| # taz.de -- 200. Todestag von Jane Austen: Ist das schon Feminismus? | |
| > Die Heldinnen der englischen Schriftstellerin suchen das Glück oft in der | |
| > Heirat. Wie liest sich ihr Werk 200 Jahre nach ihrem Tod? | |
| Bild: Kluge Rezipientin der Aufklärung: Jane Austen | |
| Wir betrachten sie heute als die größte unter den europäischen | |
| Schriftsteller*innen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Ihre Romane | |
| von jungen Frauen auf dem dornigen Weg zum Geheiratetwerden sowie deren | |
| zahlreiche Verfilmungen haben nicht aufgehört, Publikum und Kritik zu | |
| faszinieren. Aber können wir Erzählungen von der Suche nach dem richtigen | |
| Mann und der unweigerlich glücklichen Verbindung mit ihm heute noch ernst | |
| nehmen, wir als illusionslose Einwohner*innen des 21. Jahrhunderts, geübt | |
| im gender trouble, und Feministinnen zumal? | |
| Vielleicht doch, weil die gesellschaftlichen Zustände so genau gezeigt | |
| werden, die es im 18. und 19. Jahrhundert gerade klugen und eigenwilligen | |
| Frauen schwer machten, ein sinnerfülltes Leben zu führen. Und weil wir an | |
| keiner Stelle den brutalen zeitgenössischen Heiratsmarkt vergessen können, | |
| auf dem Geld zu Geld findet und Landbesitz zu Landbesitz. Liebesheiraten | |
| sind nur dann möglich, wenn sie von diesen Grundsätzen nicht allzu sehr | |
| abweichen. Dafür sorgen Väter, die unbotmäßigen Söhnen das Erbe und | |
| Töchtern die Mitgift vorenthalten können. | |
| Vor diesem Hintergrund macht uns die Autorin mit einer Reihe von Heldinnen | |
| bekannt, die sich trotz defizitärer Mitgift nicht damit zufriedengeben, von | |
| einem Mann gewählt und in den begehrten Stand der Ehe befördert zu werden. | |
| Sie wollen selbst wählen: einen Mann, den sie lieben können, und mit ihm | |
| ein Leben, das für sie einen Sinn ergibt. So lehnt Elizabeth Bennet, die | |
| Heldin von „Stolz und Vorurteil“, gleich zwei Heiratsanträge ab, die sie | |
| aus ihrer bedrängten ökonomischen Lage befreien könnten. | |
| Ist das schon Feminismus? Ganz sicher nicht in unserem, vom Begehren nach | |
| individueller Freiheit geprägten Sinn. Jane Austens Heldinnen werden ihr | |
| Leben mit harten Anpassungsleistungen an das gesellschaftlich Erwünschte | |
| verbringen. Aber heutige Feministinnen tun gut daran, in literarischen | |
| Werken der Vergangenheit nicht allein nach befreiten Frauen zu suchen. | |
| Die disziplinierte Elinor Dashwood, die schüchterne Fanny Price und die | |
| unglückliche Anne Elliot verhandeln zentrale Fragen des ausgehenden 18. | |
| Jahrhunderts: Wie können Menschen auf Dauer zusammenleben? Wie kommen sie | |
| dabei zu verlässlichen Einschätzungen von Charakteren und Situationen? | |
| Welche Rolle spielen Vernunft und Gefühl im Umgang von Menschen | |
| miteinander? Sind Menschen von Natur aus gut? Wenn nicht, wie können sie | |
| verträgliche und einfühlsame Mitmenschen werden? | |
| ## Die Kontrolle spontaner Impulse ist unabdingbar | |
| Jane Austen zeigt sich als kluge und schöpferische Rezipientin der Ideen | |
| der Aufklärung, die sie im Medium der Fiktion anhand von weiblichen | |
| Hauptfiguren erörtert. Ihre Heldinnen probieren die neuen Konzepte aus, sie | |
| tragen Vernunft und Gefühl, Spontaneität und Konventionalität, Moral und | |
| Eigensinn an meist widrige Lebensumstände heran, erfahren, was daraus wird, | |
