# taz.de -- 30 Jahre Einheit in Berlin: Das Ende der Anarchie | |
> Vor dreißig Jahren begann der Tag der deutschen Einheit mit der Autonomen | |
> Republik Utopia und mit der ersten gesamtdeutschen Straßenschlacht. | |
Bild: Feier auf dem Kollwitzplatz am Vorabend des 3. Oktober 1990 | |
Natürlich war auch der Piratensender Radio P am Kollwitzplatz. „Was denkst | |
du über die Einheit?“, wollte ein Reporter von einer Frau wissen. „Erst mal | |
denk ich daran, dass es heute Nacht kalt wird“, antwortete sie. „Und wenn | |
es morgen doch schön wird, gehen wir in die Pilze. Das ist doch eine gute | |
Idee.“ | |
Von Einheitsfieber war am Vorabend des 3. Oktober 1990 nicht viel zu spüren | |
in Prenzlauer Berg. Auch nicht bei Julia Dimitroff. In der Schönhauser | |
Allee 177 A, einem der zahlreichen besetzten Häuser, aus dem unter anderem | |
das Hexenkessel Hoftheater hervorgegangen war, war Dimitroff an der | |
Gründung des Vereins Niemandsland beteiligt. „Auch Heiner Müller war damals | |
bei uns“, erinnert sie sich. „Wir haben für das Menschenrecht auf ein | |
Niemandsland plädiert.“ | |
Doch dann kam den Künstlerinnen und Musikern eine andere Idee. Kurz bevor | |
die Deutsche Demokratische Republik Geschichte sein würde, sollte am 2. | |
Oktober um 23.53 Uhr am Kollwitzplatz die Autonome Republik Utopia ins | |
Leben gerufen. „Das war für uns ein symbolischer Akt“, sagt Dimitroff | |
heute. „Wir treten aus der DDR aus, aber wir treten nicht der | |
Bundesrepublik bei.“ | |
Kurz vor Mitternacht war es dann so weit. „Wir haben das Klettergerüst | |
erklommen, ein weißes Bettlaken mit einem Loch in der Mitte gehisst und die | |
Unabhängigkeitserklärung verlesen“, sagt Dimitroff, die heute in Pankow | |
eine Geigenbauwerkstatt betreibt. In der Erklärung hieß es: „Wir sind | |
unabhängig von Staaten und Staatsbürgerschaften, unabhängig von der Politik | |
der Parlamente und Parteien. Die Unabhängigkeit aber fängt im Inneren jedes | |
Kindes, jeder Frau und jedes Mannes an. So wie die Freiheit und so wie der | |
Widerstand. In jedem Herzen steckt eine revolutionäre Zelle.“ | |
## „Tag der deutschen Gemeinheit“ | |
Der 3. Oktober 1990 ging auch in Berlin als Tag der Deutschen Einheit in | |
die Geschichte ein. Tatsächlich aber war die Stadt tief gespalten. Am | |
Morgen des 3. Oktober, einem Mittwoch, war der Platz auf beiden Seiten des | |
Brandenburger Tors bereits gut gefüllt. Hier fanden die offiziellen | |
Feierlichkeiten statt, erinnert sich Kurt Jotter. | |
Jotters „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ war damals eine Art | |
Widerstandsagentur mit Happeningcharakter. Zur 750-Jahr-Feier hatte er eine | |
Gegenparade auf die Beine gestellt, an der 30.000 Zuschauerinnen und | |
Zuschauer und 4.000 Akteure teilnahmen. Diesen Erfolg wollte er am Tag der | |
Deutschen Einheit wiederholen und ihn in einen „Tag der deutschen | |
Gemeinheit“ verwandeln. Das Ziel: eine satirische Parade mitten durch die | |
Einheitsfeier am Brandenburger Tor. | |
„Bei unserer Parade waren zum Beispiel Kabarettgruppen dabei“, erinnert | |
sich Jotter. „Die Trommler trugen D-Mark-Münzen als kopfgroße Masken.“ Die | |
„Feier ins Stocken bringen“ war Jotters Ziel. Doch er scheiterte. | |
„Wahrscheinlich sind wir zu spät losgezogen“, räumt er heute ein. „Als … | |
ankamen, war der ganze Platz bereits voll. Wir sind im Riesengetümmel | |
untergegangen.“ | |
Dass der 3. Oktober ein Feiertag wurde und nicht der 9. November, der Tag | |
des Mauerfalls, verstehen heute noch immer viele nicht. Für Freke Over, | |
damals Hausbesetzer und inzwischen für die Linke in der | |
Stadtverordnetenversammlung von Rheinsberg, war das „ein Tag der | |
Depression“. „Alle Hoffnung auf Veränderung wurde an diesem Tag | |
eingefroren“, betont Over. | |
Over hatte, obwohl er aus dem Westen kommt, die Hoffnungen mitgetragen. An | |
einem Runden Tisch sollte eine neue, gesamtdeutsche Verfassung diskutiert | |
werden. Doch die Aufbruchstimmung, die das Land im Herbst 1989 erfasst | |
hatte, war seit den Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 getrübt. „Die | |
Mehrheit der DDR-Bürger wollte die D-Mark. Und der Westen wollte keine | |
Zugeständnisse machen“, sagt Over. „Erst recht nicht beim Erlassen der | |
Altschulden oder beim Prinzip Rückgabe vor Entschädigung. Das wirkt bis | |
heute nach. Eine wirkliche Einheit gibt es nicht.“ | |
Für Over war der 3. Oktober aber auch aus einem anderen Grund eine Zäsur. | |
Zum ersten Mal seit dem Mauerfall durfte die Polizei aus Westberlin den | |
Ostteil der Stadt betreten. „Der Sommer der Anarchie war an diesem Tag | |
endgültig zu Ende“, meint Over. | |
Vor allem den Demonstrantinnen und Demonstranten am Alexanderplatz zeigten | |
die Beamten unter Polizeipräsident Georg Schertz, wer nun das Sagen in der | |
wiedervereinigten Stadt hatte. 15.000 Teilnehmer waren zur großen | |
Anti-Wiedervereinigungs-Demo unter dem Motto „Deutschland halt’s Maul“ | |
gekommen. Der Demozug sollte vom Oranienplatz in Kreuzberg zum Haus des | |
Lehrers gehen. Doch kurz vor der Abschlusskundgebung flogen die ersten | |
Steine, die Polizei knüppelte, die Demo wurde aufgelöst. Das Ergebnis war | |
die erste gesamtdeutsche Straßenschlacht in Berlin. Unzählige Schaufenster | |
gingen zu Bruch, über 200 Leute wurden festgenommen. Die taz titelte: | |
„Glassplitter auf deutscher Einheitstorte“. | |
Es ist, als hätten es die Gründerinnen und Gründer der Republik Utopia am | |
Vorabend der Einheitsfeier geahnt. „Der Kollwitzplatz war richtig voll“, | |
erinnert sich Julia Dimitroff. „Viele Leute haben Kerzen mitgebracht wie | |
auch nach den Polizeieinsätzen zum 40. Jahrestag der DDR an der | |
Gethsemanekirche.“ Und Rio Reiser, sagen viele, hätte auch auf dem | |
Kollwitzplatz vorbeigeschaut. Vielleicht hat er ja auch einen seiner Songs | |
gespielt: „Der Traum ist aus“. | |
30 Sep 2020 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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