# taz.de -- 30 Jahre Einheit in Neuruppin: Anderswo ist es noch schlimmer | |
> Neuruppin ist Zentrum einer strukturschwachen Region Brandenburgs. | |
> Behaupten kann es sich, weil es einen See gibt, Möwen und schnurgerade | |
> Straßen. | |
Bild: Fontane, berühmter Sohn der Stadt | |
Neuruppin taz | Den Osten – dieses graue, für große Teile Deutschlands | |
abstrakte Zerrbild – gibt es in Neuruppin nicht mehr. Stattdessen gilt die | |
Kreisstadt mit ihren rund 32.000 Einwohnern im strukturschwachen Kreis | |
Ostprignitz-Ruppin als die preußischste aller preußischen Städte. Nur ganz | |
vereinzelt gibt es sie noch, die kleinen grauen Häuser, um die sich keiner | |
kümmert. „Erbschaftstreit“, wissen die Neuruppiner dann meist zu berichten. | |
In Neuruppin laufen die Straßen schnurgerade und parallel zueinander. Die | |
Wege sind breit, die Plätze riesig, die Bäume stehen gerade in einer Reihe. | |
Korrekt und geplant. Wie am Reißbrett entstanden, so wirkt Neuruppin. Und | |
genau so war es ja auch: 1787 zerstörte ein Brand große Teile der Stadt. | |
Beim Wiederaufbau steuerte [1][der Staat Preußen] eine große Summe hinzu. | |
Friedrich Wilhelm II. dankten es die Neuruppiner später: Er steht auch | |
heute noch an prominenter Stelle, auf dem Schulplatz. Von seinem Sockel aus | |
schaut er nicht auf die Neuruppiner hinab, sondern über sie hinweg in | |
Richtung Altes Gymnasium, einem der Prachtbauten der Stadt. Dahinter, | |
einige Straßenzüge weiter, befindet sich der Ruppiner See. | |
Im Winter weht der Wind durch diese Straßen, eisig und erbarmungslos. Im | |
Sommer aber sind sie ein Zentrum des Lebens. Keine leere Trostlosigkeit, | |
wie sie dem Bild entsprechen mag, das viele vom Osten haben, in den sie | |
noch nie einen Fuß gesetzt haben. Nein, noch nicht einmal im Neubaugebiet. | |
Leben herrscht hier, auch wenn nicht weit entfernt das große Berlin liegt, | |
wie eine Verheißung für die einen, wie eine Drohung für andere. | |
## Schließungszeit | |
Verheißung vor allem für jene, denen in Berlin alles etwas glänzender, | |
etwas besser erscheint. Sie kehren Neuruppin den Rücken, weil die | |
Glitzerfassade lockt – doch viele kommen zurück, auch weil Neuruppin ihre | |
Heimat geblieben ist. Bedrohung für jene, die sehen, dass die große Stadt | |
mit ihren Arbeitsplätzen und Vergnügungen die Jungen lockt und so Leben | |
abzieht aus Neuruppin. | |
Viele Orte im Umkreis haben Schwierigkeiten, gegen Berlin zu bestehen. Der | |
Bäcker macht zu, Kleidung ordern die Einwohner aus dem Internet, die ewig | |
gleichen Supermarktketten drängen sich am Stadtrand und zerstören die | |
Innenstädte. Irgendwann kommen die Menschen nur noch zum Schlafen nach | |
Hause, denn auch Jobs gibt es nur anderswo. In Neuruppin ist das nicht so. | |
Innenstadtleben gibt es noch, unter anderem dank mobiler Händler, die drei | |
Mal in der Woche auf dem Schulplatz ihre Waren anpreisen: frisches Obst, | |
Eier, Brot. | |
An diesem Platz gibt es viele kleine Geschäfte, sogar die heimische | |
Buchhandlung existiert noch. Für viele Neuruppiner ist es Ehrensache, dort | |
zu kaufen. Und im Stadtgarten mit seinem sanierungsbedürtigen Ost-Charme | |
treten internationale Größen auf, ebenso in der Kulturkirche. Jan Josef | |
Liefers? Haben wir. Suzi Quatro? Kommt auch noch. Doro Pesch? War schon mal | |
da. | |
Zwei Lokalzeitungen hat die kleine Stadt, unter anderem den Ruppiner | |
Anzeiger als eine der ersten Neugründungen nach der Wende – und eine von | |
vieren bundesweit, die noch immer bestehen. Das Lokale steht dort vorn, auf | |
der ersten Seite. Und Lokalpatrioten gibt es in Neuruppin viele, gab es | |
schon immer. Der [2][Schriftsteller Theodor Fontane] war einer davon: Auch | |
von ihm gibt es ein großes Denkmal, allerdings ist sein Blick nicht in | |
Richtung Stadtzentrum gerichtet, sondern genau in die andere. Fontane dreht | |
Neuruppin den Rücken zu – immer wieder Steilvorlage für manch bissige | |
Bemerkung. | |
## Aus Liebe bleiben | |
Die Einwohner der Stadt sind eben auch typische Brandenburger: Sie wirken | |
selten so richtig zufrieden. Da bekommen sie einen supermodernen | |
Museumsanbau und mögen ihn nicht. Zu groß, zu teuer. Der Schulplatz war | |