| und verändern sich selbst in diesem Prozess. | |
| Ein wenig holzschnittartig wird uns das am Beispiel Marianne Dashwoods, der | |
| sentimentalen Heldin von „Vernunft und Gefühl“, vorgeführt. Rückhaltlos | |
| verliebt sie sich in den smarten Willoughby, den sie zwar kaum kennt, mit | |
| dem sie aber ihre Begeisterung für Natur, Musik und Gedichte unmittelbar | |
| teilen kann. | |
| Stürmend und drängend trampeln die beiden Verliebten über alle Regeln der | |
| Etikette und die Nerven ihrer Mitmenschen hinweg, bis Willoughby sich als | |
| Schurke entpuppt und die verlassene Marianne nach Krise und schwerer | |
| Krankheit endlich das Werben des ältlichen Colonel Brandon erhört. Ihr | |
| neues Vorbild ist ihre Schwester Elinor, die sich beherrschen kann und ihre | |
| Zuneigung nur an diejenigen verschenkt, die sie auch verdienen. | |
| Die Autorin meint es ernst: Zum Zusammenleben von Menschen gehört | |
| unabdingbar die Kontrolle spontaner Impulse. Gefühle können erst durch | |
| kritische Prüfung in einen sozial verträglichen Zustand überführt werden. | |
| Deshalb agieren bei Jane Austen nur diejenigen Figuren erfolgreich, die | |
| selbst in größter Not vom eigenen Unglück absehen, die Contenance wahren | |
| und die gebrechliche Einrichtung der Welt zusammenhalten, die sie | |
| nichtsdestotrotz bis auf den Grund durchschauen. | |
| Das Gesellschaftskonzept Jane Austens ist überwiegend konservativ. | |
| Gesellschaft, das sind die Nachbarn, die Verwandten und Bekannten in einem | |
| überschaubaren Lebenskreis, dem englischen Landadel des 18. Jahrhunderts, | |
| dem wohlhabende bürgerliche Kreise assimiliert sind. Der Umgang wird durch | |
| Regeln des Anstands und schicklichen Benehmens geregelt, das Zusammenleben | |
| in einem tieferen Sinn durch ein System moralischer Prinzipien. Schlechtes | |
| Benehmen der Figuren verweist fast immer auf charakterliche Defizite. | |
| ## Ob die Gesellschaft funktionert, liegt an der Oberschicht | |
| Umgekehrt aber liegt der Fall komplizierter: Oberflächlichkeit und | |
| Eigensucht gehen nicht selten mit tadellosen Umgangsformen daher. Und so | |
| müssen die Heldinnen in den Romanen fast immer auch ihre Fähigkeit schulen, | |
| hinter die Fassade des äußeren Anscheins zu sehen. | |
| Die zeitgenössische Gesellschaftsordnung wird nicht grundsätzlich infrage | |
| gestellt. Zwar sind die meisten Menschen bitter arm und einige qua Geburt | |
| sehr wohlhabend, Letztere erfüllen jedoch in aller Regel ihre sozialen | |
| Pflichten gegenüber Pächtern und Gesinde. Wenn die Angehörigen der | |
| Oberschicht von Moral und Klugheit geleitet werden (so die nicht zu | |
| überlesende Botschaft), funktioniert Gesellschaft für alle gut. In diesem | |
| wohlgeordneten Ganzen finden die Heldinnen der Romane Platz als | |
| Gutsherrinnen oder Pfarrfrauen, die in dem ihnen unterstehenden Bereich | |
| wohltätig wirken werden. | |
| Aber dann, irgendwo zwischen „Emma“ und „Überredung“, scheinen der Aut… | |
| ihre gesellschaftlichen Gewissheiten abhandengekommen zu sein. | |
| „Überredung“, Austens letzter vollständiger Roman, versetzt uns in die | |
| Lebenswelt einer angesehenen Familie des Landadels, in der nur noch | |
| Äußerlichkeit zählt. Das Denken und Handeln der Familienmitglieder kreist | |
| um ihre gesellschaftliche Geltung und um ihre Bequemlichkeit; fast alle | |
