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# taz.de -- 30 Jahre Einheit in Ostfriesland: Ein Hotspot namens Jheringsfehn
> Im Mai infizierten sich in der Gaststätte „Alte Scheune“ über 30 Leute
> mit Sars-CoV-2. Seitdem ist das ostfriesische Dorf Jheringsfehn berühmt.
Bild: Es begann mit einem Kratzen im Hals
Wer bei „unendlichen Weiten“ an den Weltraum und das Raumschiff Enterprise
denkt, war noch nie in Ostfriesland. Zwar gibt es im Nordwesten
Deutschlands keine unerforschten Planeten, dafür krachte im vergangenen
Jahr aber ein kleiner Asteroid in die Nordsee.
Und so manch einer würde die Einheimischen wohl als Aliens bezeichnen.
Weite gibt’s in Ostfriesland zur Genüge, durchbrochen nur von ein paar
Kleinstädten, zahlreichen Windkraftanlagen und vielen Dörfern. Eines dieser
Dörfer ist Jheringsfehn – so unbekannt, dass es oft falsch geschrieben
wird.
Das beschauliche Örtchen liegt im Norden des Landkreises Leer und hat um
die 2.500 Einwohner. Liest man in der Zeitung etwas über Jheringsfehn,
geht’s meistens um den örtlichen Sportverein, der sich mit zwei anderen
zusammengetan hat und in der Ostfrieslandliga kickt. Jüngst wurde auch über
eine Schwanenfamilie berichtet, die sich an einer viel befahrenen Straße
niedergelassen hat – und deren Oberhaupt sich schon mal plötzlich vor Autos
wirft, um den Nachwuchs zu verteidigen.
Vor ein paar Jahren jedoch gab es in der Siedlung für kurze Zeit zumindest
ein wenig Glamour: Luisa Hartema, damals 17, aus Jheringsfehn gewann 2012
„Germany’s Next Topmodel“. Die Schülerin durfte sich sogar ins Goldene B…
der Gemeinde eintragen. Deutschlandweit berichteten die Medien.
Fast acht Jahre später, im Frühjahr 2020, geriet das aus genauso vielen
Kanälen wie Straßen bestehende Dorf wieder in die Schlagzeilen. Nur war
diesmal kein Autogramme schreibendes Model der Grund dafür, sondern ein
tödliches Virus. Am 15. Mai hatten sich in der Gaststätte „Alte Scheune“
mehr als 30 von 50 Gästen mit Corona infiziert, zwei der Infizierten
starben später.
Dabei hatte doch eigentlich alles so gut ausgesehen in der Region. Klar,
ganz verschont blieb man auch hier nicht von der Corona-Pandemie. Doch nach
den deutschlandweit rasanten Anstiegen im März und April stagnierten die
Zahlen in Ostfriesland im Mai. Mitte des Monats waren gerade mal elf
Personen gleichzeitig infiziert. Außerdem gab es gute Nachrichten aus
Hannover: Die niedersächsische Landesregierung erlaubte ein paar
touristische Angebote – und sogar Restaurants durften wieder öffnen.
Nun muss man wissen, dass Jheringsfehn nicht für überschwängliche Partys
bekannt ist. Tatsächlich ist die „Alte Scheune“ das einzige Restaurant im
Ort. Die Gaststätte befindet sich in einem hübschen, langgezogenen
Klinkerbau mit weißen Fenstern, hellroten Dachziegeln und einem kleinen
Biergarten nebenan. Bis das Restaurant Karfreitag 2019 geschlossen wurde,
war es für gutbürgerliche Küche bekannt.
Ein neuer Wirt wollte die „Alte Scheune“ Mitte Mai wiederbeleben: Arendt
Kampen hatte in den Neunzigern seine Kochlehre in dem Restaurant gemacht
und wollte, so sagte er kurz vor der Eröffnung, wieder einige Gerichte
anbieten, die schon damals auf der Karte gestanden hatten: Fleisch, Fisch,
Hausmannskost. „Omas Rinderroulade“ mit brauner Sauce, zum Beispiel. Oder
die „Alte Scheune Fischpfanne“ mit Barsch, Wels, Scholle und Lachs.
