| # taz.de -- 50 Jahre Türkinnen in Deutschland: "Mit Heirat war ja nicht zu rec… | |
| > Schriftstellerin Hatice Akyün wollte es von ihrem in der Türkei | |
| > aufgewachsenen Vater wissen: Hat ihn die Einwanderung verändert? Wie | |
| > sieht er sein Leben - und das seiner Kinder? | |
| Bild: "Ein Kind an die Selbstständigkeit zu verlieren, das musste ich erst ler… | |
| Sie trafen sich in ihrer alten neuen Heimat, Duisburg: Eine Woche lang, | |
| Abend für Abend, tauschte sich die Schriftstellerin Hatice Akyün mit ihrem | |
| Vater Rafet Akyün, Bergmann, aus. Ihr Thema: Was ihre Familie zusammenhält. | |
| Hatice Akyün: Baba, erinnerst du dich noch an die Geschichte mit dem | |
| Traktor? | |
| Rafet Akyün: Ich ließ dich damit fahren, obwohl das in unserem Dorf reine | |
| Männersache war. | |
| Es war eine Revolution! Ich war zwölf Jahre alt, wir waren in den Ferien in | |
| der Türkei, und du sagtest, nimm den Traktor und fahr Wasser holen. Die | |
| anderen sind fast durchgedreht. | |
| Ich dachte, du musst das auch mal ausprobieren. Und das Wasserholen hast du | |
| ja geschafft, nur den Weg zurück hast du nicht mehr gefunden. | |
| Das war so peinlich. Ich habe mich verfahren und einen Mann gefragt: Wo ist | |
| denn das Feld von Rafet Akyün? Der hat mich für sehr dumm gehalten. Jeder | |
| weiß, wo sein Feld liegt. Bis heute lachen die mich aus. | |
| Aber du hast etwas daraus gelernt, nämlich, dass ich dir vertraue. Und dass | |
| du lernen sollst. Das Wichtigste, was du einem Kind hinterlassen kannst, | |
| ist Bildung. Geld und Reichtum, das alles kommt und geht. Bildung ist | |
| unvergänglich. | |
| Trotzdem war es euch nicht wichtig, auf was für eine Schule wir kommen. Zu | |
| meiner Schulzeit haben die Lehrer festgelegt, dass alle Türkenkinder auf | |
| die Hauptschule gehen. | |
| Wir wussten damals überhaupt nicht, was der Unterschied zwischen einer | |
| Hauptschule und dem Gymnasium war. | |
| Das wäre mal ein sinnvoller Schritt in Richtung Integration gewesen, den | |
| Eltern diese Unterschiede zu erklären. Dann wären viele Lebenswege ganz | |
| anders verlaufen. Aber viele waren so wie du, mit einer Hörigkeit gegenüber | |
| deutschen Behörden. | |
| Das war keine Hörigkeit, sondern Respekt. Ich hatte ja bei der ärztlichen | |
| Untersuchung in der Türkei, bei der die deutschen Behörden die Tauglichkeit | |
| der Gastarbeiter geprüft haben, die deutsche Genauigkeit kennengelernt. | |
| Deshalb war ich mir sicher, dass in diesem Land alles ein funktionierendes, | |
| durchdachtes System haben muss. | |
| Wie kamst du darauf, nach Deutschland zu gehen? | |
| Viele Männer gingen damals hierher, um zu arbeiten. Dann kamen sie zurück | |
| und schmissen mit Geld nur so um sich. Es war kaum zu glauben. Ich wollte | |
| sehen, wie das funktioniert. | |
| In ein Land, dessen Sprache du nicht sprichst? Als was wolltest du | |
| arbeiten? Du hattest außer Feldarbeit keinen Beruf gelernt. | |
| Man erzählte sich, das Geld liege hier auf der Straße, man müsse es nur | |
| aufheben! Ich ahnte schon, dass es einen Haken geben würde. Aber ich war | |
| jung, gesund und dachte, ich schaffe das schon. Erst mal musste man zur | |
| Musterung. Das war die größte Hürde. Man wurde schon abgelehnt, wenn einem | |