| entziehen sich ihren sozialen Pflichten. | |
| Die Romanheldin Anne Elliot, die sich vor Jahren hat überreden lassen, den | |
| Mann, den sie liebte, abzuweisen, weil er weder von Stand war noch Geld | |
| hatte, ist dem heiratsfähigen Alter lange entwachsen und kann mit keiner | |
| der Eigenschaften aufwarten, die in ihrer Umgebung zählen. Zwar ist sie die | |
| Einzige, die sich noch im Modus der Fürsorge und sozialen Pflichterfüllung | |
| auf ihre Umgebung bezieht; sie erhält dafür jedoch weder Anerkennung noch | |
| Dankbarkeit. Anne steht allein da und sie kann sich auch keiner | |
| sinngebenden allgemeingültigen Ordnung mehr vergewissern. Das ist in der | |
| Romanwelt Jane Austens neu. | |
| Neu ist auch die Art und Weise, wie Annes Leben am Ende doch noch gelingt. | |
| Sie sucht und findet Gemeinschaften des Gefühls, bei der spontanen | |
| Herzlichkeit der Marineangehörigen ebenso wie in der erneuerten | |
| Freundschaft mit der lebensfrohen Mrs. Smith. Es sind Personen außerhalb | |
| ihres Standes, die Anne zeigen, wie das eigene Selbstverständnis in | |
| Gefühlen statt in starren Prinzipien gründen kann. Dass Anne schließlich | |
| ihre Jugendliebe wieder für sich gewinnt, hat mit dieser neuen Erfahrung zu | |
| tun. | |
| ## Gemeinschaft stiften | |
| Die neue Wertschätzung des Gefühls verbindet die Autorin mit zahlreichen | |
| romantischen Motiven, etwa wenn sie die unglückliche und vorzeitig | |
| gealterte Anne als „verblüht“ beschreibt. Die Metapher ruft den natürlich… | |
| Zyklus von Werden und Vergehen auf und stellt ihn den gesellschaftlichen | |
| Normen gegenüber, in deren Name Anne um die Blüte und Fruchtbarkeit ihres | |
| Lebens gebracht wurde. | |
| Annes „Blüte“ kehrt zurück, als sie sich bei einem Ausflug ans Meer ihrem | |
| Empfinden der Natur hingibt. Und hier, vor der Kulisse des „tiefblauen | |
| Meeres“ (ein von der Erzählerin ausgewiesenes Byron-Zitat), zeigt Annes | |
| impulsive Reaktion auf einen Unfall, dass spontane Gefühle unmittelbar | |
| sozial sein können. | |
| Ein stärkerer Kontrast zu der egozentrisch-sentimentalen Marianne Dashwood | |
| ist kaum denkbar. In „Überredung“ verschreibt sich Jane Austen einem neuen | |
| Grundsatz: der Gemeinschaft stiftenden Macht von Gefühlen. Schon | |
| Zeitgenossen haben bemerkt, dass die Autorin in „Überredung“ neue soziale | |
| Räume erkundet und neue Wertungen über das individuell und gesellschaftlich | |
| Richtige vornimmt. Heute, in einer Zeit, in der wir Angehörige der | |
| westlichen Gesellschaften dem abgelebten Landadel in „Überredung“ immer | |
| ähnlicher werden, ist der Roman höchst aktuell. | |
| Und das ist Jane Austen für Feministinnen: eine Schriftstellerin, die die | |
| Lebensverhältnisse ihrer Zeit einer kritischen Prüfung unterzieht, sich | |
| dabei zunächst an einem emphatischen Vernunftbegriff orientiert, später | |
| jedoch eine Gesellschaftskritik vorträgt, die von romantischen | |
| Vorstellungen her operiert. Weit davon entfernt, sich mit den vorgegebenen | |
| Lebensmöglichkeiten eines „zweiten Geschlechts“ zu bescheiden, hat sie eine | |
| Position der aktiven Zeitgenossenschaft eingenommen. Sie starb am 18. Juli | |
| vor 200 Jahren. | |
| 18 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Renate Kraft | |
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