# taz.de -- 50 Jahre TürkInnen in Deutschland: "Ich staunte, dass sie kamen" | |
> Nach dem Mauerbau 1961 fehlten bei Siemens in Berlin 4.300 Arbeiter. | |
> Joachim Putzmann warb für den Konzern Gastarbeiter an. Eine | |
> Erfolgsgeschichte. | |
Bild: "Wir haben uns auch um Wohnraum für die Gastarbeiter gekümmert", sagt J… | |
taz: Herr Putzmann, Sie müssen sich noch gut an den 14. August 1961, den | |
Tag nach dem Mauerbau, erinnern. | |
Joachim Putzmann: Ja - das war ein schwerer Tag, persönlich wie beruflich. | |
Zunächst zum Privaten: Sie sind gebürtiger Berliner. | |
Ja. Für mich war die Teilung ein Albtraum. Wir hatten viele Freunde in | |
unserem Ruderverein, die aus Brandenburg kamen. Und plötzlich sollten wir | |
nun Feinde sein. | |
Und beruflich? | |
Ich war 30 Jahre alt und Vertriebskaufmann im Siemens-Werk für Messtechnik | |
und Disponent für die Fertigung, also Verbindungsmann zwischen den | |
Vertrieben und den Werken. Am 14. August fehlten uns bei Siemens in Berlin | |
4.300 Arbeitskräfte, beinahe zehn Prozent unserer Beschäftigten. | |
Wer fehlte denn? | |
Das waren Leute aus Ostberlin und aus der Mark Brandenburg. Siemens hatte | |
ja dort schon vor dem Krieg Siedlungen gebaut für seine Beschäftigten, in | |
Falkenhöhe und in Weststaaken. Das wurde dann plötzlich als Teil der DDR | |
abgetrennt, die konnten nicht mehr zur Arbeit kommen. Und viele haben in | |
Ostberlin gewohnt und in Westberlin gearbeitet. Die waren plötzlich weg. | |
Wie hat Siemens reagiert? | |
Wir haben Produktgebiete aufgegeben, die mit dem Kerngeschäft nichts zu tun | |
hatten. Dazu gehörte die Radioproduktion und Geräte, die nicht mit dem | |
Anlagenbau, mit der Elektrizitätserzeugung oder mit Industrieprozessen | |
zusammenhingen. Das konnten wir an kleinere Firmen abgeben. Dann ging es um | |
die Frage: Wie füllen wir die frei gewordenen Arbeitsplätze wieder auf? Es | |
war August, im September war bei uns Geschäftsjahresschluss - da gab es | |
Druck, unseren Umsatz schaffen zu müssen. Deshalb bin ich am 20. August | |
1961 mit dem Personalchef im Auto losgefahren ins damals noch existierende | |
Jugoslawien. | |
Warum auf den Balkan? | |
Jugoslawien hatte sich damals bereits aus dem Ostblock gelöst. Und wir | |
hatten dort eine Firma, mit der wir Montagen machten, Kraftwerke und | |
Industrieanlagen. Da sind wir hin und haben gesagt: Bitte bitte, könnt ihr | |
uns dreißig Monteure zur Verfügung stellen, damit wir unsere Aufträge | |
erfüllen können? | |
Konnten die denn einfach auf Leute verzichten? | |
Einfach war das nicht: Wir mussten zwei Wochen lang verhandeln. Dann hat es | |
geklappt. Es brachte denen ja Devisen. | |
Warum haben Sie nicht Arbeitskräfte aus der Bundesrepublik geholt? | |
Die Firma konnte nicht einfach einem Werk in Westdeutschland Arbeitskräfte | |
wegnehmen. Dann hätten die ihre Produktion nicht fertig gekriegt. Und es | |
gab ja damals kaum Arbeitslosigkeit. Zudem gab es bei vielen auch Angst, | |
nach Berlin zu gehen. | |
Wovor hatten die denn Angst? | |
Vor dem Eingesperrtsein hier und der ständigen Bedrohung Westberlins. | |
Die Bundesrepublik hatte damals bereits Anwerbeverträge mit anderen Ländern | |
geschlossen. | |
Ja, aber die galten für Berlin zunächst nicht. Der Senat ist denen nicht | |
sofort beigetreten. | |
Warum denn nicht? | |
Durch den Bau der Mauer waren ja auch Tausende Westberliner daran gehindert | |
worden, nach Ostberlin zur Arbeit zu fahren - mein Vater gehörte dazu. Die | |
sollten zunächst auf dem Westberliner Arbeitsmarkt untergebracht werden. | |
Und es gab die Wohnungsnot: Es war ja erst in den Fünfzigerjahren mit dem | |
sozialen Wohnungsbau angefangen worden. Die Leute lebten teilweise noch in | |
halben Ruinen. Neue Leute hätte man kaum unterbringen können. Erst im | |
