# taz.de -- 40 Jahre Deutsche Aidshilfe: Sex, Blut und Tränen | |
> Der Kampf gegen das HI-Virus veränderte die Gesellschaft. Zur Prophylaxe | |
> gehörte auch das öffentliche Sprechen über Sexuelles – und Schwules. | |
Bild: Protest gegen die Diskriminierung HIV-Positiver und Menschen mit AIDS, Be… | |
Was sich damals zum öffentlich ausgebreiteten Horror auswachsen sollte, | |
waberte zuvor als Gerücht schon in einigen Berliner Schwulenkneipen umher: | |
„Hast du davon gehört?“ Oder auch: „Na, was da los ist …“ Es war dan… | |
Spiegel vorbehalten, in der Ausgabe vom 30. Mai 1982 öffentlich zu machen, | |
was zuvor nur geraunt worden war: Eine Erkrankungshäufigkeit, vielleicht | |
sogar eine Epidemie, die sich, so der Spiegel, als „[1][Schreck von | |
drüben]“ zeigte. | |
Drüben, das waren die USA, und der Schreck hatte mit Fällen einer bislang | |
nur wenige Menschen betreffenden, aggressiven Krebsvariante zu tun, dem | |
Kaposi-Sarkom. Ein körperliches Zeichen, das den Beginn eines vollständigen | |
Ausfalls des eigenen Immunsystems sichtbar machte. Betroffene: | |
hauptsächlich schwule Männer. | |
Die Nachrichten aus den USA wirkten in der Schwulenszene – zunächst in der | |
Westberliner, der Hamburger, Münchner, Frankfurter und Kölner – wie ein | |
langsam einträufelndes Gift: ein „Schwulenkrebs“, eine „Pest der Schwule… | |
eine göttliche Heimsuchung, wie religiöse Kreise in den folgenden Jahren | |
spekulierten, gerecht obendrein, weil Homosexuelles ihrem Verständnis nach | |
ein Abfall vom guten Glauben und eine Todsünde sei. | |
Unklar war, wozu das, was viele Jahre später als Aids weltweit berühmt | |
wurde, alles führen würde. In der Szene fühlte man sich, rätselnd, weil so | |
vieles nicht benennbar war, wie in einem Verhängnis gefangen. Als sei man | |
einem bizarr tödlichen Phänomen ausgeliefert. | |
## Gesellschaftlich verfolgt, biblisch bestraft | |
Die Nachrichten förderten schiere Panik. Eine Erkrankung, die hauptsächlich | |
schwule Männer trifft? Eine Infektion, die quasi ins schwule Begehren | |
eingeschrieben ist? Die Szene war auf dem falschen Fuß erwischt worden. | |
Wenige Jahre erst nach der ersten Änderung des Schwule verfolgenden | |
Paragrafen 175 ein körperliches Signum, das zerstört? War man nicht anders | |
gepolt, auf Lebenslust, auf Sex, Drugs & Disco? Auf das Ausleben | |
polizeilich nicht verfolgter Begehrenslust? Und dann die „Strafe“, ein | |
Virus, Sodom und Gomorrha: Es war, als würden biblische Prophezeiungen | |
wahr. | |
Es brauchte teils brutale, aus liberaler und linker Perspektive ja | |
erfolgreiche politische Kämpfe, um die Zumutungen religiöser und ordnungs- | |
wie strafwütiger Kreise abzuwehren. Es stellte sich rasch heraus, dass Aids | |
durch eine meist sexuell übertragene Infektion ausgelöst wird. Dass es | |
sexueller Akte bedarf, bei denen es zu mikroskopisch kleinen Verletzungen | |
der Schleimhäute kommt, die zu einer Ansteckung führen. Dass diese | |
Infektion eine lange Zeit, oft Jahre latent bleibt, ehe sie zum | |
körperlichen Verfall, zur Dysfunktion der körperlichen Abwehrkräfte führt. | |
Es war nicht der Fingerzeig einer strafenden religiösen Instanz, der zu | |
Aids und damals sehr oft zum Tod führte. Sondern es waren bestimmte, gar | |
nicht mal spektakuläre sexuelle Praxen, die zur Infektion führen konnten. | |
## Das Zaubermittel: Prophylaxe | |
In der Bundesrepublik verlief der politische Streit zwischen | |
ultrakonservativen Kräften mit bayerischen Politikerinnen* vorneweg | |
und jenen gesundheitsliberalen um Heiner Geißler, später auch der | |
Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth. Die eine Seite wollte, grob | |
gesprochen, Zwangstests bei Bewerbern für den öffentlichen Dienst und bei | |
einem positiven Ergebnis diese aussortieren. Süssmuth, in Allianz mit den | |
realitätstüchtigen Kräften der Schwulenbewegung (und ihren Freundinnen*, | |
aus welcher Szene auch immer), setzte das einzig vernünftige | |
gesundheitspolitische Programm zu Aids durch: Prophylaxe durch Aufklärung. | |
Auch sexuelle Aufklärung. | |
Die Idee: Um sich vor Ansteckung zu schützen, braucht es kein Abschwören | |
von Sex schlechthin, sondern eine Prophylaxe, die vom Austausch | |
körperlicher Flüssigkeiten absieht. Das Zaubermittel war ein Tool, das | |
eigentlich selbst bei heterosexuell orientierten Menschen wegen der Pille | |
als ausgestorben galt – das Kondom, der Präser, das Verhüterli. Und das | |
wurde öffentlich propagiert, im Fernsehen, mit teuer gedrehten TV-Spots, | |
die zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurden, mit öffentlichem Reden | |
überhaupt. | |
Erstmals musste öffentlich über Sex geredet werden, über Sperma, Anales, | |
Vaginales, über, alles in allem, blood, sweat and tears. Also über das, | |
worüber die Republik jenseits pornografisch orientierter oder | |
