# taz.de -- 50 Jahre TürkInnen in Deutschland: Küsse und Entschuldigungen | |
> Die meisten Deutschen glauben immer noch gern, EinwanderInnen seien | |
> minderwertig. Und verdienten nicht einmal, dass man ihnen höflich und | |
> respektvoll begegnet. | |
Bild: So leicht wie bei den Flaggen ist die Annäherung zwischen Deutschen und … | |
Zwei Küsse und eine Entschuldigung waren der Anfang meiner journalistischen | |
Begegnungen mit türkischen EinwanderInnen. Mein erster Auftrag führte mich | |
in den Achtzigern in ein Bottroper Mädchenzentrum. Die türkeistämmigen | |
Mädchen dort überraschten mich durch vertrauensvolle Offenheit, | |
liebevoll-fröhlichen Umgang miteinander und mit mir. Ich fühlte mich fremd. | |
Und gut aufgehoben. | |
Dann kam eine Nachzüglerin dieser Runde. Mit Wangenküsschen grüßte sie die | |
Anwesenden - mich eingeschlossen, um sich dann zu entschuldigen: "Oh, | |
Verzeihung, Sie sind ja Deutsche!" | |
Eine symptomatische Begegnung: Die Entschuldigung bezog sich auf die von | |
ihr angenommene (kulturell begründeten) Übertretung der (ebenso kulturell | |
begründet) anderen Grußgewohnheiten und auch anderen Grenzen von zulässiger | |
Nähe bei mir, der Deutschen. Ein, so ein Fachwort, interkulturelles | |
Missverständnis, das durch den taktvollen Satz des Mädchens behoben werden | |
konnte. | |
## Es braucht Takt | |
Takt und Höflichkeit sind sicher gute Grundlagen für einen im Wortsinn | |
zivilen und menschlichen Umgang miteinander und wären damit auch heute noch | |
ein großer Fortschritt im deutschen Diskurs über "Integration". | |
Doch ist das genug? Höflich, sogar respektvoll mag man problemlos zu seiner | |
türkeistämmigen Haushaltshilfe, dem arabischen Gemüsehändler sein. Ein | |
Gespräch auf Augenhöhe ist das nicht automatisch. Das verhindern | |
Machtstrukturen, die mit gutem Benehmen nicht zu überwinden sind. Dies | |
bräuchte neben Takt die Bereitschaft, sich als gleich, gleichwertig und | |
gleichberechtigt anzuerkennen. | |
## "Sie" müssen wie "wir" werden | |
Keine Ahnung, von wem der Satz stammt: "Jeder Mensch, der in den Spiegel | |
blickt, sieht einen Menschen - nur der Deutsche sieht einen | |
Herrenmenschen." Eine Zuspitzung und Verallgemeinerung, die ich mir nicht | |
anmaßen würde; doch tatsächlich ist der deutsche Diskurs über und mit | |
Einwanderern heftig geprägt von dem Glauben an deren Minderwertigkeit. | |
"Sie" müssen wie "wir" werden, wollen sie Anerkennung haben: | |
Erzkonservative, von der Mehrheit der EinwanderInnen selbst kritisierte | |
Traditionen wie Zwangsverheiratung etwa werden zu typischen Ausformungen | |
türkischer Kultur stilisiert. Einwanderern, die an solchen Praktiken Kritik | |
üben, wird attestiert, sie seien eben schon so deutsch geworden, dass sie | |
diese archaischen Eheanbahnungsgewohnheiten zu kritisieren vermögen. | |
Ein solches Urteil ist tatsächlich eine Taktlosigkeit, mehr noch, eine | |
Unverschämtheit: Es kultiviert nur das rassistische Bild vom wilden Fremden | |
und dem zivilisierten Deutschen. Dass ein Großteil zivilgesellschaftlicher | |
Errungenschaften einst selbst erst nach Deutschland importiert werden | |
musste - teils mit, teils gegen den Willen der Eingeborenen - wird sehr | |
gern ignoriert. | |
Vermutlich war auch die Entschuldigung der jungen Türkin in jenem | |
Mädchenzentrum ein Zeichen dieser Machtstruktur: Selbst respektvolle | |
Hinnahme ihrer Gewohnheiten konnte sie von mir, der Deutschen, weder | |
voraussetzen noch verlangen. Die Wangenküsschen sind längst integriert in | |
deutsche Umgangsformen. Der Rest hat sich leider kaum geändert. Dafür wäre | |
eine Entschuldigung fällig. | |
1 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Deniz Yücel | |
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