| Zähne fehlten. Und es war eine große Schande, wenn man in sein Dorf | |
| zurückkehren musste. Man war gleich nicht mehr heiratstauglich in den Augen | |
| der anderen. Bei der Musterung 1969 waren wir 100. Nur 47 haben es nach | |
| Deutschland geschafft. Ich habe dann in Duisburg im Bergbau gearbeitet. | |
| Wir kamen drei Jahre später nach, 1972. Dabei wolltest du eigentlich gar | |
| nicht bleiben. | |
| Mein Plan war, etwas Geld zu verdienen, um ein Haus in der Türkei zu bauen | |
| und einen Traktor zu kaufen. Als uns hier "vermögenswirksame Leistungen" | |
| (in den Siebzigern populäre, tarifvertraglich geregelte Sonderzahlungen an | |
| Arbeitnehmer in einen Fonds, d. Red.) angeboten wurden, dachte ich noch: So | |
| lang, wie die Mindestlaufzeit sein soll, bleiben wir doch gar nicht! | |
| Als Kinder haben wir immer auf gepackten Koffern gesessen. Die schöne | |
| Kaffeemaschine blieb unausgepackt auf dem Schrank, neben dem guten Geschirr | |
| und dem funkelnagelneuen Fernseher. Alles war für "zu Hause" bestimmt. Eure | |
| Unschlüssigkeit machte es mir schwer, mich in Deutschland einzuleben. Ich | |
| wusste nicht mal, ob wir lange genug bleiben, um Freundschaften aufzubauen. | |
| Hast du dir je überlegt, wie wir Kinder uns fühlten? | |
| Natürlich, aber wie hätte ich euch die Sicherheit geben können, die ich | |
| selbst nicht hatte? Deine Mutter und ich waren ja überzeugt, dass wir nicht | |
| lange bleiben würden. Euch haben wir deshalb auch sehr türkisch und mit der | |
| türkischen Sprache erzogen. Wir wollten nicht, dass ihr euch in der Türkei | |
| fremd fühlt oder eure Großeltern nicht mehr versteht. | |
| Habt ihr deshalb nie versucht, richtig Deutsch zu lernen? Weil ihr dachtet, | |
| dass ihr Deutschland bald verlasst? | |
| Ich bekam einen vierwöchigen Deutschkurs, danach lernte ich, mich | |
| durchzuschlagen. | |
| Erstaunlich, bei dem, was sie dir da beigebracht hatten … | |
| Ja, meinen Namen, meine Adresse und die Geburtsdaten aller | |
| Familienangehörigen. Das kann ich bis heute fehlerfrei aufsagen. | |
| Ja, und uns hast du es auch beigebracht. Ich konnte die Hausnummer fünf nie | |
| richtig aussprechen und habe immer "tüv" gesagt, was du mir bis heute | |
| vorhältst. | |
| Ich hatte Sorge, dass du es nie lernst! | |
| Ich war drei Jahre alt! Mutter weigert sich immer noch, Deutsch zu lernen. | |
| Ihr Argument: Vater hat 30 Jahre Steuern gezahlt, ohne ein Wort Deutsch zu | |
| sprechen, das hat auch niemanden gestört. Du hast aber viel Wert darauf | |
| gelegt, dass wir Deutsch lernen. | |
| Anfangs dachte ich, es ist gut, wenn ihr mit einer zweiten Sprache in die | |
| Heimat zurückkehrt. Die Leute sollten euch nicht für ungebildet halten. | |
| Dann hatten wir einen Hodscha in der Moschee, der sagte uns immer, dass wir | |
| Deutsch lernen müssen, um uns wehren zu können. Also solltet ihr Kinder | |
| Deutsch lernen, um es leichter zu haben als wir. | |
| Noch heute in der dritten Generation gibt es Kinder, die Deutsch nicht | |
| beherrschen. | |
| Aber nicht, weil sie dumm sind. Es liegt an den Familien, sie kümmern sich | |
| nicht genug um ihre Kinder. Manche denken auch, mein Kind schafft das | |
| sowieso nicht. Vertrauen in die Kinder ist sehr wichtig. Wie sollen Kinder | |
| an sich selbst glauben, wenn die eigenen Eltern das nicht tun? Die Eltern | |
