# taz.de -- 20 Jahre Völkermord in Ruanda: Drei Monate, Hunderttausende Täter | |
> Ruandas Völkermord liegt erst 20 Jahre zurück. In der Erinnerung der Welt | |
> ist er verblasst. Aber das Gedankengut dahinter gibt es noch heute. | |
Bild: Mudahogora Ernestine ist die einzige Überlebende in ihrer Familie. | |
Es starben 1.074.017 Menschen beim ruandischen Völkermord. 97,3 Prozent der | |
Opfer waren Tutsi. 56 Prozent waren männlichen Geschlechts. 50,1 Prozent | |
waren Kinder. 37,9 Prozent wurden mit Macheten umgebracht, 16,8 Prozent mit | |
Keulen erschlagen, 14,8 Prozent erschossen, 8 Prozent zu Tode geprügelt, 4 | |
Prozent in Latrinen ertränkt. Die anderen wurden lebendig verbrannt, | |
lebendig in Stücke gerissen, aufgehängt, zu Tode vergewaltigt, zum | |
Selbstmord gezwungen oder überfahren. | |
Die Zahlen, die Ruandas Regierung 2001 vorlegte und die seitdem weiter | |
präzisiert worden sind, entziehen sich jeder Vorstellungskraft. Sie | |
beziehen sich zwar nicht nur auf die hundert Tage nach dem 6. April 1994, | |
als die planmäßige und systematische Ausrottung aller Tutsi Ruandas lief, | |
sondern auf die gesamte Zeit seit dem Ausbruch des ruandischen | |
Bürgerkrieges 1990 bis Ende 1994. Doch selbst wenn der Völkermord an sich | |
„nur“ 800.000 bis eine Million Opfer forderte, bleibt er einzigartig. Eine | |
Million Tote in drei Monaten bedeutet: sechs Tote pro Minute. Jede Minute. | |
Jede Stunde. Jeden Tag. Und Hunderttausende Täter. | |
Aus dem Gedächtnis der Welt ist Ruanda weitgehend verschwunden. Aber | |
Ruandas Völkermord ist keine unbegreifliche Katastrophe aus grauer | |
Vergangenheit. Er ist Ausdruck eines politischen Denkens der Gegenwart: Es | |
manifestiert sich zumindest ansatzweise überall dort, wo Menschen denken, | |
sie müssten nur ihre Umgebung vom Ungeziefer in Menschengestalt säubern und | |
alles wird gut. | |
Das Ungeziefer in Menschengestalt waren in Ruanda damals die Tutsi. Sie | |
galten als Fremde, Eindringlinge, Störer. Ursprünglich bezeichnete Tutsi im | |
vorkolonialen ruandischen Militär Befehlshaber und Landnehmer, im Gegensatz | |
zu den Befehlsempfängern und Untergebenen, den Hutu eben. Die belgische | |
Kolonialmacht verwechselte diese Machtzuschreibungen mit Ethnien und die | |
Ethnien wiederum mit Macht: Wer viele Kühe besaß, wurde in der ab 1929 | |
kodifizierten Kolonialgesetzgebung zum Tutsi erklärt, nur Tutsi konnten | |
Führungspositionen einnehmen, und im Personalausweis war die Zugehörigkeit | |
als Hutu und Tutsi als „Ethnien“ markiert. | |
1959 wurde Ruandas Monarchie von christlich erzogenen Hutu-Politikern | |
gestürzt. Viele Tutsi wurden vertrieben – damals, nach der Unabhängigkeit | |
1962, und später immer wieder. Das unabhängige Ruanda war für die „echten�… | |
Ruander, also die Hutu; Tutsi waren bestenfalls geduldet. | |
## Es begann mit einem Präsidentenmord | |
1990 marschierten bewaffnete Exil-Tutsi aus Uganda als Ruandische | |
Patriotische Front (RPF) in Ruanda ein. Die Hutu-Regierung reagierte mit | |
einer massiven Mobilmachung, mit der Verfolgung politischer Gegner, der | |
Aufstellung von Milizen und der peniblen Überwachung des Landes gegen | |
Infiltrationen und Spione; Hilfe, Ausrüstung und Aufrüstung bekam sie dabei | |
vor allem aus Frankreich. | |
Auf internationalen Druck unterschrieb Ruandas Präsident Juvénal | |
Habyarimana im August 1993 im tansanischen Arusha ein Friedensabkommen mit | |
der RPF, das eine Machtteilung vorsah. Extremistische Hutu witterten darin | |
Verrat, hetzten gegen eine angeblich drohende Rückkehr der früheren | |
Unterdrücker und rüsteten erst recht radikale Milizen auf – auch die | |
Jugendmiliz der Regierungspartei, genannt Interahamwe. Sie drohten | |
Präsident Habyarimana mit dem Tod, sollte er das Abkommen umsetzen. | |
Auf dem Rückflug von einem regionalen Gipfeltreffen am Abend des 6. April | |
1994 wurde Habyarimana ermordet – das Flugzeug, in dem er sich befand, | |
