftsrechts beanspruchen kann. | |
Auch aus einem weiteren Grund wurde von dieser Reform kaum Notiz genommen. | |
Das einwanderungspolitische Thema jener Zeit war die von der CDU | |
angezettelte hysterische Debatte um steigende Asylbewerberzahlen, die erst | |
in den Pogromen von Hoyerswerda 1991 und Rostock 1992, dann in den | |
Mordanschlägen von Mölln und Solingen mündeten. Und hier ließ die | |
Bundesregierung jede Empathie vermissen. So zeigte sich auf der Trauerfeier | |
für die Opfer von Solingen allein Außenminister (!) Klaus Kinkel (FDP), der | |
dort vorrechnete, wie viele Steuern und Abgaben die hiesigen Türken | |
leisteten. Es war als Argument gemeint, sie nicht totzuschlagen, kam aber | |
eher nicht gut an. | |
## Kriterium: Sprachkenntnis | |
Dennoch beantragten im Folgenden Hunderttausende die deutsche | |
Staatsbürgerschaft - und bekamen sie, ohne dass jemand ihre Sprach- und | |
Geschichtskenntnisse abgefragt hätte. Diese Hürde wurde erst mit dem | |
rot-grünen Staatsbürgerschaftsgesetz von 2001 eingeführt; viele der 400.000 | |
Türken, die zwischen 1991 und 2000 die deutsche Staatsbürgerschaft bekamen, | |
würden heute wohl nicht mehr eingebürgert. | |
Nun mag es sinnvoll sein, Einbürgerung an Kriterien wie den Erwerb der | |
Sprache zu binden. Schäbig aber war es, derlei Qualifikationen auch | |
Einwanderern der ersten Stunde abzuverlangen, bei deren Anwerbung man sich | |
allein dafür interessiert hatte, ob sie gesund und arbeitstauglich waren. | |
Rot-Grün erschwerte die Einbürgerung noch zusätzlich, als die Hintertür zum | |
Doppelpass für ältere Einwanderer, die die Kohl-Regierung geduldet hatte, | |
geschlossen wurde. Die Zahl der jährlichen Einbürgerungen sinkt seither. | |
Die Einschränkung des Abstammungsprinzips durch das von Rot-Grün | |
eingeführte Optionsmodell war praktisch weit weniger bedeutend als | |
ideologisch. In der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft wurde | |
endgültig geklärt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Trotz des | |
befremdlich herrischen Tonfalls, den die Debatte zuweilen annahm, zweifelt | |
heute daran niemand mehr. | |
## Ressentimentgeladene Unterschriftenkampagne | |
Der erste, wenig rühmliche Beitrag der CDU zu dieser Debatte war eine | |
ressentimentgeladene Unterschriftenkampagne, zu der Roland Koch die Partei | |
trieb. Ehrenwerter waren da schon die von Angela Merkel einberufenen | |
symbolischen Plauderrunden ("Integrationsgipfel", "Islamkonferenz") oder | |
die Berufung der Deutschtürkin Aygül Özkan zur ersten Landesministerin. | |
Eine noch bessere Idee hätte das Wort von der "Leitkultur" sein können, das | |
Friedrich Merz im Jahr 2000 in die Diskussion brachte. Es hätte in | |
Erinnerung rufen können, dass politische und rechtliche Gleichberechtigung, | |
Bildung und sozialer Aufstieg eben nicht alles sind, und so eine Antwort | |
auf den im linksalternativen Milieu verbreiteten Hang zur | |
kulturrelativistischen Schönfärberei sein können. | |
Dumm nur, dass Merz und viele andere von "Kultur" redeten, wo es um | |
Zivilisation gehen müsste. Noch heute meinen auch in der Union viele, wenn | |
sie Grundgesetz sagen, eigentlich etwas anderes. Darauf zu insistieren, | |
dass bürgerliche Rechte und Freiheiten - beispielsweise das Recht auf | |
sexuelle Selbstbestimmung - auch innerhalb der Einwandercommunitys zu | |
gelten haben, ist etwas anderes, als von den Einwanderern zu verlangen, | |
sich für Bratwurst und Schiller, für Schäferhunde und Karneval zu | |
begeistern. Aber man sollte nicht zu viel verlangen. Deutsche Konservative | |
sind eben auch nur Deutsche. | |
Deniz Yücel, Redakteur im Schwerpunkt-Ressort der taz, 37, kam ein paar | |
Wochen vor dem Anwerbestopp als Kind türkischer ArbeiterInnen im | |
südhessischen Flörsheim zur Welt. | |
1 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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