| sollten ihre Kinder so früh wie möglich in den Kindergarten schicken. | |
| Wenn es nach unserer Mutter gegangen wäre, wären wir nie aus dem Haus | |
| gekommen. Wir waren nicht im Kindergarten. | |
| Ja, und als du deine Ausbildung angefangen hast, hat sich deine Mutter | |
| Sorgen gemacht, was die anderen Frauen in der Moschee zu ihr sagen. Bei uns | |
| musste eine Frau nicht arbeiten, der Mann musste genug verdienen, um seine | |
| Familie zu ernähren. | |
| Aber wir leben doch nicht mehr im anatolischen Dorf! | |
| Das war schon immer deine Schwäche, meine Tochter: Du bist zu ungeduldig | |
| und lässt niemanden ausreden. Wir haben damals so gedacht, weil wir nichts | |
| anderes kannten! Dass sich das verändert hat, dass die Welt sich ändert, | |
| ist mir nicht nur bewusst, ich finde es auch gut. Jeder Mensch, egal ob | |
| Frau oder Mann, sollte finanziell auf eigenen Füßen stehen. | |
| Mein alter, anatolischer Vater ist ein Befürworter der Emanzipation? | |
| Das hat doch nicht nur mit Emanzipation zu tun. Was ist, wenn der Ehemann | |
| krank wird oder stirbt? Jede Frau sollte einen Beruf haben, damit sie nicht | |
| von ihrem Mann abhängig ist. Damit die Kinder versorgt sind. | |
| Dir hat es Spaß gemacht, mich in der Schule zu unterstützen. Auch wenn du | |
| mir bei den Hausaufgaben nicht helfen konntest, hast du mir die | |
| Bild-Zeitung zur Weiterbildung mitgebracht. | |
| Die las man eben im Bergbau. | |
| Ich freute mich über deinen Versuch, mich zu fördern. Bei meinen türkischen | |
| Freundinnen hieß es meist: "Wozu Bildung? Du heiratest doch sowieso!" | |
| Mit einer Heirat war bei dir ja noch nie zu rechnen. | |
| Mir reichte die Ausbildung nicht, ich holte mein Abitur nach und machte ein | |
| Zeitungsvolontariat. Damit konntest du gar nichts anfangen. Was ist schon | |
| eine Zeitung? Im Dorf gab es nicht mal eine. Und dann die anderen Familien, | |
| die immer über uns gelästert haben: Schau mal, Rafet lässt seine Tochter | |
| arbeiten. Wie hast du das empfunden? | |
| Ich habe mir das nie zu Herzen genommen. Und natürlich gibt es jetzt Leute, | |
| die mir sagen, du hast es richtig gemacht mit deinen Kindern, du hattest | |
| recht. Wir gratulieren dir zum Erfolg deiner Tochter. | |
| Aber du hast dich auch entwickelt, vom strengen zum modernen Vater. Als ich | |
| in der Pubertät war, durften wir nicht, was unsere deutschen Freundinnen | |
| durften. Wir durften abends nicht raus, und wenn, hast du kontrolliert, wo | |
| wir hingehen, wer unsere Freunde sind. | |
| Ich hatte große Angst, euch zu verlieren. | |
| Aber man verliert doch sein Kind nicht, wenn es seinen eigenen Weg geht. | |
| Ich musste lernen, dass man seine Kinder gehen lassen muss. An dem Tag, als | |
| du von zu Hause auszogst, brach mein Herz. Ich habe die erste Nacht, in der | |
| du nicht mehr zu Hause warst, in deinem Bett gelegen und geweint. Ein Kind | |
| in die Ehe, in eine neue Familie zu verlieren, war für mich einfacher, weil | |
| es gewohnter war. So war das eben in unserer Kultur. Ein Kind an die | |
| Selbstständigkeit zu verlieren, das musste ich erst lernen. Wenn du Kinder | |
| hast, hast du Angst, dass sie den falschen Menschen begegnen. Das musst du | |
| doch jetzt, wo du selbst Mutter bist, verstehen. | |