wurde über Kigalis Flughafen von einer Rakete abgeschossen, die nach | |
aktuellem Kenntnisstand vom Gelände der Präsidialgarde abgefeuert wurde. | |
Innerhalb von zwanzig Minuten errichtete das Militär überall in Kigali | |
Straßensperren und ging von Haus zu Haus, um politische Gegner zu verhaften | |
und zu töten. Am nächsten Tag wurde Übergangspremierministerin Agathe | |
Uwilingiyimana erschossen; das Militär setzte eine neue Übergangsregierung | |
ein, die die Hutu-Bevölkerung zur „Arbeit“ aufrief – ein in Ruanda | |
unmissverständlicher Aufruf, die Tutsi zu vernichten. | |
Die RPF-Rebellenarmee organisierte sich zum Gegenschlag erst Tage später, | |
als klar war, dass die in Ruanda stationierte UN-Blauhelmtruppe dem | |
Massenmorden nichts entgegensetzte. Während französische und belgische | |
Soldaten weiße Ausländer evakuierten, blieb die UN-Truppe untätig und wurde | |
später reduziert, da der Waffenstillstand, zu dessen Beobachtung sie | |
entsandt worden war, nicht mehr existierte. Eingreifen gegen den Völkermord | |
– das gab es nicht. | |
## Ein neues Ruanda entsteht | |
Der Massenmord wurde rigoros und öffentlich durchgesetzt: als Order, | |
Unkraut zu jäten und Ungeziefer zu vernichten; als Aufforderung, | |
Patriotismus und Loyalität zu beweisen. Wer nicht tötete, konnte getötet | |
werden. Töten war Schichtarbeit: Man ging morgens an die Straßensperre oder | |
ins Feld und ging abends wieder nach Hause. Die Verwundeten blieben liegen; | |
manche tötete man nicht sofort, sondern ließ sie tagelang ihr Leben | |
aushauchen. Über dem Genozid hing die ständige Warnung, dass die RPF | |
irgendwo im Anmarsch sei und garantiert alle Hutu umbringen würde, wenn man | |
ihr nicht durch Tötung aller Tutsi zuvorkäme. Mit jedem weiteren Toten | |
wuchs unter den Tätern nicht die Sicherheit, sondern die Angst. | |
Kein Wunder, dass die Hutu millionenfach die Flucht ergriffen, als die RPF | |
schließlich vorrückte. Der Staats- und Militärapparat Ruandas rettete sich | |
ab Ende Juni unter Schutz einer französischen Eingreiftruppe in den Kongo. | |
Die RPF übernahm ein verwüstetes, leeres Land voller Leichen und Ruinen. | |
All das ist mittlerweile eine Generation her. Die Mehrheit der Bevölkerung | |
Ruandas – Durchschnittsalter: unter 19 Jahre – weiß das nur noch aus | |
Erzählungen. Ein neues Ruanda entsteht in Abgrenzung zum alten, gefördert | |
von einer rücksichtslosen Modernisierungsideologie. | |
Auch international sind die Akteure, die das Versagen der Weltgemeinschaft | |
damals zu verantworten hatten, größtenteils von der Bühne abgetreten. Sie | |
sind von ihrem Scheitern gezeichnet, aber haben ihre Lehren zumeist nicht | |
weitergereicht. Das Verständnis für das, was Ruanda durchgemacht hat, und | |
welche Folgen das hat, verblasst. | |
Es ist ein allgemeines Verdrängen, und es ist vorschnell und leichtfertig. | |
Der Nazi-Holocaust liegt 70 Jahre zurück, und die Erinnerung daran bleibt | |
lebendig. Der Völkermord an den Tutsi in Ruanda ist erst 20 Jahre her. Bis | |
heute trauen viele Menschen in Ruanda sich gegenseitig nicht; keiner weiß, | |
wer den Genozid bereut und wer ihm heimlich nachtrauert. Das äußert sich | |
auch international, zum Beispiel wenn ein Täter vor Gericht erscheint, auch | |
in Deutschland. | |
Ruandas Vergangenheit ist nicht vergangen. Sie ist nur unsichtbar geworden. | |
So verschwimmt auch die Wahrnehmung für ähnliche Tendenzen woanders, wie | |
aktuell in Zentralafrika. Aber drängt sich nicht immer wieder irgendwo auf | |
der Welt erneut die Frage auf, wann und wie gegen Kräfte vorzugehen ist, | |
die kollektiven Mord als legitimes Mittel der Politik ansehen? Gibt es | |
darauf bessere Antworten als vor 20 Jahren? | |
Es gibt keine einfachen Antworten. Aber es gibt Ruanda als ständige Mahnung | |
dafür, was geschehen kann, wenn mangels Antwort einfach gar nichts | |
geschieht. | |
5 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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