früher auch schöner, da gab es mehr Grün. Auf dem Braschplatz haben sie vor | |
ein paar Jahren noch richtig schöne Blumen gepflanzt, weißt du noch? Macht | |
heute auch keiner mehr. Und überhaupt: Es kümmert sich ja niemand. | |
Trotzdem lieben die Neuruppiner ihre Stadt. Wer mit ihnen redet, hört oft, | |
dass sie auf gar keinen Fall woanders leben wollen. Denn da ist es ja noch | |
schlimmer! In Wirklichkeit sind die Neuruppiner stolz auf ihre Stadt. Auch | |
wenn sich diese Liebe nur darin äußert, nicht wegzuziehen. Junge Leute | |
indes, die wieder zurückkehren oder neu hinzukommen, fühlen sich hier | |
schnell wohl. Und bei Kulturveranstaltungen kommen mittlerweile sogar | |
Besucher aus Berlin. Die Gastronomen merken es, und vor dem | |
Vier-Sterne-Hotel mit Therme am Ruppiner See parken nun Autos mit | |
Nummernschildern aus ganz Deutschland und der Welt. | |
Die grauen Jahre nach der Wende, als ganze Großbetriebe wie die | |
Elektrophysikalischen Werke abgewickelt wurden, sind überwunden. Aus dem | |
Schmerz dieser Zeit ist leise Nostalgie geworden. Jeder hier kennt | |
irgendwen, der bei den „EPW“ gearbeitet hat, den Job verloren hat und | |
vollkommen neu anfangen musste. Dieser Betrieb, in dem vor der Wende Teile | |
für Fernseher und Robotron-Schreibmaschinen gefertigt wurden, war für | |
diejenigen, die dort gearbeitet haben, nicht nur eine Arbeitsstelle, | |
sondern ein Stück Zuhause. | |
Heute geht es den Neuruppinern so gut, dass sie über die vielen Touristen | |
schimpfen, die andernorts sehnsüchtig erwartet werden. Sie sind einerseits | |
stolz darauf, dass ihre kleine Stadt am Ruppiner See so vielen Menschen | |
gefällt. Und andererseits eben Brandenburger, die das Gehabe der Touristen | |
manchmal mit Argwohn und einem leisen Lächeln betrachten. Kommen sollen sie | |
aber trotzdem, die Gäste. Da ist sie wieder, diese Suche nach | |
Reibungspunkten. | |
Und alle – Einheimische, Zugezogene und Besucher – schimpfen gemeinsam über | |
die Bahnverbindung: Der RE6 kommt manchmal gar nicht, dann fällt er aus und | |
generell fährt er nur alle Stunde. Ab 2024 soll sich das ändern, die große | |
Hoffnung der einheimischen Politiker liegt in einer halbstündlichen | |
Verbindung nach Berlin. | |
## Raus aus der Stadt | |
Was nun wiederum einige Einheimische besorgt, bringen doch Berlin-Nähe und | |
idyllische Lage schon jetzt Nachteile mit sich: In der Stadt entstehen | |
immer mehr Wohngebiete, viele aus privater Hand finanziert. Doch wer kann | |
es sich hier schon leisten, für 70 Quadratmeter mehr als 350.000 Euro zu | |
zahlen? | |
Es finden sich natürlich Käufer, keine Sorge. Nur aus Neuruppin kommen sie | |
selten. Familien, die eine bezahlbare Wohnung suchen, weichen entweder ins | |
Neubaugebiet oder gleich in die Dörfer in der Umgebung aus – weg aus der | |
schönen Stadt am See. Seit Jahren kämpft die örtliche Politik um | |
bezahlbaren Wohnraum. Die einheimische Wohnungsbaugesellschaft beruft sich | |
zwar stolz darauf, dass die Mieten bei ihr mit im Schnitt 5 bis 6 Euro je | |
Quadratmeter kalt gar nicht teuer seien. | |
Doch um in diesen Genuss zu kommen, müssten viele ihre gewohnte Altstadt | |
verlassen und ins Neubaugebiet ziehen. Kein Blick mehr auf die | |
Klosterkirche, keine kreischenden Möwen, die vom See heranfliegen. Derweil | |
schießen am Stadtrand die Eigenheime wie Pilze aus dem Boden. Baugrund ist | |
so gefragt, dass auch mal ein Spielplatz weichen muss. | |
Ab und an holpern die Autos auch in Neuruppin noch über Straßen, die diesen | |
Namen nicht verdienen. Die Straße des Friedens, die zum Bahnhof | |
Rheinsberger Tor führt, wird von den meisten mittlerweile gemieden. Sie | |
gehört dem Land und soll nun doch endlich saniert werden. Doch diese | |
Holperpisten werden weniger, so wie die grauen DDR-Spritzputzfassaden, die | |
noch lange nach der Wende viele Häuser zierten. Vielerorts sind sie zartem | |
Rosa, Blau, verwegenem Grün oder allgegenwärtigem Beige gewichen. Grau, das | |
ist Neuruppin jedenfalls nicht mehr. | |
2 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Judith Melzer-Voigt | |
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