Die Jheringsfehner freuten sich, dass es im Ort endlich wieder ein
Restaurant geben sollte, ein paar Unternehmer freuten sich auf Aufträge
für Instandsetzung und Umbauarbeiten. Am allermeisten freute sich offenbar
Kampen selbst, denn er lud Familienmitglieder, Freunde und besagte
Unternehmer zum Wiedereröffnungsabend ein. Das neu zusammengewürfelte
Personal sollte sich aufeinander einspielen, und die Gäste sollten eine
gute Zeit haben. Unter den 50 Eröffnungsgästen war auch eine bekannte
Arztfamilie aus der etwa zwanzig Autominuten entfernten Kreisstadt Leer.
Die Familie ist Pächter des Restaurants.
Der neue Wirt, der von seinen Freunden Didi – Arendt Kampens zweiter
Vorname ist Diedrich – genannt wird, hatte an alles gedacht: Die Gäste
konnten à la carte ihr Lieblingsessen auswählen, eine Sängerin sorgte für
die musikalische Untermalung des Eröffnungsabends, der ganz sicher ein
gemütlicher war.
Die „Alte Scheune“ ist rustikal eingerichtet: Dunkle Holzmöbel, rot
gepolstert, graue Auslegeware, Vier-Personen-Nischen zum Sitzen und ein
Klinker-Kamin vermitteln den Charme eines gutbürgerlichen ostfriesischen
Landgasthofs. Die Gerichte kommen noch zischend auf kleinen Pfannen aus der
Küche. Eine gute Ausgangslage also für ein ordentliches Stück Fleisch, ein
paar Bier und vielleicht einen Korn als Absacker – willkommen in
Ostfriesland.
Es hätte ein schöner Abend werden können, die „Alte Scheune“ wäre endli…
zurück gewesen auf der kulinarischen Landkarte der Gegend. Stattdessen
wurde das Lokal bundesweit bekannt, in einem Atemzug genannt mit einer
Baptistengemeinde in Frankfurt am Main. Beide Orte wurden zu den ersten
Coronahotspots, nachdem die strengen Maßnahmen zum Schutz vor dem Virus
gelockert worden waren. Wer die Medien verfolgte, malte sich aus, wie 50
Ostfriesen bei jeder Menge Korn feierten, zu eng tanzten und munter das
Virus untereinander verbreiteten.
Für die, die am Abend dabei waren, kündigte sich das Unheil zunächst mit
einem leichten Kratzen im Hals an, dann fühlten sie sich schlapp, gingen
zum Arzt, wurden getestet und bekamen bald die Bestätigung: Corona,
positiv. Die Nachricht machte im Landkreis Leer schnell die Runde,
Fernsehteams kamen ins beschauliche Jheringsfehn. Die Menschen am Ort
brachte das alles nicht wirklich aus der Ruhe. Am Eröffnungsabend war das
Lokal schließlich nur für geladene Gäste geöffnet gewesen. Mit denen hatte
man ja nichts zu tun.
Für Landrat Matthias Groote schien die Sache schnell klar gewesen zu sein.
In einem Video ist er wenige Tage nach dem Ausbruch zu sehen. Mit ernster
Miene steht er vor dem Kreishaus und sagt: „Man hat sich nicht an die
Corona-Kontaktbeschränkungen gehalten.“ In einem anderen Interview sprach
er von Zeugen, die dem Landkreis entsprechende Indizien übermittelt hätten.
Der Wirt beteuerte indes, jeder habe sich an alle Abstands- und
Hygieneregeln gehalten. Wer recht hat, wissen wir auch heute, gute vier
Monate nach dem Ausbruch, nicht. Die Staatsanwaltschaft aus dem
Nachbarlandkreis Aurich ermittelt gegen unbekannt. Die Leeraner Polizei
wurde angewiesen, jeden zu befragen, der am Eröffnungsabend in der „Alten
Scheune“ war. Die Veranstaltung soll möglichst genau rekonstruiert werden.