| Ja, schon. Aber du warst manchmal total inkonsequent. An einem Tag ganz der | |
| strenge türkische Vater, am nächsten Tag hieß es: Fahr ruhig auf deine | |
| Abschlussfeier, geh auf den Geburtstag. | |
| Woher sollte ich wissen, wie ich euch erziehen muss? Wie meine Eltern auf | |
| dem Land, in unserem Dorf, konnte ich es ja wohl nicht machen. Ich habe | |
| versucht, euch beides mitzugeben. Wobei ich dem Türkischen immer den | |
| Vorrang gegeben habe. | |
| Im Nachhinein finde ich, du hast es gut gemacht. Du hast kein deutsches | |
| Fernsehen geschaut, keine Zeitung gelesen und dennoch viel über die | |
| Gesellschaft, in der du lebst, gelernt. Durch das Leben. | |
| Ich musste auch einen Kampf führen. | |
| Stimmt, vielleicht sogar einen viel größeren als ich. Ich musste mich nicht | |
| vor jedem rechtfertigen wie du, in der Moschee, in der Nachbarschaft, bei | |
| Arbeitskollegen. Du musstest dich gleich zwei Gesellschaften stellen, der | |
| deutschen und der türkischen, und nicht nur dich und deine Entscheidungen, | |
| sondern auch mich verteidigen. | |
| Das Wichtigste war, mich vor Allah verteidigen zu können. Was die Leute | |
| reden, ist vergänglich. Wenn du einen anderen Weg gegangen wärest, den | |
| Türken geheiratet hättest, den sich alle wünschten, auch dann würden sie | |
| lästern, weil sie eben lästern wollen. Ich habe vollstes Vertrauen in meine | |
| sechs Kinder, die ich ehrenvoll erzogen habe. Nie habe ich Sorgen gehabt, | |
| dass ihr irgendwo Schaden anrichtet. Aber weil du alles anders machen | |
| wolltest, befürchtete ich, du wendest dich von Allah ab. Deshalb hab ich | |
| dir immer gesagt: Egal wie du lebst, verlier nie deinen inneren Glauben. | |
| Glaub an Allah, er wird dich immer weisen. Das ist der Islam, wie ich ihn | |
| verstehe. Ich hatte Angst, dass du den Rat nicht ernst genug nimmst. | |
| Wann hast du gemerkt, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann? | |
| Du hattest dir eine eigene Wohnung gemietet, ich habe dich besucht und mir | |
| dein neues Zuhause angeschaut. Da habe ich gesehen, wie du das alles | |
| alleine geschafft hattest. Mit 19 Jahren. Nicht einmal Geld wolltest du | |
| noch von uns haben. | |
| Ich bin die Deutsche in der Familie, und ich weiß, dass ich ganz gewiss | |
| nicht in die Türkei zurückkehren werde. Aber was ist mit euch? | |
| Wir bleiben. Die ganze Familie ist hier, fast alle Kinder, die Enkel. Wir | |
| halten es nicht lange aus, euch nicht zu sehen. In der Türkei haben wir ein | |
| traumhaftes Haus, aber was nützt das, wenn du deine Kinder und Enkelkinder | |
| vermisst? | |
| Ist das wirklich der ganze Grund? | |
| Na ja, wir fühlen uns hier auch zu Hause, der Alltag ist viel einfacher, | |
| die Ärzte, die Handwerker, die wirklich kommen, wenn man sie bestellt. | |
| Früher ging es uns immer darum, eines Tages heimzukehren, um in der Türkei | |
| den Rest unseres Lebens zu verbringen. Heute ist das anders. Aber zum | |
| Sterben möchte ich in die Türkei. Ich möchte in meiner Heimat begraben | |
| sein, neben meinen Eltern, in unserem Dorf. Von dort bin ich gekommen, | |
| dorthin möchte ich zurück. | |
| 31 Aug 2011 | |
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| Schwerpunkt Deniz Yücel | |
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