Januar 1963 hat der Senat eingesehen, dass es so nicht weitergehen kann. Er | |
hat dann die Anwerbung unter Auflagen freigegeben. Wir hatten bei Siemens | |
aber schon Ende 1961 400 ausländische Arbeitskräfte. | |
Auf welcher rechtlichen Grundlage denn, wenn Berlin den Anwerbeverträgen | |
noch gar nicht zugestimmt hatte? Die brauchten ja Arbeitsgenehmigungen. | |
Ja, das war schwierig. Wir hatten in diesen Ländern unsere eigenen | |
Vertretungen. Die haben sich bemüht, dort Leute zu finden. Dann haben wir | |
Verträge gemacht, die uns das Land Berlin genehmigt hat, immer nur | |
befristet für ein Jahr. Ende 1962 gab es schon etwa 5.000 ausländische | |
Arbeitskräfte in der Stadt - nicht nur bei Siemens. | |
Haben Sie damals geglaubt, dass eine Rotation stattfinden würde? Dass die | |
Leute nach zwei, drei Jahren aus Deutschland wieder weggehen? | |
Nach den entsetzlichen Jahren der Nazidiktatur war ich der Meinung, | |
Ausländer würden hier nicht auf Dauer leben wollen. Ich habe sogar | |
gestaunt, dass sie überhaupt kamen und uns ja letztlich geholfen haben - | |
nach all dem Unheil, für das wir Deutschen verantwortlich waren. | |
Mit der offiziellen Möglichkeit zur Anwerbung stiegen die Zahlen dann | |
jedoch an, oder? | |
Berlin musste weiter um Arbeitskräfte werben. Es war nicht so, dass die | |
alle unbedingt herkommen wollten. Da gab es Angst vor der Fremde, auch | |
Angst vor Berlin. Die Italiener und Spanier gingen lieber nach | |
Westdeutschland. Die spanische Regierung hatte gesagt: Um Gottes Willen | |
nicht nach Berlin, das liegt ja mitten im Roten Meer. Der Senat hat damals | |
doppelstöckige Omnibusse in die Türkei geschickt, um Arbeitskräfte | |
anzuwerben. | |
Wie hat Siemens um seine Arbeitskräfte geworben? | |
Zum Beispiel mit speziellen Postkarten, die die ausländischen Arbeitnehmer | |
als Grüße in die Heimat schicken konnten. Die Portokosten übernahm der | |
Betrieb. Auf einer war eine orthodoxe Kirche in Berlin, auf der anderen die | |
Moschee in Wilmersdorf, die es schon seit den Dreißigerjahren gab. Damit | |
sollte denen zu Hause gezeigt werden: Habt keine Angst, kommt her! Ihr seid | |
hier willkommen. | |
Und wie kamen die Betriebe mit den neuen KollegInnen klar? | |
Überwiegend gut, doch es gab auch Reibungspunkte. Etwa, weil wir den | |
ausländischen Arbeitskräften den vollen Lohn zahlten, obwohl sie anfangs | |
oft den Akkord nicht schafften. Das knirschte natürlich ein bisschen. Aber | |
wir wollten die Leute ja halten. Wir haben uns auch um Wohnraum gekümmert. | |
In Siemensstadt wurde das Verwaltungsgebäude des Elektromotorenwerks zu | |
einem Wohnheim umgebaut. Auch Arbeitnehmer aus Westdeutschland musste man | |
bei der Wohnraumbeschaffung behilflich sein. Das war oft Grund für ein | |
Spannungsverhältnis zu den Einheimischen: Die da, um die kümmert ihr euch, | |
und wir hier interessieren euch nicht, hieß es oft. | |
Also Neid? | |
Ja, das ist ja auch normal. | |
Wie ging es denn weiter, als wirklich viele GastarbeiterInnen, auch | |
türkische, kamen? | |
Wir haben sogleich angefangen, soziale Betreuung anzubieten, haben uns um | |
die Kinder gekümmert, Berufsausbildungen angeboten. Wir haben uns bemüht, | |
sie den deutschen Arbeitskräften gleichzustellen. Und das ist auch | |
gelungen. Schon Ende der Siebzigerjahre war der größte Teil der Mitarbeiter | |
in den Werkstätten des Hausgerätewerks ausländischer Herkunft. Da war dann | |
auch ein Betriebsrat Türke. | |
Haben Sie zu Beginn der Anwerbung damit gerechnet, wie die Einwanderung | |
Berlin verändern würde? | |
Nein, das war damals überhaupt noch nicht abzusehen. | |
1 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Deniz Yücel | |
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