Der Ermittlungsaufwand ist mit dem enormen Ausmaß des Ausbruchs zu
erklären: Nach der Eröffnung kamen mehr als 200 Personen in Isolation,
darunter auch Teile der Chefetage und des Betriebsrats der nahe gelegenen
Meyer Werft im emsländischen Papenburg. Eine Mitarbeiterin war in der
„Alten Scheune“ gewesen und hatte Kollegen auf der Werft angesteckt.
Schließlich starben ein 73- und ein 74-jähriger Mann an den Folgen der
Infektion.
Vor allem in den sozialen Medien diskutierten Ostfriesen und
Nicht-Ostfriesen das Thema „Alte Scheune“: Einige sagten, die Restaurants
hätten es in der Krise ohnehin schon schwer genug, man solle den Wirt in
Ruhe lassen. Andere meinten, dass jeder für seine Ansteckung selbst
verantwortlich sei. Schließlich sei niemand gezwungen worden, den
Eröffnungsabend zu besuchen. Wieder andere erklärten, dass es grundsätzlich
verantwortungslos sei, in der Pandemie ein Restaurant zu öffnen.
Kurz nach dem Ausbruch hatte Christian Drosten, der Leiter der Virologie an
der Berliner Charité, gesagt, dass Massenausbrüche „eher übers Aerosol“
stattfänden. Demnach könne eine Infektion über die Raumluft erfolgen.
Sollte das im Fall Jheringsfehn zutreffen, könnten dafür weder dem Wirt
noch den Gästen Vorwürfe gemacht werden – denn Vorgaben, wie gut die Räume
belüftet werden müssen, gab es nicht.
Die „Alte Scheune“ jedenfalls machte gut einen Monat nach dem Drama wieder
auf – erst den angegliederten Imbiss, dann das Restaurant selbst. Ruhe
kehrte allerdings nicht ein, denn die „Alte Scheune“ wurde die
coronabedingte Aufmerksamkeit nicht los – und es kam etwas an die
Öffentlichkeit, das möglicherweise im Dunkeln geblieben wäre, wäre das
Restaurant nicht sowieso schon in den Schlagzeilen gewesen: Arendt „Didi“
Kampen hätte den Laden niemals öffnen dürfen.
Wer in Niedersachsen einen Gastronomiebetrieb aufmachen möchte, muss vorher
von der Gemeinde durchleuchtet werden. Dazu gehört auch die Prüfung des
polizeilichen Führungszeugnisses. Vorausgesetzt, alle Unterlagen sind in
Ordnung, darf man frühestens vier Wochen später Gäste und Kunden empfangen.
Dem neuen Wirt der „Alten Scheune“ erließ die zuständige Gemeinde
Moormerland diese Frist – allerdings unter Vorbehalt.
Als das Führungszeugnis dann doch noch abgefragt wurde, war es nicht so,
wie es hätte sein müssen. Dem Zeugnis zufolge sprach einiges dagegen, dass
Arendt Kampen Betreiber eines Restaurants wird.
Den Konsequenzen der Gemeinde kam Kampen zuvor und übergab sein Restaurant
einer frisch gegründeten Gesellschaft, der Alte Scheune Gastronomie GmbH.
Alleinige Gesellschafterin und Geschäftsführerin ist eine enge Vertraute
von Arendt Kampen. Er selbst ist offiziell, so sagt es der Anwalt der GmbH,
nur als angestellter Koch beschäftigt. Ob das wirklich seine einzige
Funktion dort ist, wissen wir nicht.
Eines ist aber klar: Sollten die Behörden beweisen können, dass er
inoffiziell noch immer die Geschäfte führt, wäre die „Alte Scheune“ schon
bald wieder dicht. Und was würde das für die Jheringsfehner bedeuten? Die
müssten sich ihr Essen wieder woanders besorgen – möglicherweise bei einem
Imbiss ein paar Straßen weiter. Der Name jedenfalls passt zu dieser
Geschichte: „Esskapaden“.
2 Oct 2020
## AUTOREN
Daniel Noglik
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