undergroundiger Nischen sonst hüstelnd schwieg. | |
Das Süssmuth-Programm, so hält es der wichtigste Chronist der Geschichte | |
von Aids in Deutschland, [2][unser verstorbener Kollege Martin Reichert], | |
fest, war geeignet, auch das Schwule schlechthin aus den Sphären der | |
Unsagbarkeit herauszuholen. Ohne die Christdemokratin Süssmuth und ihre | |
Autorität in ihrer Partei wäre die Aidsepidemie in Deutschland nie so | |
erfolgreich handlebar geworden. | |
## Ein Netz „amateurhafter Laien“ | |
In der Wissenschaft, in der Medizin vor allem, war es so überhaupt erst | |
möglich, ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Patientinnen* – überwiegend | |
schwule Männer – zu gewinnen. Voraussetzung war allerdings, dass in allen | |
größeren Städten hierzulande sich Aidshilfen gründeten, meist energisch ins | |
Werk gesetzt durch schwule Männer und viele Frauen, die eine graswurzelige | |
Gesundheitsversorgungssituation schufen, auf die wiederum die politische | |
Sphäre partnerschaftlich zurückgreifen konnte. | |
1983, vor 40 Jahren, gründete sich in Berlin die Deutsche Aidshilfe – ihre | |
Impresarios waren die Krankenschwester Sabine Lange, der Berliner Verleger | |
und Aktivist Bruno Gmünder, schwule Männer wie Stefan Reiß und der Wirt der | |
schwulen Kerlskneipe „Knolle“ waren ebenso dabei. Eine Held*innentat aus | |
der Not, die vom Momentum des „Niemand wird uns helfen, wenn wir es selbst | |
nicht tun“ lebte. | |
So entstand quasi als Vorbild für etliche andere Felder moderner | |
Gesundheitspolitik ein Netz von Betroffenenorganisationen, die vom | |
politischen Akteursfeld und der Medizin nicht mehr als amateurhafte Laien | |
abgetan wurden: Hinter den Aidshilfen standen ja auch die Wut und die | |
Leidenschaft, die sich aus der Panik speisten, bloß nicht sterben zu | |
wollen. | |
## Sich selbst als Familie verstehen | |
Aber kann Aids heute als Erfolgsgeschichte begriffen werden? Als Komplex, | |
bei dem die Opfer am Ende die Nase vorn hatten? Und bei dem eine Kultur der | |
Diskretion – Sprich nicht drüber! also nicht über Sexuelles, besser: | |
Schwules – in die Schranken gewiesen werden konnte? | |
Für eine Bilanz des gesundheitspolitisch und kulturell wie politisch | |
Positiven gab es zu viele Tote. Eine halbe Generation von schwulen Männern | |
– sie vor allem! – war zu Tode gekommen. Weil es ihnen an Medikamenten | |
fehlte, die es im Sinne stabiler Überlebenschancen erst seit 1996 gibt. | |
Hinzu kommt: Hierzulande ließe sich ein Horrorepos von tagelanger Dauer | |
drehen, in dem nur von jenen Beerdigungen die Rede ist, bei denen die | |
Familien der Gestorbenen alles dafür taten, aggressiv und empathielos die | |
liebsten Freundinnen* des Nichtmehrlebenden auszusperren, denn im Tod ist | |
Schwulsein besonders igittigitt. | |
Schwule Männer hatten zu lernen, dass ein verdruckstes Dasein ihnen nicht | |
wirklich hilft, vor allem nicht beim Sterben. Die [3][Regenbogenszene] | |
lernte, sich selbst als Familie zu verstehen – weil die Familien, aus der | |
ihre Angehörigen stammten, hochtoxisch waren. | |
## Die dramatischen Zeiten verdimmen | |
Und zu verstehen war auch, dass ein Gutteil der Panik in den frühen 80er | |
Jahren auch mit Selbsthomophobie zu tun hatte, mit der Ablehnung als | |
männerbegehrende Wesen selbst. | |
Das ist nicht als Vorwurf zu verstehen. Die antihomosexuelle Stimmung in | |
der Bundesrepublik war selbst ein epidemisches Phänomen – die | |
Stigmatisierung Homosexueller schrieb sich in ihre Körper ein, bis hin zum | |
Glauben, man habe den Tod durch eine Immunschwächekrankheit nachgerade | |
verdient. | |
Dass dem empörenderweise begegnet werden musste, war klar. Ist es da ein | |
Wunder, dass die CSDs, die queeren Paraden, seit Mitte der 80er Jahren | |
immer stärker wuchsen? Wer in ihnen nur Karneval entdecken wollte – und | |
gerade Linke taten dies sehr gern –, hatte das Drama nicht verstanden: Aids | |
konnte nur Furcht und Elend verbreiten, weil man sich im Innersten selbst | |
für schuldig hielt. Die Zeiten sind nicht ganz vorbei, aber sie verdimmen. | |
Immerhin. | |
Dank der furiosen [4][pharmakologischen Forschung und Entwicklung] konnte | |
Aids zwar nicht besiegt werden. Wer das HI-Virus in sich trägt, behält es | |
auch. Aber man kann mit Hilfe von Tabletten die Viruslast fast bis auf eine | |
Nichtnachweisgrenze minimieren. Die Todesangst, traumatisierend für die | |
Betroffenen von einst, ist viel weniger präsent. | |
2 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/wissenschaft/schreck-von-drueben-a-58996258-0002-000… | |
[2] /Martin-Reichert/!a85/ | |
[3] /Schwerpunkt-LGBTQIA-Community/!t5025674 | |
[4] /Suche-nach-HIV-Impfstoff/!5817062 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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